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Das Andere Deutschland

Antifaschistischer Kampf in Lateinamerika
Gert Eisenbürger

Im Juni 1937 gründeten in Buenos Aires EmigrantInnen aus den verschiedenen politischen Spektren der politischen Emigration das Hilfskomitee „Das Andere Deutschland“ (DAD), das in den folgenden Jahren zu einer der wichtigsten Organisationen des antifaschistischen Exils in Südamerika werden sollte. Das DAD-Komitee arbeitete in den ersten Jahren vor allem als Hilfskomitee für eintreffende EmigrantInnen aus Deutschland und Spanien. Als nach dem Ausbruch des 2. Weltkriegs im September 1939 und der Niederlage Frankreichs der Flüchtlingsstrom nach Lateinamerika anschwoll,wurde DAD zu dem Sammelbecken der politischen Emigration in Argentinien. DAD war auf einer diffusen sozialistischen Grundlage für unterschiedliche Positionen offen und artikulierte einen sozialistischen Humanismus, der vielen der Barbarei Europas entflohenen EmigrantInnen positive Bezugspunkte bieten konnte.

Ab Mai 1938 gab das Komitee das monatliche Informationsblatt „Das Andere Deutschland“ heraus, das August Siemsen redigierte und in den folgenden Jahren zu einer profilierten politischen Halbmonatszeitschrift ausbaute. Die ersten Nummern des DAD erschienen in einfachster Aufmachung als hektographierte Blätter, die locker zusammengeheftet waren. Erst nach einem knappen Jahr (März 1939) gab es genügend Interessenten, um das Blatt drucken zu lassen. Durch die wachsende Zahl von EmigrantInnen konnte DAD seine Verbreitung in Argentinien, aber auch im übrigen Süd- und sogar Nordamerika steigern und erreichte in den vierziger Jahren eine Auflage von 4000 Exemplaren. Schwerpunkte der Berichterstattung waren die Nazi-Aktivitäten in Südamerika, Nachrichten aus Deutschland, Berichte und Kommentare zum Krieg in Europa, Berichte über Erklärungen, Positionen und Publikationen aus anderen Zentren des antifaschistischen Exils (Großbritannien, USA, Mexico) und Rezensionen antifaschistischer Literatur. Daneben enthielt es regelmäßig von österreichischen EmigrantInnen gestaltete österreichische Seiten und zeitweilig die von Pieter Siemsen redigierte Jugendbeilage „Heute und Morgen“.

Im Verlauf der Jahre 1941/42 fanden sich die LeserInnen und InteressentInnen des DAD in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern zu lokalen DAD-Gruppen und-Freundeskreisen zusammen. Die Ausgabe des DAD vom 1. 12. 1942 enthielt auf der Rückseite DAD-Kontaktadressen in Bolivien, Brasilien, Chile, Kolumbien, Cuba, Paraguay, Uruguay und Venezuela.

 

August Siemsen

Die herausragende Persönlichkeit des DAD war sicherlich August Siemsen. Der 1884 geborene Pädagoge hatte schon eine bewegte Geschichte in der Weimarer Republik hinter sich. 1919 hatte er die SPD, für die er Stadtverordneter in Essen war, verlassen und sich der USPD angeschlossen. Wegen seiner Mitarbeit im Essener „Vollzugsrat der revolutionären Arbeiter“ während des Kapp-Putsches wurde er 1921 zu 6 Monaten Gefängnis verurteilt. Später arbeitete er als Lehrer in Berlin, bis ihm die neue sozialdemokratisch-kommunistische Landesregierung Thüringens 1923 die Organisation eines Abendschulprogramms für junge ArbeiterInnen übertrug. Als die Linkskoalition in Thüringen nach wenigen Monaten durch Intervention der Reichsregierung gestürzt wurde, wurde Siemsen aus dem Schuldienst entlassen. Als „Studienrat im Wartestand“ übernahm er die Chefredaktion der Zeitschriften „Sozialistische Erziehung“ und „Sozialistische Kultur“ und gehörte den Vorständen verschiedener schulreformerischer Organisationen an. 1930 wurde er für die SPD, der er seit dem Anschluß der USPD 1922 wieder angehörte, in den Reichstag gewählt. 1931 stimmten er und acht weitere linke SPD-Abgeordnete zusammen mit der KPD gegen den Marineetat, der u.a. Mittel für den Bau von Panzerkreuzern vorsah.

Er verließ erneut die SPD und gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP), die gegen den Tolerierungskurs der SPD-Mehrheit gegenüber der Brüning-Regierung und für die antifaschistische Einheitsfront der Arbeiterparteien eintrat. Siemsen wurde Mirtglied des SAP-Vorstands und Bezirksvorsitzender der SAP in Thüringen. Unmittelbar nach der Machtübergabe an die Nazis mußte er, von den Nazis persönlich im Reichstag bedroht, Deutschland verlassen. Im Schweizer Exil schrieb er sein 1937 in Paris publiziertes Buch „Preußen – die Gefahr Europas“1, in dem er die Wurzeln und Ursachen des deutschen Faschismus untersuchte. Die entscheidende Grundlage des Nationalsozialismus sah er in der „Verpreußung“ Deutschlands, d.h. der Durchsetzung des preußischen Militarismus und obrigkeitsstaatlichen Gehorsams. Dies habe nicht nur die staatlichen Organe, sondern auch das Massenbewußtsein – auch der Arbeiterklasse – geprägt. „Die deutschen Arbeiter konnten sich den Einflüssen des Systems, das sie bekämpften, in dem sie aber aufwuchsen und das dauernd auf sie wirkte, nicht entziehen. Die autoritäre Auffassung, die im feudal-militärischen Preußen-Deutschland in Staat und Gesellschaft, in Schule und Kirche herrschte, sie war auch in der proletarischen Familie entsprechend stark ausgeprägt. Der mit Prügeln erzwungene Gehorsam gegenüber der väterlichen Autorität disziplinierte das proletarische Kind in den für die Entwicklung entscheidenden Jahren. In der Schule setzte der Lehrer, im Betrieb der Meister, im Heer der Unteroffizier dieses Erziehungswerk fort. Die leichte Organisierbarkeit und die gute Disziplin, die bei der deutschen Arbeiterschaft so viel gepriesen und bewundert worden sind, sind Vorzüge, die nicht zuletzt aus aus der preußischen Tradition und Erziehung stammen, sind Vorzüge, die, wie sich zeigen sollte, geringer waren als die Nachteile, die mit ihnen zugleich gegeben waren.“ Davon ausgehend kritisiert er die Politik der Arbeiterparteien SPD und KPD, die dem nicht entgegengewirkt, sondern ihrerseits die Entmündigung und Disziplinierung der Arbeiter fortgeschriebn hätten.

Leider fehlt hier der Platz, breiter auf dieses bemerkenswerte Buch einzugehen. Siemsens Thesen und seine scharfsinnige Kritik der Fehler linker Politik sind nämlich nach wie vor aktuell und gerade heute äußerst diskussionswürdig. 1936 kam August Siemsen als Lehrer an die Pestalozzi-Schule nach Buenos Aires und wurde schnell Kopf der deutschen Emigration in Argentinien. Obwohl das DAD-Komitee und die Zeitschrift über einen breiten Stab von Mitarbeitern verfügte, besonders zu erwähnen ist – so Pieter Siemsen – der DAD-Sekretär Heinrich Groenewald, prägte August Siemsen die politische Ausrichtung nachdrücklich, er formulierte die Grundpositionen und Ziele des Blattes in Leitartikeln und Kommentaren, und er war der anerkannte Sprecher des DAD. Seine kritische Position und der große Einfluß unter den EmigrantInnen in ganz Lateinamerika mußte den DAD und Siemsen über kurz oder lang in Konflikt mit der Politik und den Bündnisanstrengungen der KPD bringen, die ab 1940 die ideologische Führerschaft im lateinamerikanischen Exil anstrebte.

 

Politische Konflikte im lateinamerikanischen Exil

Die KPD hatte ihr Exilzentrum in Mexico, wo sich ca. 100 deutschsprachige Kommunisten aufhielten, darunter bekannte SchriftstellerInnen wie Anna Seghers, Egon Erwin Kisch, Ludwig Renn, Bodo Uhse, und hohe Funktionäre der KPD bzw. der Komintern. Sie bauten ab 1940 verschiedene Einrichtungen auf, durch die sie ihre politische Basis, hauptsächlich mit Blick auf die bürgerliche und jüdische Emigration und nichtfaschistische Auslandsdeutsche zu verbreitern suchten, so die politisch-kulturelle Monatszeitschrift „Freies Deutschland“ (FD), das Kulturzentrum „Heinrich-Heine-Club“, die „Bewegung Freies Deutschland in Mexiko“ (BFD), den Verlag „El Libro Libre“ (Das Freie Buch) und die 14tägige Zeitung „Demokratische Post“. Weit über Mexico hinaus wirkte dabei vor allem die anspruchsvolle Monatszeitschrift „Freies Deutschland“, die seit November 1941 erschien und zu deren MitarbeiterInnenkreis bald emigrierte SchriftstellerInnen und PublizistInnen in der ganzen Welt gehörten.

In ganz Lateinamerika bildeten sich zu Beginn der 40er Jahre Clubs bzw. Freundeskreise antifaschistischer Deutscher und ca. 40 deutschsprachige Exilzeitschriften, von denen aber neben DAD und FD nur noch die in Santiago de Chile erschienenen „Deutschen Blätter“ über den Erscheinungsort herausgehende Bedeutung erlangen konnten. Die politischen Zentren des lateinamerikanischen Exils bildeten aber eindeutig ¡Das Andere Deutschland“, als Sammelbecken der unabhängigen Linken, und der von der KPD dominierte „Bund Freies Deutschland“. Zwischen beiden Gruppen bestanden tiefgreifende Unterschiede im Politikverständnis und in der Konzeption der Bündnispolitik, sodaß eine Formierung der deutschen Lateinamerika-Emigration in einer einheitlichen Organisation nicht zustande kam. Nach dem Überfall Nazideutschlands auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 hatten sich die bündnispolitischen Bedingungen für die KPD grundsätzlich verändert. Hatten sie bis dahin mit ihrer Verteidigung des deutsch-sowjetischen Nicht-Angriffs-Pakts und ihren Angriffen auf die Alliierten weder bürgerliche noch linke Bündnispartner mobilisieren können (vgl. Interview mit Pieter Siemsen), traten sie nun, da die Sowjetunion der Anti-Hitler-Koalition beigetreten war, als Propagandisten der Einheit aller Hitler-Gegner auf, „zu jener Einheit, die ihren geschichtlichen Ausdruck gefunden hat in dem russisch-britischen Bündnis und in der demokratischen Weltkoalition gegen Hitler, an der die USA im wachsenden Maße teilnehmen“. An einer von der KPD kontrollierten Einheitsfront hatte DAD aber kein Interesse. Zum einen wollte DAD weiterhin eine linke Sammlungsbewegung sein und nicht mit Rücksicht auf bürgerliche Bündnispartner auf die Artikulation sozialistischer Forderungen verzichten, zum anderen war man nicht bereit, sich dem Führungsanspruch der KPD zu unterwerfen. DAD sah in den Einheitsfrontparolen der Kommunisten denn auch ein „taktisches Manöver“, schließlich hätten sie ja 1939 durch ihr opportunistisches Umschwenken nach dem Hitler-Stalin-Pakt die im DAD zusammengeschlossene Einheitsfront der Antifaschisten in Südamerika zerrissen. August Siemsen schrieb dazu im DAD: „Voraussetzung für die Einheitsfront der deutschen Linken ist Ehrlichkeit. Und, soweit man Meinungsverschiedenheiten auszutragen hat, Anständigkeit der Methoden. Nur in einer Atmosphäre des Vertrauens und der gegenseitigen Achtung kann eine Einheitsfront entstehen und gedeihen, die nicht nur taktisches Manöver und Schlagwort, die vielmehr sinnvolle und aktionsfähige Reaktion ist.

In der Folgezeit versuchten beide Strömungen, sich als die wahen Repräsentanten der deutschen Antifaschisten in Südamerika zu profilieren, und ergriffen entsprechende Initiativen. Der Höhepunkt der Anstrengung des DAD in diese Richtung war sicherlich der Kongreß der deutschen Antifaschisten in Südamerika, der zum 10. Jahrestag der Errichtung der Nazu-Diktatur vom 29. bis 31. 1. 1943 in Montevideo stattfand. An dem Kongreß nahmen 40 Delegierte teil, die vor allem die deutschen antifaschistischen Organisationen (beider Spektren) in Argentinien, Uruguay, Brasilien und Bolivien vertraten.

Die Delegierten verabschiedeten gegen die Stimmen der Kommunisten ein „Politisches Manifest der Deutschen Antifaschisten Südamerikas“, das sich für den Aufbau eines sozialistischen Deutschlands nach der Zerschlagung des Hitler-Faschismus ausspricht. Der Kongreß beschloß die Bildung eines Zentralkomitees der deutschen Opposition in Südamerika, das aber nicht zustande kam, weil sich die Kommunisten der Bildung lokaler Koordinationsausschüsse der deutschen Antifaschisten widersetzten und so die Bildung des kontinentalen Zentralkomitees blockierten. Stattdessen propagierten sie (und mit ihnen die DDR-Geschichtsschreibung) das lateinamerikanische Komitee des „Bund freies Deutschland“ als den repräsentativen Zusammenschluß aller Hitlergegner im lateinamerikanischen Exil. Die Arbeit des Anderen Deutschlands, des Zusammenschlusses der unabhängigen linken Antifaschisten im lateinamerikanischen Exil, wurde in der DDR als angeblich sektiererisch diffamiert und in der BRD – mit wenigen Ausnahmen – einfach ignoriert, ebenso wie die theoretische und publizistische Arbeit August Siemsens. Hier ist ein spannendes Stück linker Geschichte zu entdecken, was gerade uns als Lateinamerika-Solibewegung interessieren müßte.

  • 1. Mit Rücksicht auf den noch in Deutschland lebenden Sohn Pieter gab August Siemsen das Buch „Preußen – die Gefahr Europas“ 1937 unter dem Namen seiner Schwester Anna heraus. Neuauflage: Berlin (W.) 1981 (Verlag Klaus Guhl)