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Chronist mit eigener Meinung

Der argentinische Schriftsteller und Publizist Osvaldo Bayer

In der Reihe Lebenswege stellen wir heute Osvaldo Bayer vor, den die meisten ila-LeserInnen sicherlich durch seine Beiträge in dieser Zeitschrift kennen. Der bekannte Schriftsteller und Publizist mußte 1976 seine argentinische Heimat verlassen und lebte bis 1983 im bundesdeutschen Exil. Hier gehörte er zu den wichtigsten Stimmen der argentinischen Opposition, der die Militärjunta und ihre Propaganda in seinen Beiträgen und Texten demaskierte und auch ihre bundesdeutschen Komplizen und Helfershelfer in Regierung, Militär und (Rüstungs-)Wirtschaft benannte. Vor allem trug er maßgeblich dazu bei, die Mütter von der Plaza de Mayo hier bekannt zu machen und Unterstützung für ihren Kampf zu mobilisieren. Seit 1983 lebt er wieder in Argentinien, wo er sich neben seiner publizistischen Tätigkeit heute vor allem für die Einheit der zersplitterten Linken engagiert.

Gert Eisenbürger

Osvaldo, vielleicht zunächst ein paar persönliche Daten. Woher kommst du? Wie alt bist du? Wie war dein beruflicher Werdegang? Wann und wie bist du in die Bundesrepublik gekommen?

Ich wurde 1927 in Santa Fé, einer argentinischen Stadt 500 Kilometer südlich von Buenos Aires geboren. Dort sind die Sommer besonders heiß und im Winter ist es, trotz des ständigen Sonnenscheins, sehr kalt. Die Familie Bayer stammt ursprünglich aus Tirol, aus Altenburg, einem hoch oben in den Tiroler Bergen gelegenen Dorf, von welchem man auf den Kalterer See schaut. Der Familienname war einst Payr, das ist die Tiroler Schreibweise von „Bayer“. Mein Vater beschloß, den Namen in Bayer umzuwandeln, da Payr in Argentinien schwer verständlich ist.

Nach vielem Herumreisen in Argentinien wurde meine Familie schließlich in Buenos Aires seßhaft. Ich begann mit dem Studium der Medizin, entschied mich aber letztendlich für Geschichte. Meine Studien unterbrach ich mit gelegentlichen Jobs, unter anderem als Steuermann auf einem der Flußdampfer, die zwischen Buenos Aires und Asunción in Paraguay auf dem Paraná fuhren. 1952 beschloß ich, meine Studien in Hamburg fortzusetzen und belegte dort vier Jahre lang das Fach Geschichte. Von Europa aus begann ich, Artikel für verschiedene argentinische Zeitschriften zu schreiben. Als ich nach Argentinien zurückkehrte, kannte man mich schon als Journalist, so daß ich sofort meine Arbeit in der Abendzeitung „Noticias Gráficas“ beginnen konnte. Da ich mein Land näher kennenlernen wollte, zog ichnach Patagonien und habe dort journalistisch gearbeitet. Ich schrieb über die mittelalterlichen Zustände, die das Leben der Menschen dort noch immer bestimmen, und über die Ausbeutung der Chilenen und Mapuche-Indianer. Ich wurde verhaftet und aus der Provinz Chubut verwiesen. Immer konnte ich auf die Unterstützung meiner Frau, Marlies Joos, rechnen, mit der ich damals, 1958, schon vier Kinder hatte. Als ich nach Buenos Aires zurückkehrte, war ich durch die Ereignisse in Patagonien schon bekannt geworden, so daßmich die Journalisten zum Generalsekretär der Pressegewerkschaft wählten. Das Amt übte ich drei Jahre lang aus. Während dieser Zeit wurde ich auf Anordnung von General Rauch, Urenkel des preußischen Generals Rauch, der seinerzeit den Auftrag hatte, die argentinische Pampa von Indianern zu „befreien“, verhaftet.

Die ersten Jahre in den 60ern waren hart, ich teilte meine Zeit zwischen Gewerkschaftstätigkeiten, der CGT und dem Journalismus auf. Da meine Familie zu ernähren war, arbeitete ich bis zu 14 Stunden täglich. Ich arbeitete in verschiedenen Zeitungen, aber hauptsächlich in der Zeitung „Clarín“, wo ich Leiter der Abteilung Politik und Militärwesen und zuletzt des Feuilletons war. Aber neben den journalistischen Tätigkeiten galt meine Leidenschaft der historischen Forschung, dem Volksgedächtnis, Geschehnissen, bei denen die einfachen Menschen Hauptdarsteller waren. So entstanden meine Bücher und Drehbücher.

Du hast verschiedene Bücher geschrieben. Dein wahrscheinlich bekanntestes Buch „La Patagonia rebelde“ ist auch verfilmt worden. Wie siehst du dich eigentlich: eher als Journalist, Schriftsteller oder Historiker?

Ich bezeichne mich selbst als „Chronist mit eigener Meinung“. Ich agitiere nicht, ich informiere. Dabei sage ich meine Meinung und mache meine eigenen Interpretationen. Doch ich beschäftige mich nicht nur mit Geschichte, sondern auch mit der Aktualität. Ich stecke inmitten des argentinischen und des europäischen Geschehens und vertrete meine Meinung durch wöchentliche Beiträge in der Morgenzeitung „Página 12“. Meine Bücher behandeln historische Themen, aber ich verarbeite sie gern für das Kino und Fernsehen. Immerversuche ich, durch populäre Medien die Themen den Menschen nahezubringen, die sich keine Bücher kaufen können.

Du mußtest 1976 – wie viele andere Gewerkschafter, Intellektuelle und Künstler auch – Argentinien verlassen. Kannst du etwas darüber erzählen, wann und wie du aus Argentinien geflohen bist?

Im Oktober 1974, noch während der Regierung Isabel Peróns, erschien mein Name auf einer von den drei A's (Alianza Anticomunista Argentina) herausgegebenen Liste von TodeskandidatInnen. Die drei A's war eine kriminelle Organisation, die sich aus Polizisten, Militärs und Zivilisten zusammensetzte und schreckliche Verbrechen gegen Linke und kritische Intellektuelle beging (z.B. der Mord an Professor Silvio Prondizi, am Sohn Dr. Laguzzis, Rektor der Universität von Buenos Aires, etc.). Daher beschlossen wir, daß als erste Maßnahme meine Frau und die Kinder nach Deutschland gehen sollten, wo sie aufgrund ihrer Abstammung ein Recht auf Aufenthalt hatten. Ich blieb in Argentinien. Ich wollte den Henkern nicht den Gefallen tun. Mein Verbrechen war die Veröffentlichung einer Forschungsarbeit über die Hinrichtung von 1500 patagonischen Landarbeitern, ein Verbrechen, das vor fünfzig Jahren verübt worden war. Aber allein konnte ich nicht überleben, weil ich keiner politischen Organisation angehörte, mit deren Struktur ich in der Illegalität hätte überleben können. Im Februar 1975 reiste ich schließlich auch nach Deutschland. Ich bekam keine Arbeit, die Türen waren mir verschlossen. In meinen Artikeln hatte ich die deutschen politischen und kulturellen Kräfte kritisiert. Wir lebten ein Jahr lang vom Verdienst meiner Frau, die in einem Kaufhaus arbeitete. Im Februar 1976 beschloß ich, nach Argentinien zurückzukehren und mich der Situation zu stellen. Man erwartete einige Freiheiten, da die peronistische Regierung Wahlen für November 1976 in Aussicht gestellt hatte. Das war ein Fehlschluß meinerseits, da vier Wochen später Videla und seine Schergen die Macht übernahmen und in meinem Land die schlimmste Repression aller Zeiten mit dem System des „Verschwindenlassens von Personen“ begann. Das ganze Land war eine Mausefalle. Tag für Tag „verschwanden“ gute Freunde. Ich lebte in der Illegalität, bis mich am 20. Juni der Kulturattaché der deutschen Botschaft und seine Frau unter Einsatz ihres eigenen Lebens herausschleusten. Mein Exil sollte sieben Jahre, bis Oktober 1983, währen.

Hier in der BRD hast du dich in verschiedenen Artikeln und Aufsätzen auch mit den deutschen antifaschistischen Exil in Argentinien und Lateinamerika beschäftigu. War das für dich schon früher ein Thema oder entstand diese Auseinandersetzung aus der Erfahrung deines Exils in Deutschland?

Das Argentinien der 30er Jahre – ich war damals noch ein Kind, aber ein Kind, das alles registrierte – war ein Land, das Tausende von Exilierten aufnahm: zuerst die des italienischen Faschismus, dann die des deutschen Nationalsozialismus und schließlich, ab 1939, die republikanischen Kämpfer aus Spanien. Viele von ihnen habe ich kennengelernt, in meinen Kinderaugen haften viele Szenen aus den Cafés in Belgrano, einem Stadtteil von Buenos Aires, wo sie sich trafen. Ich konnte aber auch die andere Seite beobachten, wenn der Nazibotschafter in Argentinien, Freiherr von Thermann, in SS-Uniform und zu den Klängen des Badenweilermarsches den deutschen Klub von Belgrano betrat. Schon älter, lernte ich die Lebensgefährtin des Dichters Paul Zech kennen und wurde ein Freund von Walter Jacob, den Gründer der Freien Deutschen Bühne in Buenos Aires. Als ich dann auch das Schicksal der Exilierten teilte, interessierte mich besonders der Lebensweg der deutschen Exilierten in Buenos Aires nach 1933 und besuchte viele von ihnen, die später wieder nach Deutschland zurückgekehrt waren.

Wo würdest du den Hauptunterschied zwischen beiden Exilerfahrungen sehen?

Aus menschlicher Sicht gibt es keine großen Unterschiede. Das Exil ist eine wahre Tragödie, hauptsächlich, wenn es ältere Menschen tifft, die in ihrem Land ein Leben aufgebaut haben. Als ich ausreisen mußte, war ich fast fünfzig Jahre alt. Meine Themen waren argentinisch. Ich hatte es gerade geschafft, mit meinen Büchern und Drehbüchern freischaffend leben zu können. Alles das brach plötzlich zusammen. Ab 1976 mußte ichmeinen Unterhalt in Deutschland als Übersetzer verdienen. Niemals habe ich von staatlichen oder kulturellen Institutionen oder von politischen Stiftungen Unterstützung verlangt oder bekommen. Ich habe auch nicht die deutsche Staatsangehörigkeit angefordert, die ich mit Leichtigkeit hätte bekommen können. Ich wollte „nur“ Argentinier sein, wie so viele Landsleute, die unser Land verlassen mußten. Meine ganze Freizeit widmete ich dem Kampf gegen die Diktatur: In sieben Jahren meines Exils reiste ich durch die ganze Bundesrepublik und sprach auf Informations- und Solidaritätsveranstaltungen für unsere Gefangenen und Verschwundenen. Als Parteiunabhängiger versuchte ich, die Exilierten zu vereinen. Ich veröffentlichte etliche Artikel in argentinischen Zeitungen, reiste nach Mexico, Venezuela, Spanien, Frankreich, Holland, Belgien, Italien und Schweden, um an Veranstaltungen gegen die argentinische Militärdiktatur teilzunehmen. Im Oktober 1983, als die Diktatur noch an der Macht war, eine Woche vor den Wahlen, kehrte ich nach Argentinien zurück. Ich habe mich in dieser Hinsicht an den Deutschen in Buenos Aires orientiert, die für „Das Andere Deutschland“ kämpften, deren Gedanken stets bei den Gefangenen waren, deren Ideale die eines demokratischen Deutschlands waren. Und die sofort wieder zurückkehren wollten, um die Tätigkeiten aufzunehmen, die sie 1933 unterbrechen mußten.

Ich bin auf das argentinische Exil stolz, denn es unternahm die Aufgabe, die Militärdiktatur zu entlarven, die von allen sogenannten demokratischen Regierungen der Industrieländer, aber auch von den Ostblockländern unterstützt wurde. Die argentinischen Exilierten kamen nach der großen Solidaritätsbewegung für die chilenischen Exilierten. Und außerdem war die politische Situation Argentiniens nicht so eindeutig wie die chilenische. In Chile war Allende abgesetzt worden; in Argentinien hatte eine Militärdiktatur eine finstere Regierung, die von Isabel Perón, abgelöst, die den Staatsterrorismus in der gleichen Weise anwandte wie jede andere Diktatur. Es war sehr schwierig, unsere Lage zu erklären, aber schließlich gelang es uns doch. Die Mütter der Plaza de Mayo wurden auf der ganzen Welt bekannt.

Du hast 1979 den Essay „Bundesrepublik Deutschland: Das Bild eines lateinamerikanischen Exilierten“ geschrieben. Für mich war dieser Text, als ich ihn das erste Mal Anfang der 80er Jahre gelesen habe, sehr wichtig und ich sehe ihn als bedeutenden Beitrag der politischen Publizistik in der BRD. Der Text wurde 1979 in der Reihe „Materialien“ von epd-Entwicklungspolitik publiziert. Eigentlich hattest du ihn aber für einen anderen Zweck geschrieben. Kannst du etwas darüber erzählen?

1979 wurde ich vom Institut für Auslandsbeziehungen in Stuttgart eingeladen. Dieses Institut wird vom Außenministerien, vom Land Baden-Württemberg, der Stadt Stuttgart und privaten Firmen des Landes unterhalten. Ich sollte auf einem Symposium in Achern (Baden) über das Thema „Bundesrepublik Deutschland: das Bild eines lateinamerikanischen Exilierten“ referieren. Ich sollte ein Referat in spanischer und deutscher Sprache zwei Monate vorher einreichen. Drei Wochen später erhielt ich einen eingeschriebenen Brief vom Leiter des Lateinamerikareferats, Günter W. Lorenz, in dem er mir schrieb, daß das Referat „für das Kolloquium nicht brauchbar“ sei und man mich wieder auslade. Den Popen des Instituts störte meine Kritik an der Bonner Regierung, hauptsächlich in Bezug auf den Waffenverkauf an die Diktatur Videla. Es war ein Akt der Zensur und Arroganz von Seiten der ewigen Schreibtischtäter. Aber das Verbot meines Referats hatte schwerwiegende Folgen: Am gleichen Tage, als ich das Referat halten sollte, hat die „Frankfurter Rundschau“ es unter der Rubrik „Dokumentation“ ganz veröffentlicht. Der größte Teil der Teilnehmer am Symposium hat sich von der Maßnahme des Instituts distanziert und mir gegenüber Solidarität bezeugt. Seitdem wurde das Referat immer wieder veröffentlicht. Und seit zehn Jahren erscheint es im „Lesebuch Dritte Welt“ der Reihe „rororo Aktuell“. Interessant war der Briefwechsel zwischen dem Institut und mir und die Briefe, die ich an die Mitglieder des Kuratoriums des Instituts, unter ihnen Herr Genscher, an Lothar Späth (damals Ministerpräsident Baden-Württembergs) und Manfred Rommel (Bürgermeister von Stuttgart) gerichtet habe. Genscher hat mir nicht geantwortet. Späth hatte keine Probleme, mir zu versichern, daß er die Maßnahme des Instituts, mich wieder auszuladen, gerechtfertigt finde, und Rommel antwortete schlicht und einfach, daß er von meinem Brief Kenntnis genommen habe. Jeder von ihnen hat somit sein bekanntes öffentliches Verhalten kundgetan.

In dem Text attackierst und demaskierst du die Herrschenden in der BRD, die mit Diktaturen paktieren und in der BRD demokratische Rechte einschränken und repressiv gegen oppositionelle Bewegungen vorgehen. Gleichzeitig zeigst du die Tradition und Gegenwart eines „anderen“ Deutschlands auf und beziehst dich positiv auf die Lateinamerika-Solidaritätsbewegung. Du hast selbst hier aktiv in der Solibewegung mitgearbeitet. Wie hast du sie damals erlebt und wie siehst du sie heute? Und glaubst du, daß nicht auch in der Linken und der Solibewegung vieles von der europäischen Überheblichkeit, die die herrschende Politik kennzeichnet, reproduziert wird?

In jenem Text sage ich meine Wahrheit, die selbstverständlich nicht die absolute Wahrheit ist. Diese meine Wahrheit reflektiert in aller Ehrlichkeit die Empfindungen während meines Exils. Ich bin es nicht gewohnt, es in meinem Schreiben allen recht machen zu wollen, damit man mich nachher für eine Auszeichnung, ein Stipendium oder einen Orden vorschlagen kann. Daher mögen mich die Rechten, die sogenannten Liberalen, die Sozialdemokraten und gewisse Linke nicht. Weshalb? Weil ich z.B. in Deutschland nicht die weinerliche These vertrete, daß hier niemals eine Revolution gesiegt habe. Und die von 1918? Haben nicht etwa die Matrosen von Kiel, die Soldatenräte und die Arbeiter die Monarchie gestürzt und die Demokratie eingeführt? Daß diese Revolution später von den Sozialdemokraten Eberts und Noskes verraten wurde, ist eine andere Sache. Natürlich wird die Revolution von 1918 nicht als solche angesehen, weil sie aus den unteren Schichten kam. Ginge man der Geschichte mehr auf den Grund, stünden die Sozialdemokraten und natürlich die Eliten schlecht da. Ebenfalls vertrete ich nicht die verbreitete These der Kollektivschuld des deutschen Volkes während des Nationalsozialismus. Mit dieser von den Adenauers und den Heussens vertretenen These hat man die wahren Schuldigen vertuscht. Daher wurden 1945 die Henkersknechte der SS, denen man 1935 in Moabit und Kreuzberg eine Uniform anpaßte und sie zu kleinen Göttern machte, hingerichtet – im Grunde arme Teufel, selbst Opfer und gewöhnliche Verbrecher, während der Autor der Rassengesetze von Nürnberg später zum Berater Adenauers avancierte. Diese These machte es möglich, daß aus Argentinien der Pförtner von Siemens, Schwammberger, nach Deutschland gebracht wurde, während die Thyssens und die Krupps in ihren Betten und im vollen Besitz ihrer Güter starben. Und die deutsche Linke, anstatt für die Aufklärung über die Verantwortlichen des Massenmordes zu kämpfen, verfiel in die larmoyante These, die da besagt, die Deutschen seien von Natur aus Rassisten und autoritär. Das ist eine ähnliche These wie die, alle Lateinamerikaner seien oberflächlich, geschwätzig und ihre Sprache bestünde aus zwei Wörtern: „mañana“ und „paciencia“. Jene These führte dazu, daß Graf von Stauffenberg, dieser finstere und umstrittene Mensch, zur bedeutendsten Persönlichkeit des nationalsozialistischen Widerstands wurde und die wunderbaren Jugendlichen der „Weißen Rose“ beinahe in Vergessenheit gerieten. Dieses auszusprechen bringt Feinde und Zensur, offen und hinterrücks. Genauso erging es mir, als ich die imperialistischen Tätigkeiten der deutschen politischen Stiftungen anprangerte. Die Friedrich-Ebert-Stiftung, ebenso wie die amerikanischen Universitäten, unterstützen finanziell die intellektuellen Alfonsinistas, welche die Gehorsams- und Schlußpunktgesetze befürworten, so daß die mörderischen Militärs nunmehr in Freiheit leben. Während die unabhängige Linke ihre Veröffentlichungen mit geringen Mitteln aus ihrer eigenen Tasche finanzierte, konnten die sozialdemokratischen Intellektuellen Luxusausgaben ihrer Zeitschriften und Publikationen herausgeben. Korruption und folgsame Intellektuelle kommen in den Genuß von Stipendien, Finanzierung von Projekten, internationalen Auszeichnungen, Einladungen zu Symposien usw. Die regionalen Leiter der politischen Stiftungen sind eine Art Vizekönig, von den intellektuellen Eliten der Peripherieländer vielbewunderte und hofierte Personen. Das System korrumpiert alles. Vor einigen Monaten fragte ich in der Humboldt-Universität von Berlin die Zuhörer: „Was macht das andere Deutschland? Was ist aus der Jugend der 70er Jahre geworden, dieser wunderbaren Solidaritätsbewegung, die mit uns gelitten, gekämpft hat, damit auch in der Dritten Welt die Lichter angehen? Was ist aus ihnen allen geworden?“ Ich glaube, sie leben in einem elitären Konformismus. In einer Art bequemer Resignation. In Wirklichkeit erfüllen sie die Aufgabe, die die Rechte der Linken vorbehält: die Vorgärten zu pflegen, die Fassaden des Systems zu streichen. Das System hat unsauber gearbeitet, ökologisch und menschlich. Es hat die Natur zerstört und Millionen von Menschen der Dritten Welt entwurzelt, sie in die Großstädte der Industrieländer verpflanzt. Irgendjemand hat einen genialen Begriff dafür erfunden: die multikulturelle Gesellschaft. Integration war das magische Wort. Wie die Pilze schossen die Dritte-Welt-Häuser aus dem Erdboden. Die Linke begann, auf ihre Listen Kandidaten mit exotischen Namen zu setzen, als Alibi, das Wahlrecht bei Kommunalwahlen für Ausländer zu fordern. In allen Bezirken, in denen die Linke etwas zu sagen hat, gibt es einen Ausländerbeauftragten. Die ehemaligen Kämpfer haben sich bürokratisiert, sie sind zu Funktionären der Dritten Welt geworden, aber innerhalb ihrer Grenzen. Sie arbeiten für ihre eigene Dritte Welt, doch nicht für die agonisierende, sich zerfleischende Dritte Welt der chaotischen südlichen Hälfte. Daniel Cohn-Bendit, der Revolutionär der 68er Jahre, sieht als seine Lebensaufgabe die Realisierung der multikulturellen Gesellschaft in Frankfurt. Alle konnten ihn im Fernsehen beim Empfangscocktail der deutschen Fußballweltmeister im Sommer 1990 sehen, als er vor der Kamera erzählte, daß selbst die Türken unter den deutschen Zuschauern beim Aufmarsch der Sportler „Deutschland, Deutschland“ riefen. Es ist möglich, daß auf diesem Wege die deutsche Linke aus Türken die besseren Deutschen macht. Und mit etwas Geduld und Fleiß auch aus den Polen. Eine Dritte Welt, die begeistert „Deutschland, Deutschland“ ruft. In meinen Worten steckt keine Ironie. Eher Verzweiflung. Denn ich bin wohl damit einverstanden, den Bach vor meiner Wohnung zu pflegen. Aber der Ozean wird uns alle überschwemmen. Die Völker der Dritten Welt können nur noch ums Überleben kämpfen. Aber die jungen Menschen guten Willens der Industrieländer müssen auf die Straße gehen und für ein System kämpfen, das uns vom Untergang des Planeten schützt. Sie müssen auf die Straßen gehen, wie es in den 70er Jahren diese wunderbare pazifistische Bewegung tat und jetzt und sofort die Zahlungsaufhebung der Auslandsverschuldung fordern, keine Billigpreise unserer Produkte dulden und ein Ende des irrationalen Konsumismus in den metropolen Ländern anstreben. Wir finden es gut, daß es in Deutschland Hunderte von Stätten „Kulturen der Welt“ gibt, in denen unsere Schriftsteller Lesungen abhalten, in denen unsere Musik gehört wird, aber gleichzeitig muß dafür gekämpft werden, damit unsere Menschen Bleistifte und Bücher bekommen. Sogar die Kinder werden uns genommen, indem sie den Eltern abgekauft werden. Neulich las ich die Meinung einer deutschen Frau: „Jedes Kind, das aus der Dritten Welt adoptiert wird, ist ein gerettetes Kind.“ Typische Denkweise von Egoismus und Bequemlichkeit, als fände das Leben nur in der ersten Welt statt. Doch in dieser Aussage steckt die derzeitige Politik der deutschen Linken: Ja, viele Symposien über die 500 Jahre Entdeckung Amerikas. Eine Art Show wird abgezogen, aber die Bundesrepublik fordert weiterhin die Zahlung der Auslandsschulden von Ländern, die in der absoluten Misere leben. Ich träume von einem „anderen Deutschland“, das den jahrhundertelangen Kampf fortsetzt. Dieses „andere Deutschland“ sollen keine Alexianer, keine Barmherzigen Brüder des Mittelalters sein, die die Todgeweihten mit Trostworten zum Schafott begleiteten. Das „andere Deutschland“ soll sich zum Beispiel den kleinen Mönch Gutenberg von der Hill nehmen, der im 14. Jahrhundert die Hexenverbrennungen verurteilte und so Mythen und Vorurteile der Menschheit zerstörte. Dieses „andere Deutschland“ soll uns helfen, den Mythos der Unfehlbarkeit eines perversen Systems, das die Welt beherrscht, zu zerstören.

Die Fragen von Gert Eisenbürger hat Osvaldo Bayer im Januar 1992 schriftlich beantwortet.