ila

Jude, Gringo, Deutscher

Die Lebenserinnerungen des Werner Max Finkelstein
Ali Al Nasani

Hermann Finkelstein hatte im ersten Weltkrieg freiwillig für Deutschland gekämpft. Später dachte er, dass der „braune Spuk“ nicht lange andauern würde. Doch nach der Machtergreifung der Nazis änderte sich alles schlagartig. Er musste sein gut gehendes Geschäft im ostpreussischen Gumbinnen aufgeben. Die Familie Finkelstein zog nach Berlin in der Hoffnung, hier leichter überleben zu können. Wenige Monate später starb Hermann Finkelstein und ließ seine Frau Frieda sowie seinen Sohn Max in einer immer feindseligeren Umgebung zurück. Nach der Reichspogromnacht fiel der Entschluss zu emigrieren und Max, damals 14 Jahre alt, wurde mit einem Kindertransport nach Schweden geschickt. Erst nach Kriegsausbruch gelang der Mutter die Emigration nach Bolivien, und Max reiste ihr nach: durch Finnland, Russland, Japan sowie mit einem Zwischenstopp in San Francisco und Acapulco.

In Bolivien erwartete den 16jährigen eine Welt, die in drei Klassen eingeteilt war: die reiche weiße Oberschicht, die Mestizen und ganz unten die Indigenen. Max Finkelstein schlug sich zunächst als Bauarbeiter durch, später beaufsichtigte er ein Arbeitsprojekt im so genannten „Panóptico-Gefängnis“ von La Paz und registrierte mit Erstaunen, dass sich die Insassen dort mit eigenen Schlössern einschlossen. Ihre Furcht vor Diebstahl richtete sich jedoch nicht gegen die Mitgefangenen, sondern gegen die Vollzugsbeamten. An den sozialen Grenzen der Gesellschaft zerbrach auch der Versuch, ein Alphabetisierungsprojekt für die indigene Bevölkerung aufzubauen. Da die Indigenen immer nur von der weißen Bevölkerung ausgebeutet worden waren, gab es keine Bereitschaft, sich auf ein Alphabetisierungs- projekt einzulassen. Das Misstrauen war zu groß. 

Später reiste Max Finkelstein nach Argentinien weiter und lebte dort zunächst illegal ohne Papiere. Doch schon nach vier Monaten hatte er das Glück, bei einer der regelmäßigen Amnestien legalisiert zu werden. Bei all seinen Unternehmungen blieb Finkelstein immer optimistisch und bis heute ist ihm Zukunftsangst fremd. „Mir ist es oft sehr dreckig gegangen“ so Finkelstein, „doch ich hoffte immer, dass es wieder bergauf ginge.“ In Buenos Aires begann er, beim Argentinischen Tageblatt zu arbeiten, das sich nicht, wie die damals von der deutschen Botschaft unterstützte La-Plata-Zeitung, von den Nazis hatte einnehmen lassen. Das Argentinische Tageblatt überlebte einen Anzeigenboykott der deutschen Unternehmen sowie zwei Bombenattentate. Es war die Zeit der ungebrochenen Machtausübung der argentinischen Militärs, die alle wichtigen Posten innerhalb der Gesellschaft besetzten. Insgesamt arbeitet Finkelstein 33 Jahre als Redakteur beim Tageblatt und schrieb sowohl über Außen- und Innenpolitik als auch über Wirtschaft und Kultur. Trotz der langen Zeit scheint er in Argentinien nicht heimisch geworden zu sein. „Ich wusste, dass ich nicht auf Reise war, dass ich hier meinen Job hatte. Doch ein Zuhause war es nicht.“ 

Eines Freitagsabends kreierte er in der Redaktion Geschichte, als er wegen eines bevorstehenden Wochenendtrips nicht auf die Rede des damaligen Präsidenten Arturo Illia anlässlich des Tages der Industrie warten wollte. So beschloss Finkelstein, das übliche Gerede über „die Bedeutung der Industrie für die Wirtschaft des Landes“ selbst zu verfassen. Am Montagmorgen wurde er dann in der Redaktion davon überrascht, dass das Tageblatt als einzige Zeitung den Präsidenten zitierte. Der hatte nämlich kurzfristig auf seine Rede verzichtet. 

In den letzten Jahren war er gleichzeitig Redakteur der Zeitung der jüdischen EmigrantInnen, der Semanario Israelita, die sich mit jüdischen Themen der ganzen Welt auseinander setzte. Selbst diese kleine deutschsprachige Zeitung wurde im argentinischen Innenministerium kontrolliert und als Finkelstein eines Tages den Unterrichtsminister in seiner Zeitung als Faschisten bezeichnete, kam der argentinische Staatsschutz in die Redaktion. Dies war eine eindeutige Warnung in Zeiten, in denen missliebige Personen einfach „verschwanden“. Da die Zeitung hauptsächlich von deutsch-jüdischen EmigrantInnen gelesen wurde, sank im Laufe der Jahre die Zahl der AbonnentInnen. „Mit jedem Emigrant verstarb auch ein Abonnent“, resümiert Finkelstein. Schließlich musste die Zeitung aus wirtschaftlichen Gründen ganz eingestellt werden.

1999 kehrte Max Finkelstein schließlich nach Deutschland zurück und begab sich auf Spurensuche in seine Geburtsstadt Gumbinnen und sein erstes Exilland Schweden. Seine Lebensgeschichte wurde von seiner Frau aufgezeichnet und liegt nun in Buchform vor. Noch heute lässt ihn im Rückblick das Gefühl nicht los, relativ sorglos im Exil gelebt zu haben, während andere in Konzentrationslagern litten und dort getötet wurden. Es war der Schrecken des Holocaust, der seinen Glauben an Gott zerstörte.

Kerstin Emma Schirp: Jude, Gringo, Deutscher – Das abenteuerliche Leben des Werner Max Finkelstein, Books on demand, Berlin 2002, 15,90 Euro