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Als Monseñor Romero starb, weinten wir alle...

Erinnerungen und Reflexionen

Als Erzbischof Romero ermordet wurde, lebte der Autor des folgenden Beitrags im cubanischen Exil. Trotz der geographischen Entfernung war er den Ereignissen in El Salvador vollkommen nah, war doch sein Vater, der Schriftsteller und Revolutionär Roque Dalton, fünf Jahre zuvor ebenfalls ermordet worden – in diesem Fall allerdings von seinen eigenen Leuten in einer der fünf Guerillaorganisationen, die die Ermordung Romeros zwang, sich endlich zusammenzuschließen.

Juan José Dalton

Die ila hat mich um einen Beitrag über Monseñor Oscar Arnulfo Romero gebeten, den vor 20 Jahren ermordeten salvadorianischen Erzbischof, dessen Seligsprechung durch die katholische Kirche sich auf einem langen und steinigen Weg befindet. Ich habe sofort zugesagt, weil das mein Beruf ist. Aber jetzt, wo ich vor dem Computer sitze, merke ich, dass es mir schwerfällt, eine Hommage zu schreiben auf jenen Mann, den ich für den größten geistigen Führer halte, den das salvadorianische Volk gehabt hat.
Wie bei allen anderen Themen auch, sind wir SalvadorianerInnen beim Thema Romero geteilter Meinung. Während er für die einen längst ein Heiliger ist, auch ohne den Segen der katholischen Kirche, finden die anderen, dass seine Seligsprechung ein Sakrileg wäre.
Ich möchte ein paar meiner Gedanken mitteilen, weil ich finde, dass eines der traurigsten Kapitel in der Geschichte El Salvadors und der Menschheit nicht vergessen werden soll. Dies um so weniger, als die Winde aus dem Norden, aus dem Süden, aus dem Osten und Westen, von oben und unten uns unablässig die Botschaft zutragen, dass der Markt der richtige Ort ist für unsere Gefühle, für die Kultur und für die Geschichte.
Die ersten Nachrichten von Monseñor Romero bekam ich Ende der 70er Jahre. Die politische Repression und der revolutionäre Aufschwung hatten unerwartete Ausmaße angenommen und der Erzbischof klagte die Mißbräuche beider Seiten an. Ich arbeitete damals im El Salvador-Solidaritätskomitee, das in Havanna entstanden war, um in den sozialistischen Ländern Osteuropas und bei den „Blockfreien” in Afrika und Asien Unterstützung für die Guerilla zu suchen. Sonntags ging ich immer in die Zeitungs- und Radioredaktionen, vor allem zu Radio Reloj und Radio Ciudad, um die Agenturmeldungen über die stets beeindruckenden und dichten Sonntagspredigten zu sammeln, die der Erzbischof in der damals noch baufälligen Kathedrale von San Salvador hielt. Wir stellten diese Agenturberichte zu einem Bulletin zusammen, das wir dann an die Botschaften und internationalen Einrichtungen verteilten.
Im März 1980 war der Gründer der salvadorianischen Guerilla, Salvador Cayetano Carpio, der unter dem Kriegsnamen „Comandante Marcial” bekannt war, in Havanna. Klandestin zwar, aber er kam oft in unser Haus. „Marcial” berichtete uns über die Fortschritte im Kampf und über sein hartes konspiratives Leben an der Spitze der „Volksbefreiungskräfte” (Fuerzas Populares de Liberación, FPL), der wichtigsten Rebellenorganisation, die El Salvador je gehabt hat.
Ich erinnere mich nicht mehr genau an die Umstände, aber „Marcial” war bei uns zu Hause, als wir die telefonische Nachricht erhielten, dass Monseñor Romero ermordet worden war. Wir blieben stumm, wussten nicht, was wir tun, was wir sagen sollten. Ich sah „Marcial” an und sah unter seinen dicken Brillengläsern zwei feine Tränenspuren seine Wangen herab laufen. Er blieb absolut stumm. Wer weiß, was er in diesem Augenblick wirklich dachte und welche Entscheidungen der klein gewachsene Mann traf, der langsam und fast ausdruckslos sprach, dieser Alte, der mit kühlem Kopf ganz bestimmte Entscheidungen treffen musste.
Sicher ist jedenfalls, daß die Ermordung von Monseñor Romero am 24. März 1980 den allgemeinen Krieg in El Salvador auslöste. Den Aufständischen (fünf bewaffnete linke Organisationen) blieb nichts anderes übrig, als sich – inmitten von sinnlosen Rivalitäten und ideologischen Kämpfen – zu vereinigen, um der Armee entgegenzutreten, die Tag für Tag mitten in San Salvador Demonstrationen niederkartätschte.
Die lokale Rechte demonstrierte mit der Ermordung Romeros, dass sie zu allem bereit war, um in El Salvador eine neue lateinamerikanische Revolution zu verhindern. Nach diesem Mord hatten wir alle unser Leben auf Erden nur noch geliehen. Wie die 12 Jahre Krieg es dann auch gezeigt haben: Jeder und jede in diesem kleinen Land konnte ins Visier eines Gewehres geraten.
Thomas Becket, Engländer, und Oscar Romero, Salvadorianer, waren die einzigen beiden Erzbischöfe, die nach der Chronik der katholischen Kirche ermordet wurden. Becket starb am 29. Dezember 1170. Vier von dem englischen König Heinrich II.  gedungene Mörder stachen ihn vor dem Altar in seiner Kirche in Canterbury nieder. Romero fiel 810 Jahre später, von der Kugel eines Scharfschützen mitten ins Herz getroffen, als er in der Kapelle des Krankenhauses Divina Providencia eine Messe für eine Verstorbene hielt.
Die Gemeinsamkeiten zwischen diesen beiden großen Gestalten der Menschheit sind gewaltig. Beide waren geistige Führer, charismatisch und von ihren Völkern geliebt; beide waren mutig, intelligent und der Kirche treu ergeben, wenn es darum ging, deren christliche Ideale und Prinzipien der Gerechtigkeit gegen die Macht der Könige oder der Diktaturen zu verteidigen.
Folgenden Satz aus dem Todesurteil Heinrichs II. gegen Thomas Becket hat uns die Geschichte überliefert: „Es wird in meinem Reich keinen Frieden mehr geben können, solange Becket lebt. Ist es möglich, dass es niemanden gibt, der diesen Kirchenmann zum Schweigen bringen kann, der mir das Leben unmöglich machen will?”
In El Salvador hat es die weiterhin herrschende Straflosigkeit bisher verhindert, dass alle Details der Verschwörung ans Licht kommen, die zu Romeros Tod führten. Aber vielleicht haben einige kreolische Heinriche ähnliche Seufzer von sich gegeben, auf dass die Mörder im März 1980 zur Tat schreiten mochten.
Die Nachricht vom Tod des Erzbischofs ging in beiden Fällen um die Welt und rief Schmerz, Entsetzen und Unsicherheit hervor. Wer kann seines Lebens noch sicher sein, wenn sie schon Erzbischöfe umbringen? Auch wenn die Zeit vergeht, bleiben diese Verbrechen Aufrufe an das individuelle und kollektive Gewissen, so etwas nicht zuzulassen.
„Ich bitte Gott, mir zu helfen, stark genug zu sein, denn ich fürchte die Schwäche des Fleisches. In schwierigen Augenblicken haben wir alle Angst, der Überlebensinstinkt ist sehr stark und deshalb bitte ich um Hilfe. Hilfe nicht nur für mich, sondern für uns alle, die wir in dieser Pastoralarbeit stecken. Mögen wir auf unseren Posten bleiben, weil wir viel zu tun haben, und sei es nur, Leichen einzusammeln und den tödlich Getroffenen die Absolution zu erteilen...”, sagte Erzbischof Romero in einem seiner Interviews für ausländische Presseagenturen. Vielleicht ahnte er, was noch kommen würde: der Krieg, der in zwölf Jahren 75 000 Tote hinterlassen hat.
Wenn ich die Ereignisse um das Verbrechen an Romero noch einmal Revue passieren lasse, stosse ich auf Passagen seiner Predigt vom Sonntag, den 24. Februar, einen Monat vor seiner Ermordung. Er kommentierte den Brief, den er an Präsident Jimmy Carter geschrieben und in dem er um die Einstellung der Militärhilfe der Vereinigten Staaten an die salvadorianischen Streitkräfte gebeten hatte. In seiner Predigt am 16. März kam er noch einmal auf dieses Thema zurück. Es war nicht irgendein Thema. Vielmehr ging es um nichts weniger, als dass die oberste Autorität der katholischen Kirche El Salvadors die Regierung in Washington aufforderte, den Nachschub für die staatlichen Repressionsstrukturen in seinem Land abzubrechen. Den Aufruf aber, den Romero in seiner letzten Sonntagspredigt am 23. März 1980 an die Soldaten richtete, konnte die salvadorianische extreme Rechte vollends nicht ertragen: „Im Namen Gottes und im Namen dieses leidenden Volkes, dessen Klagen jeden Tag lauter zum Himmel aufsteigen, flehe ich euch an, bitte ich euch, befehle ich euch: Im Namen Gottes, hört mit der Repression auf!”
Am folgenden Tag, einem Montag, um 18.25 Uhr hielt Monseñor Romero in der Kapelle des Krankenhauses Divina Providencia eine Messe, als ein Unbekannter anlegte. Ein einziger Schuss reichte aus, um sein Herz zu zerfetzen, genau im Augenblick der Wandlung... Er war noch nicht 63 Jahre alt. Er wurde am 17. August 1917 in Ciudad Barrios geboren; seine Eltern hießen Santos und Guadalupe.
„Meine Großmutter, meine Mutter, meine Geschwister, die Conchita und ich gingen zu der religiösen Kundgebung, welche die Kirche zur Beerdigung von Monseñor Romero organisierte. Mein Vater ging zu der Kundgebung, die die Demokratische Front (Frente Democrático Revolucionario, FDR) und die Massenkoordination (Coordinadora Revolucionaria de Masas, CRM) parallel dazu organisierten. Es war alles sehr feierlich. Plötzlich fing mein Bruder an, nervös zu werden, weil er Soldaten in den Straßen gesehen hatte. Niemand hörte auf ihn, weil er ängstlich war. Aber plötzlich schrie eine Frau: Auf dem Dach des Palastes sind Soldaten (der Nationalpalast liegt gegenüber der Kathedrale). Dann ging alles sehr schnell. Ein Schuß pfiff durch die Luft und ein junger Mann, der auf einen Laternenpfahl gestiegen war, fiel tot herab, beinahe auf uns drauf. Die Leute rannten auseinander und von allen Seiten fingen sie an zu schießen. Ich blieb zum Glück mit Marú zusammen, aber meine Mutter, meine Großmutter, mein Bruder und die Conchita gingen uns in dem Durcheinander von Schreien und Schüssen verloren“, erzählt Lina Pohl, eine Augenzeugin der Ereignisse vom 31. März 1980, als Monseñor Romero begraben wurde.
Ana María, die Mutter von Lina: „Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Die Leute rannten wie verrückt und ich suchte unter den Leichen und Verwundeten nach meinen Kindern. Ein Bekannter sah mich und überredete mich wegzugehen, in das Haus einer anderen Bekannten, das in der Nähe lag. Aber ich hatte schreckliche Angst. Ich dachte nicht nur an meine Familie, sondern an all die unschuldigen Leute, die massakriert wurden. Stunden später fanden wir wieder zusammen. Wir hatten uns alle gerettet.”
1993 begannen die Vereinten Nationen als Teil der Friedensverträge zwischen der Regierung von Alfredo Cristiani und der FMLN mit einer Untersuchung der bedeutendsten Gewalttaten während des Krieges in El Salvador. Damit beauftragt wurde eine Wahrheitskommission unter dem Vorsitz des kolumbianischen Ex-Präsidenten Belisario Betancur. Der Fall der Ermordung von Monseñor Oscar Romero wurde als einer der illustrativsten genommen. Die Untersuchung kam dabei zu dem Schluss, dass „der Ex-Major Roberto D’Aubuisson den Befehl zur Ermordung des Erzbischofs erteilte und Mitgliedern seiner Sicherheitstruppe genaue Anweisungen für die Organisation und Überwachung des Mordes nach Art der Todesschwadronen gab“ (vgl. Beitrag in diesem Heft).
D’Aubuisson wird paradoxerweise heute offiziell verehrt wie ein Heiliger. Die Empfehlungen der Wahrheitskommission, die Untersuchungen der Fälle zu vertiefen, die Wahrheit aufzudecken und Gerechtigkeit walten zu lassen, wurden mit einer Generalamnestie zu den Akten gelegt. Erlassen wurde diese vom damaligen Präsidenten Alfredo Cristiani, der an der Regierung war, als die Militärs neun Jahre nach der Ermordung Romeros mit der Ermordung von sechs Jesuiten-Priestern und zweier ihrer Mitarbeiterinnen ein weiteres schändliches Verbrechen begingen.
Die Gewalt ist in El Salvador immer noch eine Form der Machtausübung und die herrschende Straflosigkeit hält die Wunden einer nur zur Hälfte erzählten Geschichte offen, die blutenden Wunden der nicht vorhandenen Wahrheit, die nach Gerechtigkeit schreit, und die Wunden eines gebrochenen Lebens, in dem noch Hoffnung auf ein wirkliches, authentisches und ganzes Sein ist.

Übersetzung: Eduard Fritsch