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Miguel Najdorf (1910-1997)

Ein Schachspieler zwischen deutschem Faschismus und lateinamerikanischer Emigration

Vor fünf Jahren, am 5. Juli 1997, verstarb mit dem 87-jährigen Miguel Najdorf ein Schachgenie, mit dessen Namen sich für die Nachwelt nicht nur große Schacherfolge sowie eine moderne Eröffnungsvariante verbinden, sondern auch zahlreiche Anekdoten wie etwa die von einer Partie mit Che Guevara. In Argentinien sorgte nicht zuletzt seine Popularität für einen regelrechten Schachboom. Aus Polen kommend, nutzte er zu Beginn des Zweiten Weltkrieges die Schacholympiade in Buenos Aires, um dort zu bleiben und so der antisemitischen Vernichtung zu entkommen. Dass der deutsche Antisemitismus nicht nur zur Emigration von Schachspielern führte, sondern schon lange vor 1933 auch auf das Spiel selbst projiziert wurde, ist im Übrigen ein fast vergessenes Kapitel in der Geschichte der 64 Felder.

Glenn Jäger

Mieczyslaw Najdorf wurde 1910 in Warschau geboren – erst später in Argentinien nannte er sich „Miguel“. Mit 12 Jahren erlernte er Schach und entwickelte bereits frühzeitig unter dem persönlichen Einfluss von Großmeister und Schachschriftsteller Tartakower, einem späteren Kämpfer der Résistance, einen originellen Stil. In seiner langen Laufbahn gewann Najdorf eine Reihe von internationalen Turnieren und nahm an insgesamt 14 Olympiaden teil – so oft wie kein zweiter. Mit der polnischen Mannschaft errang er 1935 und 1937 die Bronze- sowie 1936 und 1939 die Silbermedaille. Jeweils am Spitzenbrett holte er dann mit dem argentinischen Olympiateam 1950, 1952 und 1954 die Silber- sowie 1962 die Bronzemedaille. In den 50er Jahren qualifizierte er sich zweimal für das Kandidatenturnier zur Weltmeisterschaft, gewann 1962 das Capablanca-Memorial in Havanna und erreichte als 60-Jähriger beim „Match des Jahrhunderts“ in Belgrad – UdSSR gegen den Rest der Welt (20,5:19,5) – ein 2:2 gegen Ex-Weltmeister Michail Tal. Noch mit über 80 Jahren zeigte sich der insgesamt siebenmalige argentinische Landesmeister auf der internationalen Bühne des Schachs.
Sein mitunter wunderschöner Stil zeigt sich insbesondere bei der Partie gegen Glücksberg während der Olympiade in Warschau 1935, die als die „polnische Unsterbliche“ – in Anlehnung an die „Unsterbliche“ zwischen Andersson und Kieseritzki in London 1951 – in die Geschichte einging. Bei dieser Partie opferte Najdorf vier Figuren, um den weißen König schließlich mit dem h-Bauern Matt zu setzen.
Als schöpferischer Spieler zeichnet Najdorf für zahlreiche theoretische Neuerungen verantwortlich, so dass sein Name heute v.a. durch das sehr populäre Najdorf-System der Sizilianischen Verteidigung bekannt ist. Diese Variante stellt(e) immerhin die Hauptwaffe u.a. der beiden vermutlich stärksten Spieler der Schachgeschichte, Bobby Fischer und Garry Kasparow, dar. Dabei gilt der Schlüsselzug (5. ...a6) als Abwartezug, der Weiß dazu einlädt, „seine Karten zuerst offenzulegen“, so der passionierte Bridge-Spieler Najdorf.
Trotz seiner Erfolge galt er zwar als verrückt nach Schach, aber nicht als wirklich ehrgeizig. Najdorf selbst: „Mit etwa 32 oder 35 begriff ich, dass Schach für mich ein großes Vergnügen, aber nicht meine Karriere war.“
Zu dieser Zeit war er schon nach Argentinien emigriert – auf Grund des deutschen Faschismus und aus Anlass der Schacholympiade von 1939 in Buenos Aires.

Die Schacholympiade in Buenos Aires zu Beginn des Zweiten Weltkrieges

Diese Olympiade wurde nach dem Ende der Vorrunde von der deutschen Bombardierung Polens überschattet. Nachdem die Mannschaften zunächst größtenteils für den Abbruch des Turniers eingetreten waren, spielten letztlich doch bis auf England alle weiter. Nichtsdestotrotz war die Finalrunde von äußerster politischer Spannung geprägt, was dazu führte, dass insgesamt sechs Begegnungen ohne Spiel 2:2 gegeben wurden. Dazu gehörten zunächst die Paarungen Frankreich-Deutschland sowie Polen-Deutschland, woraufhin es den Deutschen gelang, auch Böhmen-Mähren in die Vereinbarung mit einzubeziehen. Daraufhin trat Weltmeister Aljechin (für Frankreich) nicht gegen die deutschen Konkurrenten Polen und Argentinien an und schenkte ihnen damit einen Punkt. Brisant wurden die Verhandlungen über die Begegnung mit Palästina, wie die antisemitischen Darstellungen des deutschen Mannschaftsführers Albert Becker, abgedruckt in der „Deutschen Schachzeitung“ (H. 1/1940), verdeutlichen: „Die Juden kamen mit den Argentiniern in unsere Wohnung und appellierten an unsere Sportlichkeit! Wir müßten doch einsehen, daß die Juden unmöglich gegen uns antreten könnten, nicht nur weil Palästina englisch sei, sondern vor allem auch, weil die Juden in Deutschland verfolgt würden. Sie würden auf keinen Fall spielen. Um die Sache für uns schmackhafter zu machen, sei Argentinien bereit, ebenfalls ohne Spiel 2:2 zu geben, so daß alle Konkurrenten um den 1. Preis gegen Palästina 2:2 erzielten. Ansonsten ,drohte‘ Palästina, uns alle 4 Punkte zu schenken, und der eventuelle Endsieg Deutschlands sei dann durch das Geschenk und die Gnade der Juden erfolgt, für uns also wertlos! Jetzt blieb uns nichts anderes übrig, als zuzustimmen. 2:2 also in den Kämpfen Palästina-Argentinien und Palästina-Deutschland. Punkteschacher in Reinkultur.“
Die Ironie der Geschichte wollte es schließlich, dass Deutschland in der Gesamtwertung mit einem halben Punkt Vorsprung (36:35,5) vor Polen(!) die Olympiade für sich entschied. Dies bleibt angesichts der historischen Situation auch dann noch bitter, wenn selbst das „British Chess Magazin“ (12/1939) unter rein schachlichen Aspekten von einem „vollkommen verdienten Sieg“ der über alle 20 Runden ungeschlagenen deutschen Mannschaft spricht.

Die Olympiade als Sprungbrett zur Emigration

Viele europäische Spitzenspieler kehrten von der Olympiade (zunächst) nicht zurück, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. So blieb die deutsche Mannschaft komplett in Argentinien. In einem mit „Heil Hitler“ unterzeichneten Brief des deutschen Mannschaftsführers stellt dieser sein Team in einer Art und Weise als Opfer dar, bei der man meinen könnte, dass in Wirklichkeit nicht Deutschland, sondern England nationalsozialistisch gewesen sei: „Unsere persönliche Lage ist nicht rosig, wir können schwer heim! Mit der ,Copacabana‘ sind am 28. September etwa 2/3 der Europäer heimgefahren, fast nur von neutralen Nationen. Wir Deutsche konnten nicht mit, wir wollen ja nicht in ein englisches Konzentrationslager kommen [...] Hart ist es für uns, von daheim abgeschnitten zu sein, gerade in dieser Zeit!“
Doch wenn das Herz der deutschen Mannschaft tatsächlich so sehr am faschistischen Heimatland hing, so waren sie in Buenos Aires gar nicht schlecht aufgehoben. Dort befand sich nämlich eine große deutsche Gemeinschaft, die eine lange deutschnationale Tradition hatte und 1933 im nationalsozialistischen Sinne weitgehend gleichgeschaltet wurde. Dies betraf nicht zuletzt 103 von 119 deutschen Vereinen sowie 18 von 20 Schulen.
Aus der deutschen Mannschaft blieb mit Eliskases ein Weltklassespieler in Argentinien, der noch bis 1938 für Österreich gespielt hatte. Von 1941 bis 1951 lebte er in Brasilien, kehrte aber schließlich aus schachlichen Gründen nach Argentinien zurück, wo er sich in Córdoba niederließ. Fortan spielte er lange Jahre für Argentinien, wobei er 1952 ironischerweise zusammen mit Najdorf olympisches Silber sowie 1958 die Bronzemedaille errang und zuletzt 1964 bei der Olympiade in Tel Aviv am Spitzenbrett antrat. Eliskases verstarb schließlich in Córdoba, wie Najdorf im Jahr 1997.
Unter umgekehrten Vorzeichen nutzte Najdorf die Gelegenheit, in Argentinien zu bleiben, um so einem deutschen Vernichtungsdrang zu entkommen, den nur 380 000 von 3,3 Millionen polnischer Jüdinnen und Juden überlebten. Damit war Najdorf einer von etwa 40 000 bis 45 000 jüdischen EmigrantInnen, die in Argentinien Zuflucht fanden. Ihre Lage war – ebenso wie die der antifaschistischen ExilantInnen – nicht unwesentlich durch die Ächtung seitens der deutschen Gemeinschaft bestimmt. Ein regelrechtes Netzwerk von jüdischen Hilfskomitees konnte jedoch oftmals sozialen und politischen Schutz bieten.
Unter den Schach spielenden EmigrantInnen in Lateinamerika war im Übrigen auch der deutsch-jüdische Kommunist Paul Baender, der in den 30er Jahren nach Bolivien floh und dort den örtlichen Ableger der lateinamerikaweiten Exil-Bewegung „Freies Deutschland“ leitete. Vor Ort wurde Baender mehrfach bolivianischer Schachmeister. Dem Schachspiel verdankte er auch seine Einbürgerung im Exilland, um so an der berüchtigten Olympiade in Buenos Aires teilnehmen zu können, bei der Bolivien allerdings abgeschlagen auf dem 25. und vorletzten Platz landete. Nach dem Ende des deutschen Faschismus ging er in die DDR, wo er 1952 im Zuge stalinistischer Säuberungen verhaftet wurde und mehrere Jahre im Knast verbrachte.
Während Najdorf selbst also emigrieren konnte, überlebten seine Frau, seine Tochter, seine Eltern, vier Brüder und etliche seiner Freunde die Shoa nicht. Sie wurden in verschiedenen Konzentrationslagern hingerichtet, übrigens ebenso wie auch die Familie Tartakowers. Um Freunde und Familie auf sich aufmerksam zu machen, gab Najdorf 1940 eine Aufsehen erregende Blindsimultanveranstaltung. Doch seine Hoffnung, dass auch in Deutschland, Polen und Russland darüber berichtet würde und man so Kontakt zu ihm aufnähme, erfüllte sich nicht. 1947 stellte er dann einen Weltrekord im Blindspiel auf, als er in São Paulo gegen 45 Gegner gleichzeitig spielte und mit +39, –2, =4 ein sagenhaftes Ergebnis erzielte.

Najdorf und der argentinische Schachboom

Derlei Ereignisse trugen auch zu einer steigenden Popularität des Schachspiels in Argentinien bei, die nicht unmaßgeblich mit dem dort außerordentlich populären Namen Najdorfs verbunden ist. „Don Miguel“ galt am Río de la Plata als gleichermaßen beliebte wie temperament- und humorvolle Persönlichkeit, was übrigens nicht zuletzt dem klischeehaften Bild des wahnhaften und irgendwann „geistig umnachteten“ Schachgenies widerspricht.
Nachdem 1860 der erste Schachklub Argentiniens gegründet worden war, erlebte das Brettspiel im Herbst 1927 einen ersten landesweiten Boom, als in Buenos Aires Alexander Aljechin in einem zweieinhalbmonatigen Match José Raúl Capablanca, das „Wunder von Havanna“, als Weltmeister ablöste. „Damals entstanden bei uns neue Schachklubs und die Jugend begann, sich für Schach zu begeistern“, so Mogilewski, einstiger Sekretär der argentinischen Schachföderation. Nicht zufällig avancierte Argentinien bei den ersten Nachkriegsolympiaden zu einem ernsthaften Konkurrenten der UdSSR. Neben den emigrierten Najdorf und Eliskases machten sich vor allem Oscar Panno und Carlos Bielicki einen Namen, die 1953 bzw. 1959 Juniorenweltmeister wurden. Najdorfs großzügige finanzielle Unterstützung der Jugend sowie seine Förderung von großen Turnieren mögen dazu beigetragen haben.
Argentinien wurde nun zunehmend zu einem Austragungsort großer Turniere. So maßen sich in den 40er bis 60er Jahren bei den Wettkämpfen von Mar del Plata und Buenos Aires führende Groß- bzw. Weltmeister wie Bobby Fischer, Boris Spassky, Wassili Smyslow, Tigran Petrosjan, Bent Larsen, Lew Polugajewski und Henrique de la Costa Mecking. Nachdem es 1971 in der argentinischen Hauptstadt zwischen Bobby Fischer und Tigran Petrosjan zum Kandidatenmatch um die Weltmeisterschaft gekommen war, wurde Argentinien 1978 – also während der Militärdiktatur – zum zweiten Mal Schauplatz einer Schacholympiade. Austragungsort waren die rauchverqualmten Katakomben des River-Plate-Stadions, in dem einige Wochen zuvor die Fußball-WM ausgetragen wurde. Der Geräuschpegel des Turniers wurde von einem nahe gelegenen Truppenübungsplatz sowie einem Flugplatz bestimmt – möglicherweise einer jener Orte, von dem die berüchtigten Maschinen abhoben, aus denen politische Gefangene lebend ins Meer geworfen wurden. Jedenfalls befand sich nur wenige Schritte vom Spielort entfernt das Folter- und Vernichtungszentrum der Marineschule für Mechanik. Nicht überliefert ist, ob sich die Schachgemeinde daran genauso wenig stieß wie etwa ein Berti Vogts, damaliger Kapitän der deutschen Fußballnationalmannschaft, der noch während der WM erklärt hatte: „Argentinien ist ein Land, in dem Ordnung herrscht. Ich habe keinen einzigen politischen Gefangenen gesehen.“ Sicher ist dagegen, dass die Olympioniken an der vorletzten Turnierrunde wenig Gefallen fanden, als sie unmittelbar vor einem bedeutenden Fußballmatch spielen mussten. Die entsprechenden Schlachtrufe im weiten Rund führten dazu, dass man sich zumeist auf ein kurzes Remis einigte. Indes war zu dieser Zeit der argentinische Stern am Schachhimmel bereits weitgehend verglüht: In der Gesamtwertung belegte die A-Mannschaft den 17. Rang, die B-Auswahl teilte sich mit Island den 31. Platz. Entgegen der gewonnenen Fußballweltmeisterschaft gelang es so dem Militärregime zumindest nicht, dieses Ereignis propagandistisch auszuschlachten.
Wenn auch Argentinien heute kein Weltklasseschach mehr bieten kann, so ist Buenos Aires zumindest einmal im Jahr Austragungsort eines der international bedeutendsten Turniere, des Najdorf-Memorial. Der letztjährige Sieger etwa war kein geringerer als Ex-Weltmeister Anatoli Karpow.
Ob sich die KandidatInnen des diesjährigen Turniers zur derzeitigen Lage in Argentinien, geprägt von sozialer Verelendung und Revolten, äußern werden, bleibt dabei abzuwarten. Brisante politische Verlautbarungen von Schachgrößen sind jedenfalls gelegentlich zu vernehmen. Ganz im Sinne der Kriegspropaganda stellte sich etwa Kasparow zuletzt hinter die Bombardierung Afghanistans, während Bobby Fischer für den Dschihad Partei ergriff.

Najdorfs Begegnungen mit Che Guevara

Um Najdorf ranken sich zahlreiche Anekdötchen wie etwa die Unterhaltung mit Boleslawski, die während ihrer Partie bei dem WM-Kandidatenturnier 1953 in Zürich stattgefunden haben soll: Najdorf: „Remis?“ – Boleslawski: „Nein!“ – Najdorf nach einiger Zeit nachdenklich: „Spielen Sie auf Gewinn?“ – Boleslawski: „Nein!“ – Najdorf sofort: „Also doch Remis?“ – Boleslawski: „Nein!“ – Najdorf: „Spielen Sie auf Verlust?“ – Boleslawski: „Nein!“ – Najdorf: „Ja, was wollen Sie denn?“ Boleslawski: „Spielen!“
1962 spielte Najdorf bei einem größeren Turnier in Cuba, wo die Schachkultur nach der Revolution von 1959 großzügig gefördert wurde und einen enormen Aufschwung erfuhr. Fidel Castro und Che Guevara, beide große Schachfans, waren täglich im Turniersaal und verfolgten die Partien. Da fragten sie Najdorf, ob er ein Blindsimultan gegen die cubanische Regierung geben könne: „Ich wunderte mich etwas über die ungewöhnliche Bitte, sagte aber gerne zu. Am ersten Brett spielte Fidel Castro, am zweiten sein Bruder Raúl, am dritten Cubas Präsident Osvaldo Dorticós. Es folgten weitere Regierungsmitglieder, am achten Brett saß Che Guevara. Die Partie gegen Castro endete remis. An den anderen Brettern stand ich gut, außer am achten. Ich bot also Che Guevara ebenfalls Remis an. Es folgte ein Redeschwall: ,Remis? Niemals. Sie haben wohl vergessen, dass wir schon einmal gegeneinander gespielt haben. Das war 1947 in Mar del Plata. Als Medizinstudent bekam ich von Ihnen im Simultan ein furchtbares Matt in wenigen Zügen serviert. Viele Jahre habe ich davon geträumt, Revanche zu bekommen. Diese Partie muss entschieden werden, so oder so. Remis gibt es nicht!‘“
Der Wahlargentinier Najdorf gewann schließlich, der gebürtige Argentinier Guevara lächelte und gratulierte herzlich. Zu einer weiteren Revanche kam es 1963 bei einer abermaligen Simultanvorstellung in Havanna. Die dokumentierte Partie zeigt einen Che, der mit den schwarzen Steinen die spanische Eröffnung etwa bis zum 10. Zug gekonnt behandelt, um aber sechs Züge später bei leichtem Stellungsvorteil für Weiß zum Remis einzuwilligen.1
Che Guevara spielte auch gegen andere Schachgrößen wie etwa gegen Ex-Weltmeister Tal, den späteren Vize-Weltmeister Kortschnoj und den Großmeister Miroslav Filip. Auf alltäglicherer Ebene passte er allerdings auf, wann er sich mit wem maß, denn, so ein Gefährte, „da es kein Geheimnis war, daß der Che eine Leidenschaft für Schach hatte, spielte er nicht, solange er sich noch nicht zu erkennen gegeben hatte.“ Gelegenheit zum Spielen hatte er des öfteren in dem „Jahr, in dem wir nirgendwo waren“, d.h. Mitte der 60er Jahre, als er zum großen Rätselraten der Weltöffentlichkeit unbemerkt im Kongo verweilte. Offenbar beeindruckt vom Simultan- und Blindschach etwa eines Najdorfs, übte er sich dort nun – nicht ohne Erfolg – selbst darin. Ein Mitstreiter in der afrikanisch-cubanischen Brigade beispielsweise wollte nach einer gewonnen Partie gegen den blind spielenden Che diesem bei einer Revanche einen Turm und einen Springer vorgeben. Vergebens, wie Dogna (d.i. Arcadio Benito Hernández Betancourt) sich erinnert: „Am Ende mußte ich nachgeben: Ich spielte wieder mit allen Figuren und er mit dem Rücken zum Brett. Wie am Tag zuvor. Er eröffnete auf die gleiche Weise, das heißt mit Bauer vier auf König. Ich antwortete mit demselben Zug und sage ihm an und so weiter... nach etwa 20 oder 25 Zügen gerate ich in eine schwierige Position und will ihm einen Turm überlassen, ich glaube, es war ein Turm, wenn er den genommen hätte, wäre ich wieder aus der Falle gekommen, aber wenn er den richtigen Zug machte und ihn nicht nahm, wäre ich in zwei oder drei Zügen matt. Er, immer noch mit dem Rücken zu mir, konzentrierte sich, dachte nach und nahm die Figur nicht an, die ich ihm anbot. Er sagte mir: ,Dogna, matt in zwei Zügen.‘ Ich sage: ‚Okay.‘ Ich hatte verloren, kein Zweifel. Und hier war auch schon Tatus [d.i. Che] Analyse: Du hast diesen Zug gemacht, ich jenen, alles aus dem Gedächtnis, bis er meinen Fehler gefunden hatte. Er sagte mir: »Du hast gut gespielt. Aber selbst wenn ich den Turm genommen hätte, hättest du trotzdem verloren, nur in mehr Zügen. Hast gut gespielt, wirklich.“
Ein anderer Brigadist, Nane (d.i. Eduardo Torres), entsinnt sich, dass er „der einzige [war], der eine Partie gegen ihn gewann“, aber nur „indem ich schummelte und die Figuren vertauschte“. Wie gut seine dortigen Genossen spielten, lässt sich heute kaum noch rekonstruieren. Studiert man allerdings die dokumentierten Partien gegen bekannte und unbekanntere Gegner, so ergibt sich das Bild eines durchaus druckvoll und gewandt spielenden Che Guevaras. Vor diesem Hintergrund klingt auch die Beurteilung Najdorfs nicht einmal schmeichelhaft: „Er war ein sehr guter Schachspieler mit aggressiver Spielweise, d.h., er nahm gut vorbereitet auch Opfer in Kauf.“
Bezüglich Najdorf selbst eignen sich allerdings biografische Versatzstücke wie seine Cuba-Visiten kaum, ihn posthum als Linken zu verklären. Dazu reicht schon ein Blick in die Liste weiterer politischer Prominenz, die sich schachlich mit ihm maß. Neben Churchill gehörte hierzu der Schah von Persien und der profaschistische Juan Perón, langjähriger Präsident Argentiniens. Über die Gründe für diese politische Vielfalt und Widersprüchlichkeit von Schachgegnern – oder vielmehr: Schachfreunden – lässt sich nur spekulieren. Naheliegend wäre das Argument einer weitgehend unpolitischen Unvoreingenommenheit, verbunden mit der Lust daran, vermeintlich historische Luft zu schnuppern. Hinzu kommt, dass er stets auf gentlemanhaftes Auftreten bedacht war (über Kasparov sagte er einmal: „Kasparov ist kein Gentleman. Er ist nicht sympathisch. Er ist ein Gott. Man kann kein Gott sein.“). Zumindest scheint Najdorf nicht nur angesichts der „cubanischen“ Partien wie auch in Anbetracht einer Begegnung mit Chruschtschow über den Verdacht eines gefestigten antikommunistischen Weltbildes erhaben.

Antisemitische Projektionen auf die 64 Felder

Es ist nicht bekannt, inwieweit Najdorf in Argentinien antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt war. Verwunderlich wäre dies kaum, hätte doch die strukturelle Verankerung von Antisemitismus in Geschichte und Gegenwart Argentiniens eine Voraussetzung geboten, in Menschen wie dem wohlhabenden Geschäftsmann Najdorf die Personifizierung des Finanzkapitals zu suchen.
In Europa musste schon weit vor Najdorfs Zeit sogar das Schachspiel selbst – zur Jahrhundertwende in vielen Quellen als „jüdisches Spiel“ bezeichnet – zu antisemitischen Projektionen herhalten. Betroffen davon waren zahlreiche jüdische Meister, von denen viele in Folge der großen ostjüdischen Immigration um 1880 in die Schachzentren Europas gelangt waren und die dort einen neuen Schachstil maßgeblich mitprägten. Der Stil dieser Zeit galt weithin als Verkörperung der Moderne und unterlag infolgedessen einer romantizistisch verklärten antisemitischen Kritik. Der Schachhistoriker Ernst Strouhal: „Aus der romantischen Kunst des Schachspiels war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Wissenschaft mit rationellen Normen und erlernbaren Gesetzen geworden – für den damaligen, an der Romantik geschulten Geschmack eine Provokation. Die Subtilität der Verteidigungskunst eines Steinitz, Tarrasch, Lasker oder Nimzowitsch galt als bizarr, ihre Partien waren für viele Amateure, deren Wissen zu beschränkt war, um sie zu verstehen, übervorsichtig oder langweilig. Wie in der Kunst und in der Wissenschaft hatte die Moderne innerhalb weniger Jahrzehnte im Schachspiel Einzug gehalten – und die Protagonisten des Neuen waren Juden.“
Den antisemitischen Feldzug gegen das Moderne im Schach führte allen voran der äußerst populäre und viel gelesene Publizist Franz Gutmayer an, der schon in den 10er und 20er Jahren des 20. Jahrhunderts einen faschistischen Sprachstil vorwegnahm: „Hoch über dem Nichts von einem armseligen, lahmen Positionsspieler, von einem modernen Schachpraktiker, sehe ich im Geist eine kühnkräftige Rasse von Übermachtspielern emporwachsen, heranblühen und ausreifen, die, auf mein System gestützt, nicht Tod noch Teufel fürchten, – Spielpraktiker mit einer großen Verachtung im Mundwinkel vor jeder Art von Remis, siegesfrohe, mutig-heitere, kühn-verwegene und doch wieder kalt-besonnene Kämpen und Kämpfer, Zerschmetterer, Niederwerfer, Vernichter, die mit napoleonischer Wucht und Machtgewalt jeden Widerstand zu zerbrechen wissen und alle ihre Gegner in den Staub stürzen, Schachpraktiker mit einem hohen Willen zur Macht, zum Siege und Triumphe, deren Devise lautet: siegen oder sterben, triumphieren oder verderben.“
Gutmayer zog auch das klassische antisemitische Register von dem „Schacherjuden“, dessen „Horizont: die eigene krumme Nase“ und „Perspektive: ein fettes Honorar“ sei. So solle „die Schachkunst frei bleiben von schmutziger, unsauberer Geldgier“. Folglich titulierte er die jüdischen Weltmeister Steinitz und Lasker als „Bandwürmer“, „Perverse“, „Blattläuse“, „Bazillen“, „Schweine“ und „Raupen“, die lieber auf ein „ekelhaft, feiges Remis“ als auf Risiko setzten.
Während des Nationalsozialismus wurde diese Gegenüberstellung von arisch-romantischer Kunst und jüdisch-opportunistischem Spiel bereitwillig aufgenommen. Zudem wurden die Lehrbücher arisiert, indem jüdische Meister entfernt bzw. lediglich deren Verlustpartien angeführt wurden. Selbst Weltmeister Aljechin, der sich als russischer Emigrant zu den Deutschen zählte, war sich nicht zu schade, in einer Artikelserie zum Thema „Jüdisches und arisches Schach“ von 1941 das faschistische Gedankengut eines Gutmayers aufzuwärmen.2 Der gleiche Aljechin übrigens, der jahrelang das Spiel seiner jüdischen Kontrahenten gelobt und sich noch 1939 bei der Olympiade in Buenos Aires politisch zu Ungunsten von Deutschland verhalten hatte. Seinen plötzlichen Umschwung dokumentiert auch eine Simultanveranstaltung, die er Anfang der 40er Jahre in Warschau gegen das örtliche SS-Offizierskorps abhielt.
Die Gutmayer’schen Formen von Antisemitismus bedürfen sicherlich keines weiteren Kommentars und schon gar nicht des Versuchs einer schachlich immanenten Widerlegung. Denn ein vermeintlicher Gegenbeweis wie etwa ein Verweis auf das energische Spiel eines Najdorfs bedeutete nur, sich auf die Gutmayer’sche Diskussionsebene einzulassen. Und genauso wenig wie der Stil von jüdischen Spielern als per se positionistisch zu bezeichnen ist, darf z.B. das lateinamerikanische Schach gemäß dem Klischee vom mediterranen Temperament als dynamisch betrachtet werden. Auch dafür erübrigt sich etwa ein Verweis auf den einstigen cubanischen Schachweltmeister und „Positionsspieler“ Capablanca; vielmehr reicht dazu schon allein die Verneinung von antisemitischen wie rassistischen Projektionen.

  • 1. Najdorf – Guevara: 1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lb5 a6 4.La4 Sf6 5.0-0 Le7 6.Te1 b5 7.Lb3 0-0 8.c3 d6 9.h3 h6 10.d4 Te8 11.Sbd2 Lf8 12.d5 Se7 13.c4 bxc4 14.Sxc4 c6 15.dxc6 Sxc6 16.Le3 Le6 (1/2-1/2).
  • 2. Die zunächst anonym verfasste Aufsatzserie fand man später in Aljechins Nachlass. Bevor die Artikel als Sammlung veröffentlicht wurden, erschienen sie wahlweise in der Pariser Zeitung, der Deutschen Schachzeitung und in der Deutschen Zeitung in den Niederlanden.

P.S. Für Tipps und Anregungen danke ich Neil Stewart und Gert Eisenbürger.