ila

Exil im Land der Tyrannenfreunde

Das Deutschlandbild eines Flüchtlings aus Lateinamerika

Auf einem vom offiziellen „Institut für Auslandsbeziehungen“ veranstalteten Kolloquium zum Thema „Das Deutschlandbild in Lateinamerika – Das Lateinamerikabild in Deutschland“ im November 1979 sollte Osvaldo Bayer über das Bild eines lateinamerikanischen Exilierten von der Bundesrepublik Deutschland referieren. Nachdem er sein Referat – wie verlangt – vorher schriftlich eingereicht hatte, wurde er wieder ausgeladen, weil sein Referat „für das Kolloquium nicht brauchbar“ sei (vgl. das Interview in dieser Nummer). Osvaldos „Deutschlandbild“ ist inzwischen über 12 Jahre alt und hat, wie wir meinen, nichts von seiner Aktualität verloren.

Osvaldo Bayer

Welchen Wert hat eigentlich die Meinung eines lateinamerikanischen Exilierten über die Bundesrepublik? Hieße das nicht, die Meinung eines Kranken einzuholen? (Heinz Abosch: „Das Exil ist eine Krankheit, die zur Quarantäne des davon Betroffenen führt.“ Cortázar: „Exil ist wie wenn Blätter und Wurzeln eines Baumes keinen Kontakt mehr zu Luft und Erde, ihrem Lebensraum, haben. Es ist das plötzliche Ende einer Liebe; es ist wie ein unvorstellbar schreckliches Sterben, weil es ein Sterben ist, das man bewußt erlebt.“) Das Bild kann einerseits der Dithyrambus eines sich plötzlich in Freiheit Befindenden sein, der nicht mehr erzittern muß, wenn es an der Haustür schellt, mit dem daraus erfolgenden Dank an das Land, das ihn aufgenommen hat; oder – ganz im Gegenteil – eine emotionelle, bittere Anklage, die Verzweiflung, sich da zu befinden, wo das System entwickelt wird, das die Tragödie des Exils, den Tod und die Verhaftung von Freunden ja möglich macht; in diesem Fall, in jedem Deutschen den Schuldigen zu sehen für das, was an Tausenden in weiter Ferne verbrochen wird.

Und da erleben wir schon die Zwiespältigkeit in der Existenz des lateinamerikanischen Exilierten, der sich gezwungen sieht, in irgendeinem industrialisierten Land der westlichen Hemisphäre zu leben. Dieses Herzasthma des Exils, das Thomas Mann beschrieb, ist beim Menschen aus der Dritten Welt viel komplizierter, intensiver, schizophrener und – da Asthma – weit erstickender, erdrückender als z. B. bei den deutschen Exilierten des Nationalsozialismus, welche meistens in nazifeindliche Länder auswanderten. Der Lateinamerikaner dagegen landet fast immer in Ländern, die mit dem jeweiligen Tyrannen beste Beziehungen pflegen. Außerdem: Ist er nicht allein aufgrund seiner Eigenschaft, Lateinamerikaner zu sein, unfähig, objektiv zu sein? Oder weil es diese Objektivität gar nicht gibt und weil sie weder menschlich noch intellektuell ist? Jedenfalls ist Objektivität konformistisch. Und Konformismus kann man nicht von jemandem verlangen, der sich gezwungen sah, sein Vaterland zu verlassen, seine Landschaft, seine Leute, seine Leser, seine Pläne, seine Träume, seine Freunde, seine Farben des Alltags, seine Stundenpläne, seine Gewohnheiten. (...)

Eine unobjektive Meinheit, ergo eine ehrliche. Antirhetorisch, antistrategisch, unpolitisch. Sie führt nur zu einer noch größeren Isolation, zu einem intensiveren Exil. Sie führt dazu, mehr zu sich selbst zu finden.

Ja, die Ankunft in Deutschland. Die plötzliche Rückkehr ins Reich der Ahnen. Während ich auf dem Frankfurter Flughafen lande, kann ich nicht umhin, an die Flüchtlinge des Nationalsozialismus in Buenos Aires in den Jahren 1936/37 zu denken. Ich erinnere mich an ihre bleichen Gesichter, ihre europäische Kleidung, ihre wässrigen Augen, sich leise unterhaltend an einem Tisch in „La Cochera“ in Belgrano; Kaffee und ewiges Schachspiel. Manchmal hellten sich die Gesichter auf, als wenn jemand geflüstert hätte: Hitler stürzt dieses Frühjahr, wir können schon die Koffer packen.

Dieses Bild aus meinen Kindheitserinnerungen zeigte sich nun umgekehrt. Ich, ein Emigrant aus einem Land, das ihnen einst Asyl gewährt hatte, befand mich nun in dem Land, das sie einst ausgestoßen hatte. Vielleicht wurde ich auch von einem deutschen Kind beobachtet, als ich im „Ruhrblick“ in Essen Osvaldo Soriano erklärte, daß noch vor Weihnachten die Videla-Diktatur stürzen würde und wir schon mit dem Kofferpacken beginnen könnten.

Am Anfang: die Einsamkeit. Oder die selbstfesuchte Einsamkeit, die gewollte Isolation, als Reaktion auf die einem zugefügte Ungerechtigkeit. Ein plötzlich erwachtes Interesse, über das Leben deutscher Emigranten von 1933 zu lesen. Eine Art Suche nach vergangenen Zeiten, eine Reinkarnation in den Schatten anderer. Eine beinahe krankhafte Neugier, festzustellen, wie sie gekämpft haben oder untergegangen sind.

Welchen Eindruck von Deutschland soll ich wiedergeben? Den vom Deutschland der Emigranten, mit denen ich mich bescheiden vergleiche und mich deswegen stärker fühle. Oder ist Deutschland der Kulturattaché der deutschen Botschaft, der sein und seiner Frau Leben riskiert hat, um mich durch die polizeilichen und militärischen Kontrollen vor dem Flughafen zu bringen? Oder muß ich diese Erinnerung vermischen mit der jenes deutschen Offiziers, der mich auf einer Party – ahnungslos über meine nicht ganz angebrachte Anwesenheit – beglückwünschte zu dem großen Geschäft der argentinischen Militärs, Technologie des Leopard I und des Marders zu erwerben? Ein unvergeßlicher Anblick: rot, zufrieden, voller Wichtigkeit Daten aufzählend über Raupenketten, Pläne der Thyssen Henschel, über Mercedes- und MAN-Motoren, automatischen 20-mm-Kanonenrohren von Rheinmetall ... eine gesunde Stimme, kräftig. Ein „Bürger in Uniform“?

Doch mein Bild von Deutschland ist nichts anderes als das Erlebnis und die Verwirrung, hier zu leben und dort zu denken, alles zu vermischen, alles, was drüben geschieht, hier anzuwenden. Ich kann kein aseptisches, unpersönliches Bild von Deutschland haben, alles gerät durcheinander, als hätte man die Kulissen falsch eingesetzt, die Breitengrade geändert, die Zeit zurückgedreht.

Ich lese in der Zeitung La Opinión von Buenos Aires eine Ansprache von Admiral Massera – als Mitglied der Militärjunta – in der Universidad Católica del Salvador in Buenos Aires. In einer für einen Spezialisten in Torpedos und im Verschwindenlassen politischer Gegner ungewöhnlichen, philosophischen Sprache macht der argentinische Admiral drei Männer für die heutige Krise der Menschheit verantwortlich: Marx, Freud und Einstein. Der argentinische Admiral sagte wortwörtlich: „Gegen Ende des 19. Jahrhunderts veröffentlichte Marx die drei Bände des ,Kapital' und stellte damit die Unantastbarkeit des Privateigentums in Frage; Anfang des 20. Jahrhunderts wird die heilige Intimsphäre des Menschen durch Freud – in seinem Buch ,Deutung der Träume' – angegriffen, und als wäre das noch nicht genug, um ein System zu verunsichern, das die positiven Werte der Gesellschaft unterstützt, gibt Einstein – 1905 – die Relativitätstheorie bekannt, wodurch die statische und tote Beschaffenheit der Materie in Krise gerät“.

Seltsam, denke ich, daß die drei großen Subversiven der Weltgeschichte für die argentinischen Militärs ein Produkt deutscher Universitäten waren, und daß alle drei Deutschland verlassen mußten. Zwei wegen Hitler, einer vorher, im vergangenen Jahrhundert, aber seine Bücher waren die ersten, die 1933 auf den Scheiterhaufen vor dem Opernplatz in Berlin kamen. (...)

Unter meinem Arm habe ich wieder einmal La Opinión geklemmt. Auf Seite 9 steht eine gerahmte Notiz mit folgender Überschrift: „Verbrennung subversiver Literatur in Córdoba: Das 3. Heereskommando gibt heute bekannt, daß am heutigen Tage diese Dokumneteation verbrannt wird, die dem Intellekt und unserer christlichen Denkungsweise schadet. Dieser Beschluß wird gefaßt, damit diese Bücher, Hefte und Zeitschriften nicht weiter unsere Jugend gefährden und auch damit diese nicht weiter belogen wird über die wahren Werte unserer nationalen Embleme, unserer Familie, unserer Kirche und unserer überlieferten Kultur, deren Verkörperung Gott, Vaterland und Familie sind.“ Oberstleutnant Corleri unterschreibt das Dekret und versichert den Journalisten, daß sich unter den verbrannten Büchern keine Werke „unsere nationalen Helden befinden“.

Ich lese eine Nachricht der Deutschen Press Agentur in Buenos Aires: „Der Botschafter der Deutschen Bundesrepublik in Argentinien, Dr. Joachim Jaenicke, bestreitet, daß die Regierung General Videlas eine Militärdiktatur sei.“ Berlin Opernplatz 1933; Córdoba, die gelehrte Stadt, April 1976, der Holocaus der Kultur, der Ritus des Feuers; Bücher sind immer die ersten Opfer, dann folgen die Menschen mit subversiven, antiargentinischen, undeutschen Gedanken, 43 Jahre später, südliche Breite, Freud, Marx, Einstein. An jenem Abend nahm der Infanteriegeneral Rafael Jorge Videla zehn Mal das Wort „Freiheit“ in den Mund, acht Mal das Wort „Gott“, fünf Mal das Wort „Demokratie“ und drei Mal spricht er von der argentinischen Lebensweise.

Ich gehe durch einen dunklen, westfälischen Wald und denke: Du bist in Deutschland! Wie parallel verlaufen die Wege der Völker. Wie ähnelt sich das Schicksal seiner Intellektuellen. Die gleichen Reaktionen, trotz verschiedner Kulturen und Breitengrade: die Märtyrer – Carl von Ossietzky und Rodolfo Walsh, Erich Mühsam und Haroldo Conti; die Diaspora und der ewige Sonnenuntergang des Exils, die innere Emigration und dann, allgegenwärtig, die, die jedes Jahr Preise von den Diktatoren entgegennehmen; und jene anderen, die den Diktatoren als Alibi nützen, die, die immer eine Zeitung oder einen Sender zur Verfügung haben, um Kritik am Regime zu üben, aber nicht zuviel. Die, die mit dem Herrscher zu Mittag speisen. Doch sobald diese in Ungnade fallen, verzweifelt in ihren Schriften suchen, um zu beweisen, daß sie im „Widerstand“ gekämpft haben. (...)

 

„Deutschland ist doch schön!“

Ich lesen den offiziellen Reisebericht der vier Bundestagsabgeordneten, die zwischen dem 17. und 25. Juni 1978 in Argentinien waren: Dr. Hans Evers, Christdemokrat; Adolf Müller Emmert und Hermann Scheffler, Sozialdemokraten, und Torsten Wolfgramm, Liberaler. Wir Exilierten erwarteten voller Spannung diesen Bericht. Wir hegten die Hoffnung, daß Männer der Hierarchie der deutschen Volksvertretung mit der politischen und sozialen Wahrheit über unser armes Vaterland zurückkämen. Ich lese: „Montag, 19. 6. Mittags folgten wir einer Einladung zu einer Estancia. Dort Vorführung der hier gezüchteten Rinderrassen und eine Einladung zum Mate-Tee. 20. 6. Besuch eines Fußballstadions. Die Art und Weise des Baus garantiert hohes Maß an äußerer Sicherheit und auch an spielfreien Tagen hat man den Eindruck der absoluten Überwachung, die allerdings sehr diskret war und kaum in Erscheinung trat.“ Am gleichen Tag Einladung auf die Estancia eines ehemaligen Luftwaffenkommandeurs „zu einem dort allseits beliebten Rostbratenessen, dort ,asada' (sic) genannt. Das Essen fand in gewohnter Herzlichkeit statt, wie man es in Argentinien allgemein empfinden kann. Die Speisekarte besteht im wesentlichen aus allen möglichen Sorten Fleisch (Rind, Ziege, Schwein sowie deren Innereien und verschiedenen Arten von Blut- und anderer Wurst), die mit riesigen Schüsseln von Salat sowie Rot- und Weißwein und Mineralwasser gereicht werden.“ 21. 6. Mittagessen in der deutschen Schule in Córdoba. Der Abgeordnete Scheffler berichtet: „Allenthalben habe ich auf Fragen nach dem Vergleich zu Peróns Zeit die Antwort bekommen, daß diese Zeit untragbar gewesen sei, verbunden mit Gefahr für Leib und Leben, und daß einfach wieder hätte Ordnung einkehren müssen.“ 22. 6. Konversationen mit hohen Persönlichkeiten des ökonomischen und politischen Lebens. „Auch hier in diesen Gesprächen trat immer wieder die Meinung zutage, daß in den letzten zwei Jahren sicherlich manches Unrecht geschehen sei, aber inzwischen Ruhe und Ordnung eingekehrt sei, die man nicht missen möchte.“ 5. 7. „Nach drei Wochen Reise mit vielen Eindrücken, vielen Gesprächen, aber auch viel Ärger und viel persönlicher Strapaze ist man froh, wenn man wieder nach Hause kommt. Deutschland ist doch schön!“

Ich denke an Alexander von Humboldt, an seine Reise durch Lateinamerika, an seinen Bericht über die sozialen Bedingungen dort. Gleich überspiegeln sich bei mir beide Deutschland, zwei Bilder. Das tiefgründige Deutschland und das andere, das Alexander Mitscherlich das Deutschland der „Angestelltenkultur“ bezeichnet hat. Und das sich mir ganz schmerzhaft offenbart durch die Gegenüberstellung eines Bundespräsidenten – in diesem Falle Walter Scheel –, der tief betroffen bei der Beisetzung des Vorsitzenden der Arbeitgebervereinigung, Hanns Martin Schleyer, spricht, während zum Begräbnis Ernst Blochs – einer der größten Denker Deutschlands und der Welt unserer Zeit – hastig, in letzter Minute, ein Beamter zweiten Ranges eilt.

 

Der Traum des „Nie Wieder...“

Deutschland war 1945 unsere ganze Hoffnung. Die Hoffnung der Utopisten. Dieses geschlagene Volk, erniedrigt, vergewaltigt, moralisch und materiell zerstört, bis zum Geht-nicht-mehr verhöhnt, sollte neu aus der Asche entstehen. Die Realpolitik endete mit einer Katastrophe und wird immer mit einer Katastrophe enden. Es wäre in jenen Jahren für die Deutschen nicht utopisch gewesen, eine Utopie aufzubauen. Und sie wußten, wie man damit anfängt; so wie es die „Trümmerfrauen“ gemacht haben, Backstein für Backstein, so hätte man das neue Leben beginnen müssen; nie mehr Waffen, nie mehr Krieg, nie mehr Gewalt, nie mehr die Überheblichkeit eines Kaiser Wilhelms II. oder eines Hitlers, oder der preußischen Junker; nie mehr die teuflische und kriminelle Produktion der Krupps und der Thyssens. In jenen Jahren herrschte ein religiöses Klima der Solidarität. In Deutschland brodelten humanistische Ideale. „Nie Wieder“. Nie wieder Bewaffnung, Rassenhaß, Vergewaltigung anderer Völker. (...)

Doch die Illusion war nur kurz. Der Westen Deutschlands wurde zum „amerikanischen Baby“ und der Osten zum Klassenbesten der Sowjetunion. Die Utopien waren kurzlebig, der ideologische Inhalt der jeweiligen Regierungen war wieder die Realpolitik. Die Bundesrepublik wurde zum besten Exponenten der Konsumgesellschaft, des „Königs Auto“, des Massentourismus. Es begann der Mythos und die Realität des deutschen Wirtschaftswunders. Adenauer und Erhard waren die Champions und die nachahmungswürdigen Modelle. Ein Wirtschaftswunder, das in meinem Land, Argentinien, die Scharlatane priesen. Jeder Unternehmer und jeder Wirtschaftsexperte, der sich rühmte, ein freier Mensch zu sein, ein Demokrat und ein guter Geschäftsmann, löste die Probleme mit der freien Marktwirtschaft. Jedem Arbeiterführer, jeder Bürgerinitiative aus den „Villas Miserias“ (Elendsviertel) wurde der Mund mit dem deutschen Wirtschaftswunder gestopft. „Man muß von den Deutschen lernen“ war in den 50er und 60er Jahren der Slogan. So erzeugte das deutsche Wirtschaftswunder die argentinische Wirtschaftskatastrophe. Nicht die Deutschen sind Schuld daran – man soll immer erst mit dem Besen vor der eigenen Türe kehren –, sondern jene, die seit 1955 bis heute – mit wenigen Unterbrechungen – das kapitalistische System eines entwickleten Landes auf eines von der Metropole abhängigen übertragen wollen. Es waren die sogenannten freien und demokratischen Kräfte meines Landes, die stets die Militärputsche gegen die vom Volk gewählten Regierungen begrüßten. Und die Helden der freien Marktwirtschaft und des politischen Terrorismus hämmerten durch Radio, Fernsehen und Zeitungen dem Volk die Devise ein: „Man muß von den Deutschen lernen.“ Vor 1945 wurde uns jungen Argentiniern die französische Kultur, die englische Wirtschaft, die amerikanische Lebensweise, der deutsche Militarismus aufgezwängt. Nun wurde an der Formel, wie man gute Argentinier macht, der deutsche Militarismus mit dem deutschen Wirtschaftswunder ausgewechselt. Der Slogan verblaßt allmählich. Der Glanz blättert ab, es zeigen sich Roststellen. Die Natur weigert sich, ständig vergewaltigt zu werden, und hat die Grenzen des Wachstums gezeigt. Die von Hans Magnus Enzensberger ironisch zitierte Formel „Tischlein deck dich: du wirst reich sein“ hat ausgedient. Irgend etwas ist zerbrochen. Die armen Länder haben inzwischen gemerkt, wo der Haken des Systems liegt. (...)

 

Deutsche Waffen...

Tief betroffen lese ich auf der ersten Seite der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 3. 5. 79: „Deutsche Hersteller sollen gewinnträchtige Waffen exportieren. Verband für Luftfahrtzubehör bietet Mitgliedsfirmen Schnellfeuer-MG und Raketen an. Produzenten sind überlastet. Um den vielen Wünschen ausländischer Militärexperten nachzukommen, hat das Konstruktionsbüro des Bundesverbandes der Luftfahrtzubehör- und Raketenindustrie e.V. (BLR) in Hamburg eine Reihe von neuartigen Waffen und Rüstungsgeräten speziell für das Ausland entwickelt.“ Weiter heißt es: „Der Bundesverband richtet daher an seine Mitgliedsfirmen, die nach seinen Angaben 17 000 Fachkräfte beschäftigen, die Anfrage, ob Interesse daran bestehe, diesen gewinnträchtigen Export zu übernehmen. Ein Sprecher des BLR erklärte: Bei den entwickelten Waffen handele es sich bisher unter anderem um ein Maschinengewehr, das zehnmal schneller schieße als die bisher verwendeten Typen, gleichzeitig aber wesentlich robuster und preiswerter sei; auch die Munition für dieses Schnellfeuer-MG sei billiger. Ferner sei eine Rakete konstruiert worden, die sich besonders zur Partisanenbekämpfung in Ländern der Dritten Welt eigne.“ Dann steht da: „Allen diesen und auch künftigen Waffen oder Geräten sei gemeinsam, daß sie wartungsarm seien und auch von Nichtspezialisten bedient werden könnten. Daher seien sie für Länder der Dritten Welt besonders geeignet.
Ich lese diese Nachricht zwei, drei Mal. Die Ausdrucksweise kommt mir zu brutal vor. So einfältig in ihrem Zynismus, daß ich nicht umhin kann, an die Aufzeichnungen von Rudolf Höss, dem Lagerkommandanten von Auschwitz, oder an Himmlers Rede über die Endlösung des Judenproblems zu denken. Diese „termini technici“ wie „Maschinengewehre, die zehnmal schneller schießen als bisher“ oder „gewinnträchtiger Waffenexport“ oder „die Munition ist billiger“. Eine Sprache, die schlicht und einfach heißt: 800 000 junge Tote in Verdun, 180 000 junge Tote in Stalingrad – um nur zwei Schlachten zu nennen. Stellen wir einmal in Gedanken einen toten Soldaten neben den anderen. Wieviel Kilometer Menschenware bekämen wir da zusammen? Vergleichen wir diese unendliche Reihe von Herzen, die einmal geschlagen haben, von Lippen, die einmal gesungen und gelacht haben, mit der akkuraten, technischen und realistischen Sprache der neuen Waffenfabrikanten. Wer hätte 1945 gedacht, daß 35 Jahre später die deutschen Zeitungen solche Nachrichten auf ihren ersten Seiten drucken würden, ohne die leiseste Scham zu empfinden? Doch nicht nur die Waffenhersteller sprechen so. Selbst die Regierung der Bundesrepublik drückt sich so aus. Die gleiche Zeitung schreibt am 1. Dezember 1977: „Die Bundesregierung hat in der Kabinettssitzung am Mittwoch einer staatlichen Bürgschaft für einen argentinischen U-Bootantrag zugestimmt. Regierungssprecher Grünewald sagte nach der Kabinettssitzung vor Journalisten, daß diese Entscheidung unter sehr sorgfältiger Abwägung aller Aspekte getroffen worden sei. Diese staatliche Absicherung für einen Exportkredit ist nach den Angaben von Grünewald dennoch gewährt worden, weil das Kabinett die Beschäftigung im Arbeitsamtbezirk Emden mit einer überdurchschnittlichen Arbeitslosenquote habe sichern wollen.“
Waffen gegen die Unterbeschäftigung. Wieder die Realpolitik. So beginnt es, und das Ende kennen wir ja. „Der Mensch lernt durch Katastrophen soviel wie das Versuchskaninchen über Biologie“, sagte Brecht einmal voller Verzweiflung. Die argentinische Zeitung „La Nación“ bemerkt, daß nach Carters Absage, an Argentinien Waffen zu verkaufen, leicht Abhilfe geschaffen wird, indem die Waffen in der Bundesrepublik oder in anderen Ländern gekauft werden. (...)
11. Juni 1979. Ich darf auf dem Evangelischen Kirchentag in Nürnberg sprechen. Ich tue es in der Gustav-Adolf-Kirche, vor 3000 Anwesenden. Ich sage es beinahe schreiend, wie ein Soldat, dem sie den Bauch mit dem Bajonett aufschlitzen: „Durch das evangelische Kirchenblatt erfahre ich, daß die Bundesrepublik 1978 Waffen im Werte von 2,15 Milliarden Mark in die Welt verkauft hat. 2,15 Milliarden! Und dann denken Adveniat, Misereor und andere Wohltätigkeitsgesellschaften beider Kirchen, daß mit 40 Mio. DM den lateinamerikanischen Völkern geholfen werden kann. Für diese Völker wäre es viel nützlicher, wenn die Kirchen – sowohl die katholische wie die evangelische – anstatt Almosen zu schicken dieses Geld in eine Kampagne gegen das Waffengeschäft anlegen würden oder die Arbeiter auffordern würden, sich nicht die Hände mit dem schmutzigen und mörderischen Geschäft der Waffenherstellung zu beflecken.“ Beifall inmitten einer Kirche. Man singt einen Choral. Es herrscht Ergriffenheit, man will etwas tun. Sie sind alle jung. Auch das ist Deutschland, denke ich.
 

Mit dem Geld der Arbeiter

Ich besuche Dr. Hans Lehmann, in der Nähe Frankfurts. Er emigrierte 1933 nach Argentinien und wurde Redakteur in „Das Andere Deutschland“ in Buenos Aires, die antifaschistische Zeitung, in der auch die Graphiken von Carl Meffert (Clement Moreau) erschienen; der Künstler, dessen Arbeiten über die damaligen argentinischen Arbeiter wahre kunsthistorische Kostbarkeiten sind. Dr. Lehmann erzählt mir von der Solidarität der argentinischen Gewerkschaften in den 30er Jahren mit den Flüchtlingen des Nationalsozialismus, des spanischen Falangismus, des italienischen Faschismus. Welches Gefühl der Zusammengehörigkeit, denke ich, und Entrüstung kommt in mir auf, wenn ich an die Kredite der Bank für Gemeinwirtschaft, die Bank der deutschen Gewerkschaften, an Videla denke. Doch mehr noch als die Kredite schmerzte die arrogante Antwort der Gewerkschftsbankiers auf unseren Protest, eine Diktatur zu unterstützen, die Gewerkschaften verboten, das Streikrecht aufgehoben, Arbeiterführer verhaftet und ermordet und in die Arbeiterzentrale einen Panzeroffizier als Interventor gesetzt hat. Die Antwort der deutschen Gewerkschaften – dessen Präsident Oskar Vetter ist – war folgende: „Wir sind darauf angewiesen, als Partner am internationalen Darlehensgeschäft mitzuwirken, wenn wir unsere Aufgabe in der Bundesrepublik erfüllen wollen. Darüber hinaus haben wir berücksichtigt, daß man leider in Lateinamerika nur selten Maßstäbe anwenden kann, die in westlichen Demokratien als selbstverständlich gelten.“
Mit einem Wort, das Wort Demokratie hat eine verschiedene Bedeutung, wenn es darum geht, Geschäfte zu machen. Doch wie immer fehlt in diesem deutschen Land nicht die mutige, die andere Stimme. Nicht umsonst ist Deutschland auch das Vaterland von Thomas Münzer, von Georg Büchner, von Kurt Tucholsky. Und es war Helmut Frenz, der Generalsekretär von amnesty, der den Arbeiter-Bankiers geantwortet hat: „Es muß immer wieder klar gemacht werden, daß diese Militärdiktaturen in Lateinamerika die beanspruchten Kredite nicht dazu benutzen, wirtschaftliche Strukturen im Lande zu errichten, die dem leidenden Volk zugute kommen. Das läßt sich anhand von Chile, Bolivien, Paraguay und Argentinien deutlich machen, und es gibt bereits Untersuchungen, daß die in Anspruch genommenen Kredite ausschließlich dazu benutzt wurden, die Unterdrückungsstrukturen im Lande zu erhärten, die an der Macht befindlichen Verbrecherregierungen weiterhin an der Macht zu halten, das Geld letzten Endes dazu benutzt wird, das breite Volk zu unterdrücken. Wir sollten so schnell wie möglich versuchen, über die Gewerkschaften Protest hervorzurufen und den Schritt nach Möglichkeit rückgängig zu machen. Es ist unmöglich, daß mit den Geldern der deutschen Arbeiter die Unterdrückung des argentinischen Arbeiters finanziert wird.“
Mai 1977. Ich werde zu einer Diskussionsrunde des Fernsehens, vom WDR, eingeladen. Die Aufnahme wird eine Woche vor der Sendung gemacht. Thema: Argentinien. Ein Journalist des SWF, Spezialist für Lateinamerika, besteht immer wieder auf „das verschiedene Konzept von Demokratie, das man in jenem Subkontinent im Vergleich zu Europa hat.“ Ich übergehe einmal, zweimal diese schon bekannte Rechtfertigung von Diktaturen. Dochbeim dritten Mal möchte ich es ihm doch nicht so leicht machen. Ich erinnere die Anwesenden daran, daß Argentinien seit 1810 eine Republik ist, während Deutschland bis 1919 im Absolutismus lebte, und daß damals das Dynamit und das Feuer zur Erlangung der Republik von Teilen des Volkes gelegt wurden, die die soziale Revolution ersehnten. Daß in meinem Land schon 1916 durch unangefochtene, geheime Wahlen die erste demokratische und populäre Regierung gewählt wurde. Ich erinnere an das Scheitern der Weimarer Republik und an die, die dem Ermächtigungsgesetz für Hitler zugestimmt haben. Schließlich mache ich die Anwesenden darauf aufmerksam, daß Engländer und Amerikaner mit den Spitzen ihrer Bajonette dem deutschen Volk die Demokratie brachten. Und daher sollte man in Deutschland mit mehr Bescheidenheit und tieferen Kenntnissen von der Geschichte der Völker und ihrem internen Demokratisierungszustand sprechen. Auch wenn es sich nur um Lateinamerika handelt. Und man darf auch nicht geringschätzig über die starken demokratischen Kräfte sprechen, die für den einzig wahren Begriff des Wortes Demokratie dort kämpfen. Eine Woche später, vor dem Fernseher, muß ich feststellen, daß diese meine Intervention sowie meine Bemerkung, daß das deutsche Kapital großes Interesse an der Durchführung der Fußballweltmeisterschaft habe, fein säuberlich herausgeschnitten worden war. Ich resigniere. Die einzige Genugtuung ist, in meiner Einsamkeit auszurufen: Welch originelles Konzept haben doch manchmal diese Europäer von der Demokratie!
Das war die erste direkte Erfahrung. Die zweite ist weniger raffiniert. Ich werde zum „Frühschoppen“ von Werner Höfer eingeladen. Thema: „Argentinien und die Fußballweltmeisterschaft“. Ich denke: armes Vaterland, man kennt es nur durch seine Militärs und Fußball. Im letzten Augenblick und ohne Benachrichtigung werde ich durch einen argentinischen Journalisten, einen Videla-Anhänger, ausgetauscht.
 

Verschiedene Bilder von Deutschland

Nun zu meinem Bild von Deutschland. Wenn ich an die finanzielle und politische, an die direkte und indirekte Unterstützung der deutschen Regierung an die Militärdiktatur denke, würde ich emotionell antworten: Die Bundesrepublik ist das Land, in dem nicht gestattet wird, daß eine Universität den Namen von Carl von Ossietzky trägt, aber dessen Bundespräsident einen Schreibtisch im Nationalsozialismus besaß, mit dem entpsrechenden Parteibuch, während jener eine Nummer in Bergen-Belsen trug. Es ist das Land, in dem der gleiche Präsident und der Kanzlerkandidat der größten Partei, Franz Josef Strauß, den Einzug des finstersten und niederträchtigsten aller lateinamerikanischen Diktatoren, Pinochet, begrüßt haben (noch erinnere ich mich an Ihr Lächeln und Ihre Worte, Prof. Carstens, als Ihnen in Berlin, in jenem September 1973, die durch Bomben zerschmetterte chilenische Demokratie mitgeteilt wurde).
Es ist das Land, in dem im Fernsehen und sogar in der Post meines Dorfes die Fahndungsbilder der als Linksterroristen Verdächtigten ausgehängt sind, in dem aber nirgendwo die Bilder der Nazis von Auschwitz oder Treblinka, die noch nicht gerichtet wurden, zu sehen sind. Es ist das Land, in dem 226 Familien 755 000 Hektar Land besitzen und in dem laut dem ABC des alten Reichtums „die von 300 Familien ganz oder doch maßgeblich beherrschten bundesdeutschen Industrie-, Handels- oder Dienstleistungsbetriebe –ohne Banken und Versicherungen – im Jahre 1970 Umsätze erzielten, die sich zu der stolzen Summe von 176 Milliarden Mark addierten – das ist etwa das Anderhalbfache dessen, was der Bund jährlich an Haushaltsmitteln für seine sämtlichen Ausgaben – von der Beamtenbesoldung über die Subventionierung der Landwirtschaft und die Entwicklungshilfe bis hin zur Förderung des Wohnungsbaus, zum Unterhalt und Ausbau des Straßen- und Autobahnnetzes und zu Verteidigungslasten – zur Verfügung hat.“
Das und noch mehr könnte ich sagen. Ich spräche vom Berufsverbot, von der Entmenschlichung der Gesellschaft, der Kinderfeindlichkeit, der Jugendarbeitslosigkeit, der Drogensucht, dem Alkoholismus, der Isolierung der Gastarbeiter, der ideolgischen Überwachung, der Landschaftszerstörung durch die irrationale Politik des „alles für‘s Auto“, der Verzerrung der humanistischen Ideale, die nun vereinfacht werden mit der Formel „Freiheit – Konsum“.
Das würde ich so sagen, hintereinanderweg, enttäuscht und traurig über die frustrierten Illusionen, die wir uns damals, 1945, über Deutschland gemacht hatten. Doch dann würde ich langsam hinzufügen, trotzig, wie jemand, der gegen den Sturm ankämpft: doch Deutschland ist nicht nur das. Es ist auch seine im Kampf „zur Verteidigung der Republik“ unbestechliche Intelligenz. (...)
Mein Bild von Deutschland sind auch seine Intellektuellen, die den Prager Frühling begrüßten und Schriftsteller und Künstler auf der anderen Seite der Mauer unterstützten, der einzige Sektor der kommunistischen Gesellschaft, die für die Demokratisierung des Regimes eintritt.
Und mein Bild von Deutschland sind seine Bücherläden, in denen noch beinahe alle Weltanschauungen zu finden sind; sein Film: daß noch Werke produziert werden wie „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ von Schlöndorff; oder „Die Ehe der Maria Braun“ von Fassbinder, der mit dem Bild Adolf Hitlers beginnt und schließlich, in einem ausweglosen Pessimismus, mit dem Bild Adenauers, das sich in Erhard, dann in Kurt Georg Kiesinger verwandelt und endlich Helmut Schmidts Züge annimmt, endet.
Mein Bild von Deutschland wird vervollständigt durch die Anti-Atomdemonstrationen, die Solidaritätsbewegungen gegen die Diktaturen, für politische Häftlinge auf der ganzen Welt und gegen Folter.
Im vergangenen Jahr habe ich auf 36 Veranstaltungen in der ganzen Bundesrepublik gesprochen, in großen Städten und in den letzten Dörfern, von Schwaben und Bayern bis Schleswig-Holstein. Ich habe über die Opfer des Militarismus und für die Demokratisierung meines Landes gesprochen. Auf diesen Veranstaltungen, in so verschiedenen Orten und mit so verschiedenem Publikum, habe ich ungeheure demokratische Kräfte in diesem Volk feststellen können. Menschen, die nicht einmal wußten, wo mein Land liegt, unterschrieben Bittbriefe für argentinische Gefangene; Leute, die nie ein Buch von Rodolfo Walsh oder Haroldo Conti gelesen hatten, verschickten Telegramme, die um Aufklärung ihres Schicksals baten; junge Menschen, die sich vergnügen oder sportlich betätigen können, spenden ihre Freizeit, um zu überlegen, wie sie Menschen, die sie niemals kennenlernen würden, helfen. Sie sind eine ungeheure Reserve, die sicherlich da sein wird, wenn es darum geht, die Republik zu verteidigen.
Das alles ist mein Bild von Deutschland. Und auch dies: daß ich heute hier sprechen darf, so offen, ohne Angst, über die menschlichen Themen, die uns alle angehen.
Mein letztes Bild vereinigt beide Konzepte: Die Wiedergewinnung der Republik in Argentinien, die Verteidigung der Republik in Deutschland. Republik, das schöne Wort, das der utopischen Dreieinigkeit, die einzige Dreieinigkeit, die diese bedrohte Menschheit retten kann: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Eine Utopie, die die Welt bewegt hat und die zustande kommen kann, weil sie ein Produkt des menschlichen Denkens ist; so wie Jules Vernes wissenschaftliche Phantasien Wahrheit wurden. Vielleicht entschließt sich die Menschheit erst dann, wenn sie auf den Knien liegt und wenn der Augenblick gekommen ist, das verbrauchte Wort „Profit“ mit dem Wort „Solidarität“ auszutauschen.
Jetzt, in dieser Stunde, gibt es für Deutschland nur ein Lösungswort. Max Frisch bezeichnet es so: „Demokratie bedeutet mehr Demokratie“. Und nicht mehr Sicherheit, wie Demagogen und Tyrannenlehrlinge es immer anbieten.
 

Die Zwischenüberschriften sind von der ila-Redaktion eingefügt.