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Fasziniert von der Welt und den Menschen

Eine biographische Annäherung an Nelly Meffert-Guggenbühl
Gert Eisenbürger

Seit den achtziger Jahren erlebt die mexikanische Malerin Frida Kahlo einen internationalen Boom. In den zahlreichen Büchern, Filmen, Aufsätzen und Theaterstü­cken, die sich mit dem Leben der surrealistischen und sozialistischen Künstlerin beschäftigen, spielte neben Fridas Malerei immer auch ihre hochkomplexe Beziehung zu dem Maler Diego Rivera eine zentrale Rolle. Der extrovertierte Lebemann und hochgeschätzte Künstler Diego, der stets Affären mit anderen Frauen hatte und die zarte, als Malerin zu Lebzeiten kaum wahrgenommene Frida, die einen lebenslangen Kampf gegen ihre durch einen schweren Unfall verursachten körperlichen Leiden führte. In ihrer Gegensätzlichkeit und bei allen Verletzungen, die sich zufügten, waren sie ein tief verbundenes Paar.

Bei der Lektüre von Bernhard Brack-Zahners Buch „Nichts Menschliches ist mir fremd – Das Leben von Nelly Meffert-Guggenbühl“ fühlte ich mich immer wieder an die Berichte über Frida Kahlo und Diego Rivera erinnert. Auch wenn bei Nelly Guggenbühl und Jupp Meffert (eigentlich Carl Meffert bzw. mit Künstlernamen Clément Moreau) vieles anders war. Nelly war keine Künstlerin, Jupp war zwar einerseits der geniale Künstler und Lebemann, gleichzeitig war er aber auch der, der stets von Selbstzweifeln geprägt war und einen verzweifelten Kampf um seine Gesundheit führte.

Dabei reduziert das Buch Nelly Guggenbühl keineswegs auf die Beziehung zu Meffert/Moreau. Im Gegenteil: Ihre Kindheit im bürgerlichen St. Galler Milieu, ihre sozialistische Politisierung und ihr Engagement für Naziverfolgte in Zürich, ihre kinderpsychologische Arbeit in Buenos Aires und St. Gallen nehmen einen breiten Raum ein. Aber all das sind Bedingungen mit denen sich Nelly konfrontiert sah und mit denen sie umzugehen wusste. Aber die Liebe zu Jupp Meffert war etwas, das sie zeitweilig als unsägliches Glück und dann wieder als Alptraum empfand. Dabei waren die Affären Jupps wohl das kleinere Problem, die Herausforderung an der auch die psychologisch geschulte Nelly scheiterte, war Jupps Drogenabhängigkeit. Seit seiner Jugend hing Clément Moreau an der Nadel, brauchte täglich Morphium. Sein Leben, besonders in Argentinien, war ein beständiges Auf und Ab von Zusammenbrüchen, Therapien, Rückfällen, erneuten Therapien und neuen Zusammenbrüchen. Dazwischen Phasen relativer Normalität, dann wieder solche extremer Gereiztheit Mefferts. Nelly und ihre gemeinsamen Kinder litten enorm unter der Situation. Doch ihre Liebe zu Jupp und zu seiner Kunst, ließen sie immer ausharren und hoffen, dass die nächste Therapie gelinge. Dabei reflektiert sie rückblickend selbst, ob ihr Verständnis nicht letztlich kontraproduktiv war.

Bernhard Brack-Zahner lernte Nelly Meffert-Guggenbühl kennen, als sie schon über neunzig war. Er war offensichtlich fasziniert von ihrer Persönlichkeit (mir ging es seinerzeit genauso), ihrer ruhigen humorvollen Art über Dinge zu sprechen, die für viele Leute Tabus darstellen. Der Autor gewann Nelly dafür, ihm ihre Geschichten für eine Veröffentlichung zu erzählen. Als die Arbeit fast abgeschlossen war, starb Nelly 1999 im Alter von 95 Jahren. Zunächst ließ Brack-Zahner das Manuskript liegen. Dann entschied er, die Arbeit doch fortzusetzen, recherchierte die fehlenden Teile, sprach mit Freunden und Verwandten Nellys. In den so entstandenen Text montierte er Briefe, die Nelly geschrieben und erhalten hat. Durch diese Technik wird der Erzählfluss gebrochen, rückblickende Erinnerungen werden mit unmittelbaren Reaktionen aus der Zeit kombiniert. Das bewirkt in vielen Passagen eine ungeheure Verdichtung. Vor allem in den Teilen, wo es um Jupps Drogensucht geht. Zu lesen, wie jemand immer wieder neue Therapien beginnt, um die Sucht zu überwinden, diese dann abbricht oder rückfällig wird, ist eine Sache. Eine ganz andere Sache ist es, mit den Briefen konfrontiert zu werden, die sich das Paar während dieser Phasen schrieb, wo mit jeder Therapie neue Hoffnungen bei Nelly und gute Vorsätze bei Jupp verbunden waren, dieses Mal werde es klappen und dann die verzweifelte Enttäuschung, dass es wieder nichts gebracht hat.

„Nichts Menschliches ist mir fremd“ ist ein faszinierendes Buch über eine politisch bewusste Schweizerin, die fast das gesamte 20. Jahrhundert erlebt hat. Der historische Bogen ihrer Erzählungen reicht von ihren Erinnerungen an die Zeit des Ersten Weltkrieges bis zu den Anti-Atom-Demonstrationen der Achtziger, an denen sie noch teilgenommen hat. Besonders nett sind die Anekdoten, die sie zu erzählen weiß. Wo liest man schon, dass der später hochdekorierte Sänger Ernst Busch, als illegaler Flüchtling in der Schweiz in der Badewanne, so laut revolutionäre Arbeiterlieder sang, dass er zum Sicherheitsrisiko wurde. Sie habe ihn zurechtweisen müssen, meinte Nelly, weil sonst die Nachbarn Verdacht geschöpft hätten.

Nelly Meffert-Guggenbühl schildert immer wieder kritische Situationen, politische während ihrer Fluchthilfearbeit in Zürich, persönliche in ihrer Beziehung zu Jupp oder beim Selbstmord ihrer Schwester. Aber danach beschreibt sie wieder voller Begeisterung Menschen, die sie kennen lernte oder bericht über positive Erlebnisse. Sie blieb bei allen Härten stets eine offene und neugierige Person, die sich von der Welt und den Menschen faszinieren ließ.

Bernhard Brack-Zahner: Nichts Menschliches ist mir fremd – Das Leben von Nelly-Meffert Guggenbühl, Appenzeller Verlag, St. Gallen 2004, 174 Seiten € 25, 38 sfr