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Im Knast erfuhr ich, daß ich Deutscher bin

Interview mit Carlos Flaskamp (Argentinien)

In der Latino-Szene im Köln-Bonner Raum ist Carlos Flaskamp fast so etwas wie eine Institution. Ob in der Lateinamerika- und Argentinien-Solidarität, in der Arbeit des Kölner Allerweltshauses oder in der ila-latina – überall gehört der 1939 geborene Argentinier baskisch-deutscher Abstammung zu den tragenden Säulen der Gruppen und ist wegen seiner politischen Kompetenz, seiner Verläßlichkeit und seiner Fähigkeit zum Ausgleich überall beliebt und geschätzt. Nicht so ganz verstehen können manche seiner politischen Freunde, daß Carlos seine politische Heimat nach wie vor im Peronismus sieht, jener sozialen Massenbewegung in Argentinien, die viele europäische (und argentinische) Linke wegen ihrer autoritären und nationalistischen Elemente eher kritisch betrachten. Im folgenden Interview mit Gert Eisenbürger und Gaby Küppers spricht Carlos Flaskamp unter anderem über seine Entwicklung vom revolutionären Linken zum linksperonistischen Widerstandskämpfer, seine Erfahrungen in den Knästen zweier verschiedener argentinischer Militärdiktaturen und über die sonderbare Situation, als deutscher Staatsbürger als Flüchtling in die Bundesrepublik zu kommen.

Gert Eisenbürger
Gaby Küppers

Kannst du etwas über deine Familie und deine Herkunft erzählen?

Ich bin Kind einer Einwandererfamilie. Meine Eltern sind aus zwei verschiedenen Ecken Europas nach Argentinien gekommen. Um die Jahrtausendwende verließen viele Leute Europa aus ähnlichen Gründen, wie heute Leute nach Europa kommen, nämlich um aus einer miserablen Situation herauszukommen. Aus Deutschland sind viele Leute in Richtung Nord- und Südamerika ausgewandert, u. a. die Eltern meines Vaters. Mein Vater war als junger Mann noch einmal in Deutschland. Er arbeitete ein paar Jahre dort, aber die wirtschaftliche Situation war sehr mies – es war die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg –, und er beschloß, nach Argentinien zurückzukehren, wo er endgültig blieb. Dort lernte er meine Mutter kennen, die aus dem Baskenland kam.

Hast du als Kind zu Hause auch Deutsch gelernt?

Nein, ich habe immer nur spanisch gesprochen. Der einzige in der Familie, der Deutsch konnte, war mein Vater. Aber untereinander sprachen wir nur spanisch. Mein Vater hatte immer eine gewisse Nostalgie bezüglich Deutschland, Erinnerungen. Er hat Deutschland geliebt, aber in das deutsche Milieu in Argentinien mit seinen Schulen, Vereinen usw. war er nicht integriert.

Wann hat deine Politisierung begonnen?

Nach dem Sturz Peróns im September 1955 wurde mein politisches Interesse geweckt. Nach Beendigung der Sekundarschule und einer kaufmännischen Ausbildung begann ich 1957, in Buenos Aires Wirtschaftswissenschaften zu studieren. An der Uni gab es alle möglichen Gruppierungen: Peronisten, Anti-Peronisten und auch linke Gruppen. Es war eine sehr politisierte Zeit, es gab viele Diskussionen unter den Studenten. Mich interessierten besonders die linken Gruppen. Da gab es die Kommunistische Partei und dann unabhängige Linke wie Sozialisten, Trotzkisten u.a. Ich hatte mit der unabhängigen Linken zu tun, zuerst den Trotzkisten und dann mit den sogenannten revolutionären Linken.

Es gab damals und es gibt bis heute in der argentinischen Linken zwei unterschiedliche Haltungen gegenüber dem Peronismus. Erstens eine starke antiperonistische Strömung, die vor allem von der KP – aber keineswegs nur von ihr – repräsentiert wurde. Diese Position bezog sich primär auf die internationale Situation. Vor allem im Zweiten Weltkrieg wurde der Peronismus von der KP als faschistisch charakterisiert, u.a. weil Perón im Krieg die Neutralität Argentiniens aufrechterhalten wollte, während die KP wie auch die Liberalen für den Kriegseintritt auf seiten der Alliierten waren.

Auf der anderen Seite gab es die Linken, die sich weniger auf die internationale Situation als auf die argentische Geschichte bezogen und eine grundsätzlich andere Haltung gegenüber dem Peronismus einnahmen. Sie erkannten den Peronismus als fortschrittliche Bewegung an, die für die Entwicklung des argentinischen Befreiungskampfes einen Schritt nach vorme bedeutete. Sie waren der Meinung, daß die Arbeiterklasse auf Grund ihrer Erfahrungen während der Regierung Peróns gute Gründe hatte, peronistisch zu sein. Gleichzeitig betonten sie, die Arbeiterklasse müsse über den peronistischen Gesichtspunkt hinausgehen und ein sozialistisches Bewußtsein entwicklen.

Das war die Situation, in der ich einige Jahre lang bei den Linken mitarbeitete, ungefähr bis 1967, wo sich alles veränderte.

Wielange hast du studiert?

Ich habe nur zwei Jahre studiert. Ich habe das Studium nicht abgeschlossen, weil ich parallel zu meinem Studium ganztags als Buchhalter arbeitete – meine Eltern konnten mich kaum unterstützen – und politisch stark engagiert war. Es war durchaus möglich gewesen, neben dem Studium zu arbeiten, das machten damals viele Studenten. Aber Politik, Arbeit und Studium waren zu viel für mich. Politik war inzwischen meine Leidenschaft geworden, das wollte ich nicht aufgeben, und arbeiten mußte ich. Also gab ich das Studium auf.

Du sagst, du hättest bis 1967 in verschiedenen linken Gruppen mitgemacht, und dann hätte sich alles verändert. Wurdest du dann Peronist?

Noch nicht direkt. Der Faktor, der so viele Linke am Peronismus anzog, war der Kampf der peronistischen Arbeiterbewegung. Ab 1955 gab es starken Widerstand gegen die sich abwechselnden reaktionären Militär- und Zivilregierungen. Dieser Kampf wurde vor allem von den peronistischen Gewerkschaften getragen, während die politischen Parteien – auch die peronistische politische Struktur – dabei eine nebensächliche Rolle spielten.

Lag die Anziehungskraft des Peronismus für euch als junge, politisch aktive Linke nicht vor allem darin, daß der Peronismus zu dieser Zeit die vom reaktionären Establishment – Großgrundbesitzer, Kirche, Armee – meistgehaßte politische Bewegung war?

Das machte den emotionalen Reiz aus, sicher. Das war der wirkliche Kampf in Argentinien: die Unterdrückung des Peronismus durch die Oligarchie und der Widerstand vor allem der peronistischen Arbeiter. Das war der Kampf, den wir erlebten und der uns anzog. Dafür mußten wir natürlich auch eine theoretische Erklärung finden. Wir verstanden den Peronismus als eine Volksbewegung mit allen Widersprüchen und auch reaktionären Strömungen. Wir wollten uns am Kampf der argentinischen Arbeiterklasse und des Volkes beteiligen. Wir dachten, daß der Peronismus nur eine Phase auf dem Weg der Befreiung war und wollten mit den Peronisten einen Schritt nach vorne gehen.

1966 hatte das Militär wieder einmal die Macht ergriffen. Diese Machtübernahme war etwas Neues. Denn die Militärs hatten nicht vor, die Macht nach einer kurzen Zeit wieder abzugeben wie 1955 und 1962, sondern wollten an der Macht bleiben. Sie sprachen von zehn, vielleicht zwanzig Jahren und erklärten, die argentinische Gesellschaft umstrukturieren zu wollen. Sie verboten die politischen Parteien, intervenierten in den Universitäten usw., schränkten die Tätigkeiten der Gewerkschafter stark ein. Das war eine Situation, die viele Peronisten und Linke auf den Weg des bewaffneten Kampfes brachte. Die Situation war da, wo die politischen Mittel nicht mehr ausreichend waren. Denn wir mußten jetzt gegen eine Militärdiktatur kämpfen.

Nach der Machtübernahme des Militärs 1966 bildeten sich unabhängig voneinander verschiedene Guerillagruppen. Eine allgemeine Charakteristik dieser Gruppen war, daß sie anfingen zu handeln, ohne sich politisch zu definieren und namentlich in Erscheinung zu treten. Die Strategie war, zuerst militärisch Kräfte zu sammeln, Waffen, finanzielle Mittel, Leute, und erst dann zur Phase der politischen, propagandistischen Aktionen zu kommen. Es kam zu Banküberfällen, Polizisten wurden entwaffnet, und es gab eine Menge solcher Aktivitäten, ohne daß die Militärs genau wußten, wer wo beteiligt war. Ich schloß mich einer dieser Gruppen an. Unsere Gruppe, die auch namenlos war, stand unter dem Einfluß der cubanischen Revolution und der Theorien von Regis Debray, dem Pionier des „Foco“ (die Focus-Thorie besagte, daß man für eine Revolution nicht von vornherein eine Massenbewegung brauche, sondern daß man mit kleinen, entschlossenen, bewaffneten Gruppen revolutionäre Herde schaffen müßte, von denen aus sich die revolutionäre Bewegung ausbreiten würde – G.E.). Wir waren in diesem Sinne so radikal, daß wir die politische Stellungnahme und die ideologische Identität für unnötig und sogar für kontraproduktiv hielten. Für uns war nur der bewaffnete Kampf wichtig. Wir lehnten es ab, uns als Peronisten oder Sozialisten zu bezeichnen und uns damit eine Identität zu geben, die uns von anderen bewaffneten Gruppen getrennt hätte.

Wie sah das praktisch aus? Wie kam man in so eine Gruppe von Namenlosen? Was waren das für Leute, was hattest du vorher mit denen zu tun?

Ich war in der Zeit, bevor ich mich der Gruppe anschloß, in einer linken politischen Organisation aktiv, dem „Movimiento de Izquierda Revolucionario Argentina“, der „Argentinischen revolutionären linken Bewegung“ (MIRA). In dieser Organisation kam es zu der üblichen Spaltung über das Verhältnis zum Peronismus. Ich gehörte zu denen, die zu diesem Zeitpunkt einen Übertritt zum Peronismus ablehnten. Parallel zu dieser Diskussion dachten wir mit einigen Leuten über die Aufnahme des bewaffneten Kampfes nach.

Nach der Spaltung der MIRA kam ich über andere Genossen aus der Organisation in Kontakt mit den Leuten, die den Versuch einer Guerilla in Tucumán, Taco Ralo, organisierten. Die wurden aber ziemlich schnell verhaftet, das war im Jahr ’68. Ich schloß mich einigen Leuten aus diesem Umfeld an, die schon vorher mit dem Taco-Ralo-Experiment taktisch nicht einverstanden waren, weil sie erstens in den Städten kämpfen, also eine Stadtguerilla organisieren und zweitens nicht als rein peronistische Bewegung auftreten wollten.

Am Anfang waren wir nur wenig Leute und fingen an, Waffen und finanzielle Mittel zu beschaffen. Da zu dieser Zeit aber viele linke und peronistische Aktivisten diesen Weg gehen wollten und über Leute, die sie aus früheren politischen Zusammenhängen kannten, Kontakt zu den entsprechenden Gruppen suchten, wuchs unsere Organisation ziemlich schnell, und es schlossen sich auch Gruppen in anderen Städten an.

Du sagtest, ihr hättet angefangen, Mittel zu beschaffen. Wie funktionierte das, gerade in der ersten Phase?

Wir machten Überfälle. Eine Zeitlang machten wir vorwiegend Überfälle, um Geld zu sammeln.

Was habt ihr überfallen? Banken?

Am Anfang waren wir nicht in der Lage, Banken zu überfallen, das war zu groß für uns. Wir haben zum Beispiel Postämter überfallen. Manchmal sehr erfolgreich, da fanden wir viel Geld vor, manchmal war nur wenig da. Als wir so weit waren, überfielen wir auch Banken. Und wir begannen, Polizisten zu überfallen und ihnen die Waffen wegzunehmen. Zuerst einzelne Polizisten, später auch Polizeistationen.

Als du dich dieser Gruppe angeschlossen hattest, hast du dann weiter im Büro gearbeitet und abends bewaffnete Aktionen gemacht, oder hast du clandestin, im Untergrund, gelebt?

Am Anfang habe ich tagsüber gearbeitet und mich nach Feierabend an der Organisation und den Aktionen beteiligt. 1969 mußte ich aber in den Untergrund gehen, weil einige verhaftete Genossen unter der Folter meinen Namen genannt hatten und ich mit Haftbefehl gesucht wurde.

Wart ihr zu diesem Zeitpunkt immer noch namenlos?

Zunächst ja. Ab 1969/70 traten die verschiedenen bewaffneten Gruppen mit Bezeichnungen und Erklärungen an die Öffentlichkeit. Das waren eine Organisation, die sich als marxistisch definierte, die FAL, Fuerzas Armadas de Liberación; eine guevaristische Organisation namens FAR, Fuerzas Armadas Revolucionarias; die linksperonistischen Montoneros und ungefähr gleichzeitig das ERP, Ejército Revolucionario del Pueblo, als militärisches Organ der Revolutionären Arbeiterpartei PRT.

Nach den öffentlichen politischen Erklärungen der anderen Organisationen kam es auch bei uns zu entsprechenden Debatten und bald auch zu inneren Spannungen. Als eine Vereinigung unserer Gruppe mit der marxistischen FAL von der Mehrheit gefordert wurde, führte das zur Spaltung unserer Gruppe, weil der peronistische und pro-peronistische Teil von unseren Leuten –u.a. inzwischen auch ich – diese Vereinigung ablehnten. Die FAL war stark antiperonistisch, was wir vorher weitgehend ignoriert hatten, weil wir mit allen zusammenarbeiten wollten, die den bewaffneten Kampf gegen die Diktatur führen wollten. Als die Organisationen begannen, sich explizit politisch zu definieren, bekamen die unterschiedlichen politischen Orientierungen naturgemäß eine größere Bedeutung.

Nach der Spaltung sind wir auch mit einem Namen an die Öffentlichkeit getreten: „Guerrilla del Ejército Liberador“ (Guerilla der befreienden Armee). Damit sollte der Übergangscharakter deutlich gemacht werden: die Gruppe wollte Teil einer Befreiungsarmee sein, die aus dem bewaffneten Widerstand entstehen sollte.

Wieviele Leute wart ihr ungefähr?

Schwer zu sagen. Es blieben, nachdem wir uns gespalten hatten, etwa 30 Leute in La Plata, ungefähr genausoviele in Buenos Aires und dann verschiedene kleine Gruppen in Córdoba, Mendoza und anderen Städten.

Was hieß und bedeutete für dich eigentlich Peronismus?

Es war unterschiedlich, was es für jemandenden bedeutete, Peronist zu sein. Es gab aber gemeinsame politische Ziele, die die Peronisten von den anderen Widerstandsgruppen unterschieden. Das war vor allem der Kampf für die Rückkehr Peróns, den alle Peronisten als politischen Führer anerkannten. Die peronistischen Widerstandskämpfer mußten sich daran halten, was Perón machte. Als der Peronismus begann, mit der Diktatur zu verhandeln, um eine Rückkehr zur Demokratie zu ermöglichen, akzeptierten das die peronistischen Organisationen ebenso wie die Beteiligung des Peronismus an den Wahlen, während die Nichtperonisten zuerst eine abwartende Haltung einnahmen bzw. das ablehnten als Irrweg, der uns vom revolutionären Kampf ablenken sollte.

Das ist ziemlich formal. Jetzt mal aus deiner Sicht: du warst damals ein Mann Anfang dreißig, hattest schon über zehn Jahre politische Erfahrung, känpftest mit großen persönlichen Risiken im Untergrund. Du mußtest doch mehr wollen als nur, daß ein alter Mann aus dem Exil zurückkommt?

Es ist mehr gewesen, aber dennoch war das schon viel. Wenn ich zurückblicke, muß ich sagen, daß die Rückkehr Peróns schon ein sehr wichtiges Ziel war, denn Perón war praktisch verboten, 16 Jahre lang.

Die Regierungszeit Peróns (1943-55 – G.E.) war eine sehr wichtige Erfahrung vor allem für die Arbeiterklasse und für das argentinische Volk im allgemeinen. Eine Erfahrung von sozialer Gerechtigkeit – vor allem – und einer bewußt geführten selbstständigen Außenpolitik. Es gab im Volk ein gewisses politisches Bewußtsein, das die Ausgangsbasis für jede sozialistische oder antiimperialistische Politik war. Wir stellten uns die Rückkehr Peróns als einen Schritt in Richtung Sozialismus vor, daß sie eine Volksregierung bedeuten würde, daß mit Perón, der von der Arbeiterklasse und dem Volk als politischer Führer anerkannt wurde, das Volk wirklich regieren würde und daß damit verschiedene Möglichkeiten offen wären. Wir wollten diese Entwicklung Richtung Sozialismus treiben.

Du warst ab 1969 im Untergrund. Wie kann man sich das konkret vorstellen? Wo hast du gelebt, wie sah dein Leben in dieser Zeit aus?

Unsere vorwiegende Tätigkeit bestand in der Organisation von Aktionen. Damit wir einen Überfall machen konnten, war vorher viel organisatorische Arbeit notwendig: Objekte ausfindig machen, beobachten, Kontakte mit unseren Leuten machen – oft auf der Straße oder im Café –, die Aktion detailliert planen. Wir mußten uns auch militärisch ausbilden, denn wir waren ja keine Berufsmilitärs. Abgesehen von der FAR, deren Leute teilweise in Cuba militärisch ausgebildet waren, hatten die Mitglieder der anderen Gruppen meist keinerlei militärische Erfahrung.

Wir lebten in Häusern, die wir mit gefälschten Papieren anmieteteten. Später lebte ich in einer Wohngemeinschaft, die eine legale Mitbewohnerin gemietet hatte.

Hattest du in dieser Zeit eine Beziehung?

Ja. Ich war mit einer Frau zusammen, die auch bei uns mitarbeitete. Wir entschieden uns auch dafür, Kinder zu haben. Bei meiner vorhergehenden Beziehung hatte ich mich radikal dagegen gestellt. Ich hielt das für ein Hindernis für unsere Tätigkeit und sehr gefährlich für das Kind. Inzwischen hatte ich eingesehen, daß man sich nicht mit rationellen Argumenten dagegen wehren sollte, wenn der Wunsch nach einem Kind vorhanden ist. Daher war ich einverstanden, als meine Gefährtin ein Kind haben wollte.

Habt ihr beide im Untergrund gelebt?

Sie wurde nicht polizeilich gesucht.

Du sagtest eben, es wären schon viele Leute von eurer Organisation verhaftet worden oder hochgegangen, bevor du in die Illegalität gingst. War eine mögliche Verhaftung als Thema für dich präsent, oder dachtest du eher, mir passiert das nicht, mich kriegen sie nicht?

Ich rechente damit wweil ich auch mit Leuten zusammenarbeitete, die in vorherigen Untergrunderfahrungen verhaftet und auch gefoltert worden waren. Zum Glück wurde viel darüber gesprochen. Ich meine „zum Glück“, weil das uns darauf vorbereitet hat, selbst in so eine Lage zu kommen. So weit es ging, hielt ich die Regeln der Organisation in bezug auf Klandestinität ein, so wenig wie möglich zu wissen über Namen und Adressen von den anderen. Wir machten oft Treffen, zu denen die Leute mit verbundenen Augen geführt wurden, damit niemand viel wissen konnte. Wir haben viel von den Tupamaros gelernt. Sie hatten diese Methoden am weitesten entwickelt und haben uns damals gut beraten. Ich rechnete also mit meiner Verhaftung. Und es war gut, daß ich damit rechnete.

Wie kam es dann zu deiner Verhaftung?

Das war 1971. Ich war schon zwei Jahre im Untergrund. Unsere Bewegung hatte sich kurz davor gespalten, und wir hatten gerade wieder eine Debatte über das Thema Peronismus. Inmitten dieser internen politischen Krise beschlossen wir, eine Aktion in La Plata zu machen. Es sollte eine Sparkasse überfallen werden. Ich nahm selbst nicht an der Aktion teil. Ich hatte kurz vorher meine Wohnung gewechselt, aber an dem Tag, an dem der Überfall stattfand, war ich in meiner vorherigen Wohnung – die wir aufgegeben hatten und nur noch zum Lagern von Material nutzten –, weil ich ein Papier für die politische Auseinandersetzung schreiben wollte und wir dort eine Schreibmaschine hatten.

Ich war also zum Arbeiten in der Wohnung und hatte zwischendurch ein Treffen mit einem aus La Plata. Er sollte mir sagen, wie die Aktion gelaufen war. Er sagte mir, es hätte Schwierigkeiten gegeben, es wäre zu einer Schießerei gekommen, und einer der Compañeros sei verletzt, aber er würde zu einem Arzt gebracht. Was der Verbindungsmann aus La Plata nicht wußte, war, daß der Verletzte inzwischen in der Praxis des Arztes verhaftet worden war. Wahrscheinlich hat ihn der Taxifahrer, der ihn transportiert hatte, verpfiffen. Der verletzte Compañero wurde, ohne medizinisch versorgt zu werden, zur Polizeistation gebracht und dort gefoltert. Sie wollten Namen und Adressen von anderen Compañeros wissen. Er wollte etwas aussagen, damit die Folter aufhörte, aber er wollte niemand gefährden. Er kannte die Wohnung, in der ich vorher gelebt hatte, und wußte, daß sie nicht mehr benutzt wurde. Er dachte sich, ich gebe ihnen die Adresse einer schon verlassenen Wohnung. Er konnte natürlich nicht ahnen, daß ich gerade in dieser Wohnung war, um etwas zu tippen.

Ein Polizeikommando fuhr sofort zu dem Haus und nahm mich fest. Sie brachten mich zur Polizeistation und begannen sofort, mich zu foltern. Sie haben mich vier Sitzungen lang gefoltert. Ich sagte ihnen, ich wäre nur politisch tätig, an militärischen Tätigkeiten wäre ich nicht beteiligt. Ich konnte nicht sagen, daß ich mit der Organisation nichts zu tun hätte, denn es war offensichtlich. In dem Haus, wo sie mich festnahmen, lagerten Untergrundmaterial, Handgranaten, Pläne von Objekten und eine Menge anderes Material, das mit der Untergrundarbeit zu tun hatte.

Das glaubten sie aber nicht. Ich war an ein Bett gebunden, und sie folterten mich mit Elektroschocks. Ich habe – wenn man das unter den Umständen sagen kann – Glück gehabt, denn gerade als ich bereit war aufzugeben, stellten sie die Folter ein. Während der Folter kam einer – ich konnte ihn nicht sehen, ich hatte verbundene Augen – und sagte mir, ich solle ihm nur einen Namen nennen, und sie würde mich in Ruhe lassen. Ich versuchte sie davon zu überzeugen, daß ich keine Namen und Adressen wüßte. Sie wollten das nicht glauben. Nach der dritten Sitzung war ich so kaputt und dachte, nachdem sie mich zur Zelle zurückgebracht hatten, noch einmal werde ich ihnen nicht widerstehen, etwas muß ich sagen. Ich wußte viel, das war die Sache. Ich fing an zu überlegen: Soll ich einen verraten, und wenn ja, wen? Diese Gedanken waren furchtbar. Zu entscheiden, jemanden auszuwählen, war schlimmer als alle Folter. Das hat mich so fertig gemacht, daß ich beschloß zu versuchen, nochmal zu widerstehen. Und ich hatte Glück. Sie haben mich noch einmal gefoltert und dann nicht mehr. Dann kam ein Rechtsanwalt, und sie brachten mich ins Gefängnis. Im Knast konnten sie dich verprügeln oder sowas, aber richtige Folter gab es nicht mehr. Ich war dann zwei Jahre und zwei Monate im Gefängnis, bis es mit der Diktatur zu Ende war.

Hattest du einen Prozeß, und wurdest du verurteilt?

Ich hatte zwei Prozesse, aber ich wurde in beiden Fällen freigesprochen. Ich hatte gute Rechtsanwälte, die sich aus politischer Überzeugung für uns einsetzten, und es entwickelte sich auch eine Solidaritätsbewegung, die sich um uns kümmerte. Aber ich wurde trotz der Freisprüche nicht freigelassen, denn es gibt in der argentinischen Verfassung die Regelung, daß unter Ausnahmezustand Leute durch Entscheidung der exekutiven Gewalt auch ohne Urteile aus Sicherheitsgründen festgehalten werden können. Deshalb blieben wir im Gefängnis, solange die Militärregierung an der Macht war.

Unsere Organisation hat sich über Anwälte um uns gekümmert. Informationen bekamen wir immer und auch Geld für die kleinen Dinge, die wir im Gefängnis kaufen konnten. Einige Anwälte waren bereit, Botschaften zu überbringen. Sie haben uns auch über die Auflösung der Organisation informiert. Ein Teil der Leute war zu den peronistischen Organisationen übergetreten, andere zu den Linken. Ich nahm dann schon im Gefängnis Kontakt zu den FAR auf, die inzwischen eine linksperonistische Organisation waren.

Anfang 1973 beraumte die Militärdiktatur freie Wahlen an, mit dem einzigen Vorbehalt, daß Perón nicht kandidieren durfte. Aber sonst durfte der Peronismus frei an den Wahlen teilnehmen. Inzwischen hatte sich die Situation sehr verändert, die Militärs waren schwach, sie verhandelten mit den Politikern, unsere Situation im Knast wurde durch den Einfluß dieser Entwicklung viel besser. Am Anfang war es sehr schlecht, aber am Schluß konnten wir viel Besuch bekommen, Basketball spielen, es war fast angenehm. Aus den Wahlen ging der Peronismus als klarer Sieger hervor.

Am 24. Mai 1973, dem Tag der Machtübergabe an den peronistischen Kandidaten Cámpora, hob die Militärregierung den Ausnahmezustand auf, und wir kamen frei. Ich hatte das Glück, am Tag der Machtübernahme auf der Plaza de Mayo zu sein, wo eine riesige Menschenmenge vor dem Präsidentenpalast war und wo auch Transparente der Montoneros und der FAR deutlich sichtbar waren.

Wie hast du nach deiner Entlassung aus dem Gefängnis weitergemacht?

Ich schloß mich der FAR an, die in einem Fusionsprozeß mit den Montoneros waren. Besonders beeindruckt hat mich aber die Massenbewegung, die im Entstehen war. Ich sah darin eine sehr positive Entwicklung. Im Knast hatte ich über unsere politische und militärische Tätigkeit nachgedacht und war zu der Überzeugung gekommen, daß unsere ganze Strategie falsch war, weil wir als bewaffnete Organisation keinen politischen Einfluß hatten. Wir waren letzlich nicht mehr als ein Instrument für die Kräfte, die in der Lage waren, politisch zu handeln und zu entscheiden. Perón und die peronistische Führung haben unsere Tätigkeit gut ausnutzen können. Wir waren die revolutionäre oder marxistische Gefahr. Perón hat unsere Aktivitäten immer auch unterstützt, sich aber gleichzeitig als der Politiker dargestellt, der eine schlimme Entwicklung in unsere Richtung verhindern könne. Nach dem Motto, wenn es keine peronistische Lösung gibt, kommt es zu Schlimmerem, also zum Bürgerkrieg, der vielleicht von einer bewaffneten marxistischen Partei geführt wird. Für Perón waren wir immer eine der Karten, die er spielen konnte und die er gut spielte. Die Montoneros haben diese Instrumentalisierung mehr oder weniger bewußt akzeptiert. Das ERP nicht, aber es wurde genauso von Perón benutzt.

Ich kam zu der Überzeugung, daß wir viel politischer agieren müßten und noch viel lernen mußten. Es genügte nicht, etwas über militärischen Kampf zu wissen und kluge Analysen formulieren zu können. Wir mußten lernen, mit einer konkreten politischen Situation umzugehen und vor allem auch langfristig zu denken.

Bei meiner Arbeit in der FAR stellte ich fest, daß die Diskussionen inzwischen viel politischer waren. Der bewaffnete Kampf wurde mit dem Amtsantritt Cámporas eingestellt. Es hatte eine Änderung in der strategischen Orientierung gegeben, die aber nicht vollständig war. Wir waren nicht zu einer politischen Organisation geworden, sondern waren immer noch ein militärischer Kern, der sich politisch beteiligte. Aber wir waren uns nicht einig, daß Politik das wichtigste ist. Wir nahmen in den ersten Monaten nach den Wahlen eine schnelle Entwicklung, am Anfang war alles frei, es gab Demokratie, Massendemonstrationen usw. Aber kurz danach fing die Gewalt wieder an, jetzt von seiten der Rechten. Am 25. Mai 1973 hatte Cámpora die Präsidentschaft übernommen, am 20. Juni kam Perón aus dem Exil zurück, und an diesem Tag gab es das sogenannte Massaker von Ezeiza (in Ezeiza befindet sich der internationale Flughafen von Buenos Aires – G.E.), wo wir beim Empfang von Perón versuchten, die ganze Demonstration zu beherrschen. Wir hatten eigentlich viel mehr Leute mobilisiert als die Rechten, sogar als die Gewerkschaften. Unsere Leute waren in der Mehrheit, und wir versuchten, die Demonstration durch unsere Transparente und Fahnen zu prägen und unter Kontrolle zu halten. Die Rechten verhinderten das mit Waffengewalt, sie schossen auf uns, und wir waren darauf nicht vorbereitet. Wir hatten erwartet, daß es bei dieser Demonstration zu Prügeleien käme und vielleicht einzelne Schüsse fallen könnten, das war üblich bei peronistischen Demonstrationen. Aber so eine Repression hatten wir nicht erwartet. Die bewaffneten Rechten waren u.a. auf einer Bühne, wo auch Perón reden sollte, und schossen von da aus auf die Leute, die sie als Anhänger der Linken ausmachten. Perón kam gar nicht, wegen der Schießereien landete sein Flugzeug woanders.

Bei dem Massaker starben mindestens 14 Menschen, es gab viele Verletzte. An diesem Tag begann erneut eine Entwicklung zur Gewalt. Es war eine Provoikation, und wir sind darauf eingegangen. Wir fingen an zurückzuschlagen, und es wurde immer schlimmer mit der Repression, um so mehr die Polzei auf seiten der rechten Peronisten war.

Setzte diese Repression unmittelbar nach der Rückkehr Peróns ein?

Nein. Nach der Rückkehr Peróns trat Cámpora ab, damit wieder Wahlen ausgerufen werden konnten, bei denen Perón kandidieren durfte. Wie erwartet gewann er diese Wahlen klar – mit 70 Prozent der Stimmen. Unter Perón gab es keine blutige Repression, aber seine Regierung nahm einen deutlich rechten Kurs ein. Das betraf vor allem die Personalentscheidungen, die die politische Macht betrafen, die wirtschaftlichen Maßnahmen waren gar nicht so schlecht. Aber in der Personalpolitik stützte er sich auf die Rechten und fing an, uns innerhalb der Bewegung zurückzudrängen. Die Linken hätten angeblich zu viel Einfluß bekommen auf die Jugend und bedrohten die Herrschaft der Bürokratie in den Gewerkschaften. Wir wehrten uns gegen den Regierungskurs, nahmen aber dabei eine radikale Haltung ein, die bei anderen fortschrittlich-peronistischen Strömungen kein Verständnis finden konnte. Wir waren weit davon entfernt, uns politisch gegen Perón durchsetzen zu können. Trotzdem beanspruchten wir die Führung der Bewegung. Unter der Präsidentschaft Peróns wurden wir allmählich von der Bewegung getrennt. Aber zu Lebzeiten Peróns war diese Ausgrenzung noch politisch. Als er starb und seine Frau Isabel die Regierung übernahm, kam zu der politischen Ausgrenzung auch die physische Repression seitens einer paramilitärischen Organisation namens AAA (Argentinische Antikommunistische Allianz), die eng mit der Polizei zusammenarbeitete. Organisiert wurde die AAA von López Rega, dem Wohlfahrtsminister der Regierung von Isabel Perón. Leute wurden verschleppt, ermordet. Um Angst und Schrecken zu verbreiten, wurden sie tot auf die Straße geworfen, manchmal ließ man neben den Leichen noch eine Bombe explodieren. Ungefähr 500 Leute wurden auf diese Weise umgebracht, meist Linksperonisten, aber auch andere Linke. Es ging aber vor allem gegen die linken Peronisten, es war eine Auseinandersetzung innerhalb der Bewegung. Wir sind in die Falle gegangen, weil wir als Antwort auf die Repression den bewaffneten Kampf gegen die Regierung von Isabel Perón aufnahmen.

Du hast jetzt vor allem über die politische Entwicklung gesprochen. Was hast du persönlich nach deiner Haftentlassung gemacht?

Am Anfang habe ich übergangsweise in Wohnungen von Freunden, anderen Aktivisten gelebt. Ich habe mich wieder mit meiner damaligen Lebensgefährtin zusammengetan, die zum Zeitpunkt meiner Verhaftung schwanger gewesen war. Ich war im März 1971 verhaftet worden, und im Juli wurde unsere Tochter geboren. Ich habe sie erst kennengelernt, als ich freigelassen wurde. Meine Lebensgefährtin war nach der Geburt nach Chile gegangen, in das Chile von Allende. Nach der Wende zur Demokratie in Argentinien kam sie sofort zurück, noch bevor die Militärs in Chile putschten.

Meine kleine Tochter reagierte zunächst sehr ablehnend auf mich. Sie hatte nur ihre Mutter als Bezugsperson. Und plötzlich erschien ein Typ, der zärtlich zu ihrer Mutter war. Die Kleine war sehr eifersüchtig. Sie schlug mir zum Beispiel die Tür vor der Nase zu, wenn ich kam, und solche Dinge. Aber sie war noch sehr klein, keine drei Jahre alt. In diesem Alter ändern sich Kinder schnell. Sie begann mich zu akzeptieren, und wir bauten eine gute Beziehung auf. In der kurzen Zeit, in der wir zusammenlebten – ihre Mutter und ich trennten uns nach einigen Monaten –, entwickelte ich eine tiefe Zuneigung. Wir verstanden uns immer besser, so daß ich nach der Trennung von meiner Lebensgefährtin die Beziehung zu meiner Tochter nicht verlor. Sie lebte bei ihrer Mutter, aber ich konnte sie immer besuchen bzw. sie kam zu mir.

Ich mußte nach meiner Entlassung aus dem Gefängnis nicht arbeiten gehen, um mich zu finanzieren. Als ehemaliger Gefangener wurde ich von den FAR unterstützt und widmete mich wieder völlig der Politik. Durch die Fusion von FAR und Montoneros wurde ich später Montonero. Das änderte an meiner Situation als hauptamtlicher Kader zunächst nichts. Da es aber viele Leute wie mich gab, die von der Organisation finanziert wurden, entstand ein gigantischer Apparat von Berufspolitikern, der überflüssig und vor allem sehr teuer war. Mit der Einstellung des bewaffneten Kampfes führten die Organisationen, die sich bis dahin durch Überfälle und Entführungen finanziert hatten, solche Aktionen zwar aus finanziellen Gründen weiter, mußten sie aber aus politischen Gründen drastisch einschränken. Nun fehlten ihr die Geldeinnahmen, um ihren Apparat aufrechzuerhalten. Schließlich fällte sie den vernünftigen Beschluß, daß die Kader arbeiten sollten, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Ich jobte zuerst auf dem Bau, dann bekam ich eine Stelle in einer Farbenfabrik im Süden von Groß-Buenos Aires.

Die weitere Entwicklung der Organisation gefiel mir überhaupt nicht. Ich merkte, wie stark der Militarismus bei den Montoneros noch vorherrschend war. In dem Maße, wie wir von den Rechten mit Gewalt angegriffen wurden, verstärkte sich auch die Tendenz zur Remilitarisierung unserer Tätigkeit, die schließlich zur schon erwähnten Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes führte. Ich blieb aber in der Organisation, obwohl meine Zweifel immer größer wurden.

Der Entschluß, den bewaffneten Kampf wieder aufzunehmen, bedeutete, freiwillig in den Untergrund zu gehen und politische Bereiche aufzugeben. Um aus einem politischen Apparat wieder eine Untergrundorganisation aufzubauen, mußte die Organisation verkleinert werden. Viele Militanten, die damals noch Mitglieder der Montoneros waren, wurden zu Unterstützern zurückbeordert, damit die Struktur der Organisation kleiner und sicherer wurde. Zum Beispiel wurde die peronistische Jugend, die unter den Jugendlichen in den Arbeitervierteln eine große Organisationskraft hatte, faktisch aufgelöst. Man hielt nur die Führung im Amt, damit sie politische Deklarationen veröffentlichen konnten. Aber die Gruppen der peronistischen Jugend wurden in jedem Ort der Struktur der Montoneros untergeordnet. Der Entschluß, in den Untergrund zu gehen, hatte ich noch trotz meiner Zweifel mitgetragen, aber als ich sah, was das bedeutete, wurden meine Widersprüche zu groß. Meine Kritik verstärkte sich und wurde von anderen teilweise geteilt, bis die Führung beschloß, mich aus der Organisation auszuschließen. Die Begründung war, daß bei den Montoneros in der momentanen Phase – einer Phase von Repression und Untergrundarbeit – eine solch kritische Haltung nicht zu halten wäre. In einer anderen Phase vielleicht. Aber es wurde mir zugestanden, weiterhin als Aktivist zu arbeiten, aber nicht mehr als Mitglied der Montoneros. Ich zog mich dann aus der Organisation zurück und blieb auch nicht als Aktivist dabei, weil die Meinungsverschiedenheiten dafür viel zu groß waren.

Wann war das?

Anfang 1975. Wir – d.h. meine damalige Lebensgefährtin und ich – lebten damals in Berisso, einem industriellen Vorort von La Plata. Wir merkten, daß unsere Situation dort nun sehr unsicher war. Ohne Rückhalt der Organisation, aber in Berisso als Montonero bekannt, waren wir ziemlich gefährdet – denn die Repression wurde immer härter. Wegen der Sicherheitsprobleme – meine Lebensgefährtin war schwanger – entschlossen wir uns, die Region La Plata zu verlassen. Mein Vater lebte damals in Córdoba und bot uns an, zu ihm zu ziehen. Wir nahmen das Angebot an und gingen Anfang 1975 nach Córdoba, wo wir keine politischen Kontakte hatten. Das haben wir auch bewußt so gemacht, denn ich wollte politisch eine Pause machen, um mich zu orientieren und mal zu gucken, was ich weiter machen konnte.

Ich arbeitete bei einem kleinen Unternehmen, das Ölfilter für Autos verkaufte. Dort kam ich über einen Arbeitskollegen wieder in Kontakt mit den Montoneros. Wir hatten einige Diskussionen bei uns zu Hause, und ich merkte, daß die Meinungsunterschiede noch größer als früher waren. Die Montoneros waren noch militaristischer geworden, während ich darin noch weniger Perspektiven sah und mehr nach politischen Wegen suchte. Schließlich sagte ich ihnen, daß ich mit ihnen nicht wieder arbeiten wollte.

Eines Tages standen die Leute, mit denen ich da diskutiert hatte, als Flüchtlinge vor unserer Tür. Das war nach dem Putsch. Sie wurden von den Militärs gesucht und konnten sich nirgendwo mehr aufhalten. Wir gewährten ihnen Unterschlupf.

Du wurdest im Dezember 1976 zum zweiten Mal verhaftet. Wie kam es dazu?

Einer derjenigen, die bei uns untergekommen waren, wurde festgenommen. Unter der Fiolter sagte er auch aus, wo er sich versteckt hatte.

Die Militärs folterten die Leute viel intelligenter als die Polizisten von 1971 und viel grausamer. Es ist ein Unterschied, ob sie dich bei einem Elektroschock einfach mit den Elektroden berühren, oder ob sie sie einige Sekunden stehen lassen. Die Empfindung ist viel schlimmer. Auch die Stromstärke war höher. Als erstes sagten die Militärs dir: „Du bist entführt, du bist verschleppt. Hier gibt es keine Rechtsanwälte, Familienangehörige, es wird sie auch nicht geben. Wir können dich foltern, bis du tot bist.“ Und sie zeigten auch die Folterinstrumente.

Auch sie wollten natürlich vor allem Namen und Adressen wissen. Zum Glück kannte ich keine, denn die Leute, die sich bei mir zu Hause versteckt hatten, hatten keinen Grund, mir Informationen zu geben, wozu auch. Ich wußte weder ihre richtigen Namen noch ihre Adressen, ich kannte nur ihre Decknamen.

Ich kann nicht sagen, ob ich unter diesen Umständen nicht doch etwas gesagt hätte, wenn ich etwas gewußt hätte. Auf jeden Fall muß ich Verständnis haben für die Leute, die etwas aussagten. Es ist natürlich ein Unterschied, ob es jemand unter der Folter nicht aushält und etwas sagt, damit die Folter eingestellt wird, oder ob jemand redet und redet und zum Kollaborateur wird. Viele sind diesen Weg gegangen, nicht nur etwas zu sagen, sondern mit den Militärs zu arbeiten.

Ich habe beide Arten von Leuten kennengelernt. Einige, die etwas gesagt hatten und sich schuldig fühlten deswegen, aber weiterhin Widerstand leisteten als politische Gefangene. Und andere, die übergelaufen waren und mich überzeugen wollten, daß das richtig wäre, daß die Militärs recht hätten, weil eigentlich die Juden hinter den bewaffneten Organisationen stünden und solche Geschichten. Die Militärs haben Folter und politische Überzeugungsarbeit gemischt. So haben sie einige Leute für sich gewonnen und ihnen den politischen Vorwand zum Verrat geliefert.

Mich folterten die Militärs, bis sie feststellten, daß ich wirklich nichts wußte. das wußten sie im Prinzip schon vorher. Ich stellte fest, daß der Gefangene, von dem die Militärs meinen Namen hatten, offensichtlich alles über mich erzählt hatte, auch daß ich mich wegen großer politischer Unterschiede von den Montoneros getrennt und den Flüchtlingen nur Unterschlupf gewährt hätte. Das wußten sie alles. Sie wollten nur sichergehen und deshalb folterten sie mich.

Die Militärs in Córdoba – in anderen Städten war das anders – waren in ihrer Brutalität sehr selektiv. Sie brachten nicht alle „Verschwundenen“ um, die sie in ihrer Gewalt hatten. Sie ermordeten gezielt die Mitglieder der Montoneros und der ERP, auch einige politische und gewerkschaftliche Aktivisten. Dagegen unterstellten sie Leute wie mich, die sie für weniger gefährlich einstuften, als politische Gefangene wieder dem legalen Apparat, wir wurden legale politische Gefangene, legal in Anführungszeichen, denn legal war nichts unter der Militärdiktatur, aber wir waren anerkannt als politische Gefangene und waren nicht mehr verschwunden.

Wurdest du vor Gericht gestellt und verurteilt?

Dieses Mal nicht. Ich wurde vier Tage in diesem Verhörzentrum namens „La Perla“ festgehalten. Dann wurde ich zehn Tage in ein illegales Zentrum gebracht („La Ribera“), wo nicht mehr gefoltert wurde. Eine Übergangsstation, denn ich hatte Wunden. Elektroschocks hinterlassen nach einigen Tagen keine Spuren mehr. Aber ich war gefesselt, und ich bewegte mich so sehr unter den Elektroschocks, daß ich blutete. Als ich einigermaßen geheilt war, wurde ich in das Gefängnis von Córdoba verlegt. Dort herrschte eine Atmosphäre des Terrors, wirklich des Terrors. Bis kurz vor meiner Einlieferung waren die Militärs immer wieder in das Gefängnis eingedrungen, hatten die politischen Gefangenen verprügelt und gezwungen, militärische Übungen zu machen. Sie machten das nur, um die Gefangenen zu terrorisieren. Wer diese Übungen angeblich nicht richtig machte, den brachten sie um. Wenigstens einen Häftling erschossen sie, einen anderen fesselten sie im Hof an Füßen und Händen und ließen ihn dort einfach liegen, bis er tot war. Sie transportierten auch Leute aus dem Gefängnis ab unter dem Vorwand, sie in ein anderes Gefängnis zu bringen, und töteten sie dann unterwegs. Die Gefangenen waren unter diesem Eindruck voller Angst, weil sie nicht wußten, ob die Militärs wiederkommen würden. Zum Glück waren sie kurz vor meiner Einlieferung tatsächlich das letzte Mal eingedrungen.

Zuerst brachten sie mich zusammen mit anderen, die auch an diesem Tag verlegt wurden, in einen Pavillon. Wir waren dort ungefähr 70 Leute. Innerhalb des Pavillons gab es verschiedene Zellen, aber sie hatten keine Türen, man konnte innerhalb des Pavillons rein- und rausgehen, wie man wollte, zur Toilette gehen, andere Gefangene treffen. In diesem Sinne war es offen, aber wir durften da keinen Besuch bekommen, nicht einmal Briefe. Bücher, Papier und Bleistifte durften wir auch nicht haben, Rauchen war verboten, sogar Spiele wie Schach oder Dame waren nicht erlaubt. Außer Körperpflegemitteln wie Seife oder Shampoo durften wir nichts von unseren Familienangehörigen bekommen.

Wir mußten Phantasie entwickeln, um uns die Zeit zu verteiben. Reden war auch gefährlich, weil es Spitzel gab. Wir begannen, Tätigkeiten zu entwicklen, um die Langeweile zu überwinden und uns weiterzubilden. Wir organisierten Kurse, einer unterrichtete Englisch, ein anderer Französisch. Einer war Architekt und hielt uns Vorträge über Architektur, andere erzählten aus dem Kopf Geschichten aus der Bibel.

Ich war ungefähr einen Monat in diesem Pavillon und wurde dann in einen anderen mit ähnlichen Bedingungen verlegt, nur waren wir dort den ganzen Tag zu acht in Viererzellen eingeschlossen, ohne Hofgang. Es gab keine Toilette in der verschlossenen Zelle, nur eine im Pavillon. Wir mußten einen alten Eimer benutzen, um unsere Notdurft zu verrichten. Zwei Gefangene waren dafür bestimmt, die Eimer zu leeren. Dusche hatten wir auch nicht. Wir mußten es den ganzen Tag miteinander aushalten, wenn zwei schlecht miteinander konnten, hatten sie Pech.

Was ging im Gefängnis in dir vor? Du hattest große Widersprüche zur Politik der Montoneros, hattest dich zurückgezogen, und nun warst du wegen der Unterstützung von Leuten aus dieser Organisation im Knast und wußtest nicht, ob du da jemals wieder rauskommen würdest.

Ich dachte nicht, ich komme da nie wieder raus. In dem Sinne war ich immer Optimist. Allerdings fürchtete ich, daß es lange dauern könnte.

Wenn ich mich schlecht fühlte, deprimiert war, bereute ich bisweilen, den Montoneros geholfen zu haben. Aber sobald ich in einer besseren Stimmung war und vernünftig nachdenken konnte, bereute ich es nicht mehr. Bei einem Verhör hatte mir der Verhörer gesagt, mein Gegensatz zu den Montoneros sei eine Nebensache, während mein Gegensatz zu ihnen, den Militärs, die Hauptsache sei. Und was er sagte, war richtig. Es war ein Kampf und bei all meinen Widersprüchen zu den Montoneros standen wir der Diktatur gegenüber auf der gleichen Seite.

Wie lange warst du im Gefängnis von Córdoba?

Drei Monate. Danach wurden wir verlegt. Dieser Transport war ein Horror. Wir wurden ständig verprügelt. Im Flugzeug wurden wir mit Ketten festgebunden, aber die Ketten waren zu kurz, wir konnten uns kaum bewegen, unsere Glieder taten furchtbar weh, einige Leute heulten, es war wirklich schrecklich. Wir wurden nach La Plata gebracht, in das Gefängnis, das ich von meiner ersten Haftzeit schon kannte.

Waren die Haftbedingungen in La Plata besser als in Córdoba?

Anders. Wir konnten einmal in der Woche Besuch von Familienangehörigen kriegen, durften Briefe erhalten und auch einige Einkäufe machen in einem Gefängnisladen, der eine begrenzte Auswahl von Lebensmitteln führte. Auch ein Kerosinkocher in der Zelle war erlaubt, sofern wir ihn kaufen konnten. Aber anders als in Córdoba, wo wir wenigstens in der Zelle in Ruhe gelassen wurden, war in La Plata alles reglementiert, wann wir aufstehen mußten, wann wir zum Hofgang mußten, wann zurück. Beim geringsten Anlaß – oft von den Wärtern selbst provoziert oder gar erfunden – wurden wir zur Strafzelle gebracht und verprügelt. Zuerst verprügelten sie dich und dann ließen sie dich zehn oder fünfzehn Tage liegen, und du hörtest immer die anderen schreien, die verprügelt wurden.

In La Plata blieb ich fast die ganze restliche Zeit, ungefähr zwei Jahre. Zwischendurch brachten sie mich für drei Monate zuerst nach Resistencia im Norden, dann nach Sierra Chica im Süden und von Sierra Chica wieder zurück nach La Plata. Dann wurde mein Antrag auf Optionsrecht bewilligt und ich konnte das Land verlassen?

Was bedeutet „Optionsrecht“?

Wie ich schon erzählte, erlaubt die argentinische Verfassung unter Ausnahmezustand, einen Bürger „aus Sicherheitsgründen“ ohne Anklage und Prozeß zu verhaften und festzuhalten. Aber dieser Bürger darf auch wählen – das ist das Optionsrecht –, ins Ausland, ins Exil zu gehen. Allerdings haben die Militärs dieses Optionsrecht insofern geändert, daß man den Antrag stellen durfte, über Bewilligung oder Ablehnung aber die Regierung entschied. Ich habe den Antrag dreimal gestellt. Wenn du einen Antrag stelltest, hatte die Regierung drei Monate Zeit, ihn zu beantworten. Gab sie eine negative Antwort, mußtest du sechs Monate warten, ehe du einen neuen Antrag stellen durftest. Mein dritter Antrag wurde schließlich bewilligt.

Im Zusammenhang mit meinem Antrag auf Optionsrecht erfuhr ich, daß ich Deutscher bin. Ich hatte in meinem ganzen Leben nie daran gedacht. Meine Schwester kam auf die Idee – ohne daß ich es wußte –, beim deutschen Konsulat in Córdoba einen Paß für mich zu beantragen. Da mein Vater als deutscher Staatsbürger beim Konsulat eingetragen war, wurde der Antrag auf den Paß bewilligt. Das war gut. Denn Gefangene, die einen Antrag auf Optionsrecht stellten, mußten schon bei der Antragstellung das Visum eines Aufnahmelandes vorlegen, sonst wurde der Antrag gar nicht bearbeitet.

Im August 1979 konnte ich schließlich mit meiner Familie ausreisen. Ich hatte inzwischen noch zwei Söhne. Mein zweiter Sohn wurde wenige Tage nach meiner Verhaftung im Dezember 1976 geboren, das heißt, ich machte zum zweiten Mal die Erfahrung, daß mein Kind geboren wurde, als ich im Knast saß.

Wie war das, als du als deutscher Flüchtling in die Bundesrepublik kamst?

Wir kamen zunächst wie die anderen Flüchtlinge in ein Lager nach Unna-Massen und wurden dann – ziemlich willkürlich – aufgeteilt. Wir kamen nach Leverkusen. Mit der Aufenthaltserlaubnis hatte ich als Deutscher kein Problem. Nur meine Lebensgefährtin – wir waren nicht verheiratet – mußte eine Aufenthaltserlaubnis beantragen und sie später immer wieder verlängern. In Leverkusen wurden wir in einem Haus untergebracht, wo nur Flüchtlinge waren. Eines Tages kam ein sozialdemokratischer Politiker mit seiner Sekretärin – die Sekretärin trug einen Blumenstrauß – und sagte uns, sie hätten erfahren, daß zehn Familien von argentinischen Flüchtlingen Leverkusen zugeteilt worden seien und daß sie uns unterstützen wollten. Damals war es noch nicht so schlimm mit dem Rassismus und der Arbeitslosigkeit. Es war noch relativ populär für einen Politiker, sich für Flüchtlinge einzusetzen. Ich weiß nicht, ob er heute noch das Gleiche tun würde. Aber immerhin vermittelten sie uns damals eine Arbeitsstelle und später bekamen wir auch eine Wohnung.

Hast du dich hier in Deutschland schnell in der Solidaritätsbewegung integriert und Kontakt mit anderen Argentiniern aufgenommen?

Ja, obwohl ich am Anfang etwas zögerte, und zwar wegen meiner politischen Meinungsverschiedenheiten. Ich stand den Montoneros sehr kritisch gegenüber. Ebenso dem ERP. Was ich bei beiden haßte, war diese Arroganz, sich auch nach all den Niederlagen als Avantgarde darzustellen. Ich wußte, daß die meisten argentinischen Flüchtlinge zu diesen Organisationen gehörten. Es hatte sich eine Organisation von argentinischen Flüchtlingen gebildet, die CAPA (Coordinadora de Asilados Políticos Argentinos), zu der aber nur ehemalige Gefangene gehören durften. Das war etwas, was mir schon nicht gefiel, denn es gab auch andere Argentinier im Exil, die etwas tun wollten. Die CAPA wurde vorwiegend von den Montoneros geführt, aber dann kam es zu einer Spaltung bei den Montoneros, und die meisten der Flüchtlinge schlossen sich den Dissidenten an. Dadurch wurde die Atmosphäre viel besser, und wir beteiligten uns stärker an der Arbeit. Nach dem Malwinenkrieg gab es ein Treffen in Frankfurt, auf dem eine breite Organisation gebildet wurde, an der Leute aus den verschiedensten Richtungen beteiligt waren.

Nur Argentinier?

Ja. Aber wir arbeiteten eng mit Deutschen zusammen. Damals war vor allem die Kinderhilfe Lateinamerika in Köln sehr aktiv. Sie koordinierte die verschiedenen Gruppen in der Bundesrepublik, die Solidaritätsarbeit für Argentinien leisteten. Es gab auch regelmäßig Koordinationstreffen, wo sich Deutsche und Argentinier trafen, um die Soliarbeit zu planen.

Du hast irgendwann begonnen, neben der Arbeit zu Argentinien auch an anderen Punkten aktiv zu werden, dich z. B. allgemeiner in einer Solidaritätsarbeit für den Süden zu engagieren, Anti-Rassismus-Arbeit beim Allerweltshaus in Köln zu machen, hast die ila-latina mitgegründet. Bedeutete diese Erweiterung deines Engagements ein Stück Integration in diese Gesellschaft in dem Sinne, daß du diese Gesellschaft als politisches Betätigungsfeld ansiehst?

In dieser Beziehung, ja. Argentinien interessiert mich immer, weil ich Argentinier bin und auch, weil ich irgendwann zurückkehren möchte. Aber mich interessiert auch die Gesellschaft, in der ich lebe, und mich interessieren besonders die Dritte Welt und Lateinamerika. Ich möchte meine politische Arbeit hier nicht auf Argentinien beschränken, denn das wäre so, als ob ich nicht voll hier leben würde, als ob ich mit dem Kopf woanders wäre. Aber ich bin hier. Ich denke, ich kann diese Gesellschaft nicht ignorieren, und ich fühle mich wohl, wenn ich hier etwas mache, auch wenn meine Arbeit nicht unbedingt auf die deutschen Verhältnisse, sondern auf die Dritte Welt und die Situation hier lebender Ausländer bezogen ist. Ich habe auch viel zu lernen. Ich habe hier sehr viel mit Afrikanern, Arabern und anderen Europäern zu tun. Das sind Erfahrungen, die ich in Argentinien nie hätte machen können, weil wir nicht mehr so viele Ausländer haben, wie wir einmal gehabt haben bzw. unsere Ausländer inzwischen zu Argentiniern geworden sind.

Ich habe mich immer darüber gewundert, daß du nach deiner Ausreise nie wieder in Argentinien warst. Erst nach 15 Jahren warst du letztes Jahr dort. Warum bist du so lange nicht gefahren?

Ich weiß das auch nicht so genau. Ich bin immer etwas einseitig gewesen in folgendem Sinne: Wenn ich in einem bestimmten Ort oder unter bestimmten Verhältnissen lebe, konzentriere ich mich darauf. Ich habe nie vergessen, daß ich Argentinier bin. Ich habe auch nie daran gedacht, meine Identität zu ändern. Ich wollte immer nach Argentinien zurückkehren, um dort zu bleiben. Aber ich hatte keine große Lust, für einen Monat nach Argentinien zu gehen. Ich dachte mir, ich werde mich beschissen fühlen, wenn ich als Tourist in meinem eigenen Land bin und sehe, wie schlecht alles geht, und mich dann verabschiede und nach Europa zurückfahre. Irgendwann hatte ich aber doch Heimweh und fuhr hin. Als ich dann im März 1994 für einen Monat dort war, habe ich mich so wohlgefühlt, daß ich beschloss, sobald wie möglich zurückzukommen und in Argentinien zu bleiben. Ich habe mich dort zu Hause gefühlt. Ich hatte das Gefühl, ich hätte Buenos Aires und Córdoba eine Woche zuvor verlassen. Ich glaube auch, daß sich die Mentalität der Leute sich nicht so sehr verändert hat, wie einige erzählen. Zum Beispiel ist viel die Rede davon, daß im Volk Resignation herrsche, daß es keine Linke mehr gebe, auch keine kritischen Entwicklungen. Ich bin überzeugt, daß das nicht stimmt. Nur hat sich die Bewegung verschoben. Es gibt kein Vertrauen mehr zu politischen Organisationen. Aber es gibt viele Bewegungen an anderen Punkten. Zum Beispiel gibt es überall in den Vierteln kleine alternative Rundfunkstationen, Stadtteilzeitungen werden verteilt. Es gibt viele Leute, die etwas tun, nur tun sie das nicht mehr bei politischen Parteien. Sie trauen den Parteien nicht mehr und haben dafür gute Gründe, denn die Parteien und unsere Organisationen haben die Leute manipuliert, behauptet, sie würden die Interessen der Leute vertreten, obwohl sie das gar nicht taten. Klar, wenn man als Linke immer noch im alten Stil weitermacht und seine politische Tätigkeit nicht ändern will, findet man jetzt keine Leute mehr, die einem zuhören. Aber es gibt Leute, die aktiv sein wollen. Ich würde mich gerne an diesen neuen Entwicklungen beteiligen.

Hat es für dich irgendeine Bedeutung, daß du Deutscher bist, außer daß du dadurch aus dem Knast kamst?

Ich muß sagen, ich habe mir am Anfang einige Illusionen gemacht. Als ich herkam, war ich sehr froh, einfach weil ich aus dem Knast kam. Dieses Glücksgefühl bei meiner Ankunft hat mich im ersten Aufenthaltsjahr auch dazu geführt, mich als halbdeutsch zu fühlen. Aber das war trügerisch, glaube ich, weil ich in einem ganz anderen Land aufgewachsen bin und hier nicht für einen Deutschen gehalten werde. Ich kann einen deutschen Reisepaß haben, aber sobald ich den Mund aufmache, merken alle, daß ich Ausländer bin. Manchmal ist es mir auch passiert, daß ich nur „Guten Tag" sagte und die Leute mich dann fragten, woher ich käme. Ich werde nicht als Deutscher angesehen, und ich glaube, das ist auch richtig. Das ist nur falsch in dem Maße, in dem man fremdenfeindlich ist, also jemanden nicht als Deutschen anzuerkennen auch bedeutet, ihn auszugrenzen. Aber daß ich kein Deutscher bin, das ist richtig. Denn man ist durch das Land geprägt. in dem man aufwächst. Ich habe eine andere Art als die Deutschen und gehöre zu einer anderen Kultur. Das sagt nichts gegen multikulturelles Zusammenleben, das ist bereichernd, und es ist auch möglich. Aber wenn man zugibt, daß es gewisse kulturelle Identitäten und Unterschiede gibt, dann gehöre ich zu jenen und nicht zu diesen.

Das Gespräch führten Gert Eisenbürger und Gaby Küppers im März 1995 in Bonn.