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Ins Weite gestoßen

Bruno Schwebel und Alfredo Bauer: Zwei Lateinamerikaner aus Wien verhandeln ihr Glück
Erich Hackl

Bruno Schwebel war neun, Alfred Bauer dreizehn Jahre alt, als die deutsche Wehrmacht in Österreich einmarschierte. Beiden gelang, zusammen mit ihren engsten Angehörigen, die Flucht aus dem Dritten Reich. Dem einen mühsam, unter mancherlei Gefahren und dank des unerschrockenen Konsuls Gilberto Bosques, Anfang 1942 nach Mexiko. Dem andern 1939 über Zürich und Genua nach Argentinien, wo eine Tante für die Visa gesorgt hatte. Jetzt sind ihre Bücher erschienen, in denen sie – offen bzw. verhohlen autobiografisch – über die Zeit vor und nach der Vertreibung berichten. Sie leben bis heute in ihren Gastländern, sind aber auch mit österreichischen Verhältnissen vertraut. Ihre Geburtsstadt Wien haben sie in den letzten fünfzig Jahren immer wieder aufgesucht. Allerdings hat es lange gedauert, bis sie hier auch zur Kenntnis genommen wurden. 

Bruno und Alfred (heute Alfredo) sind einander übrigens nie begegnet. Trotzdem verbindet sie – über die Erfahrung von Verfolgung, Verbannung und Verwurzelung in einer neuen Gesellschaft – einiges miteinander: der offene Blick, die Fähigkeit, auf andere zuzugehen, die Abneigung, aus dem eigenen Herzen eine Mördergrube zu machen, die Freude daran, mit beiden Beinen fest auf der Erde zu stehen und sich doch eine andere, bessere Welt vorstellen zu können. Das erlittene Unrecht und die Erfahrung des Exils hat sie nicht verbittert; eher würden sie sich, glaube ich, die Verse Günter Anders' zu eigen machen: „Wer uns in Fahrt bringt, macht uns erfahren,/Wer uns ins Weite stößt, uns weit./Nun danken wir alles den fahrenden Jahren,/und nicht der Kinderzeit.“

Eigentlich noch vor der Kinderzeit, nämlich mit den Wehen seiner Mutter, setzen Bruno Schwebels Erinnerungen ein: „Als Mexikos Präsident Portes Gil am Nationalfeiertag dreimal ,Viva México!' ausrief, war in Wien meine Mutter gerade am Allerheiligenplatz in Richtung Spital unterwegs.“ So trocken und pointiert blickt Schwebel, Jahrgang 1928, auf sein bisheriges Leben zurück, das in der Brigittenau, im Lorenz-Böhler-Krankenhaus, begonnen und in der mexikanischen Hauptstadt sein vorläufiges Ende gefunden hat. Der Bericht hält sich an die Chronologie der Ereignisse, ist aber viel komplexer, als man aufs erste vermutet. Erstens deshalb, weil Schwebel seine Schilderungen immer wieder unterbricht, um Begegnungen und Situationen zu freien Erzählungen zu verdichten; zweitens, weil er sich sowohl an ein mexikanisches Publikum als auch an hiesige LeserInnen wenden will und deshalb gezwungen ist, aus doppelter Perspektive zu schreiben; drittens, weil sich über das Erlebte die Erfahrung dessen legt, der schon früh und wiederholt auf Reisen durch Österreich, Deutschland und Frankreich dem Kind, das er einmal war, auf der Spur ist. 

Trotzdem wirken seine Aufzeichnungen alles andere als behäbig oder belehrend. Denn Bruno Schwebel schreibt mit der Zuversicht dessen, dem sich die Welt immer noch nicht zur Gänze erschlossen hat und der zugleich beruflich wie privat, und auch sonst, einige Erfüllung gefunden hat; er hat sich in eher ungewöhnlichen sportlichen Disziplinen, als Ringer und Boxer, versucht, hat es zum Schachmeister von Mexiko-Stadt und als Theater- und Filmschauspieler zu einigem Renommee gebracht, ist als bedeutender Maler geachtet. (Eine Auswahl seiner Bilder war unlängst in der Wiener Galerie Vorort zu sehen.) Er vergisst nicht die Gesinnungslumperei derer, die ihn aus dem Paradies seiner Kindheit im Arbeiterbezirk Brigittenau und in der Landgemeinde Neulengbach vertrieben haben, aber er verwirft die Rolle des Opfers, die Gutmeinende den Verfolgten so gern zuweisen. Und wenn er, auf einer seiner Reisen in die alte Heimat, einen verstockten Dummkopf trifft, dann macht er dem, lautstark, auch klar, dass er eben – ein Dummkopf ist. 

„Das andere Glück“ ist bei allem Witz ein Buch der sachten Zwischentöne. Eine Art Requiem für die Jugendfreunde und Verwandten im französischen Exil, die nicht nach Übersee entkommen konnten. Eine Huldigung auch der manchmal kratzbürstigen Frauen und Männer, die der Familie Schwebel halfen. Es zeigt wie die großen Geschichtserzählungen der Antike, dass Trauer sich nicht an den großen, sondern an den kleinen Verlusten entzündet – am Tod des Terriers Toutou zum Beispiel, der dem zwölfjährigen Bruno in Montauban so sehr ans Herz gewachsen war und den der Quartiergeber der Familie als Hühnerdieb kurzerhand erschossen hat. „Dieser Pistolenschuss hinter dem Haus berührte mich mehr als alle zuvor erlebten Bombenexplosionen.“ In den eingeschobenen Erzählungen nimmt Schwebel sich die Freiheit, über die Erinnerungen hinauszutreten in die Welt der Vermutungen, von sich selbst also abzusehen; aber auch in ihnen führt er gelegentlich eine Art stummen Dialog mit den Helden und Heldinnen, der ihn an seine eigene Existenz fesselt. So in der Hommage an Mademoiselle de Fauche, die unverheiratete Schwester des Hundekillers, die er 1981, vierzig Jahre nach seinem Aufenthalt auf dem Grundstück der Familie, noch einmal aufgesucht hat. „Alles an dir, Mademoiselle de Fauche, ist Vergangenheit. Und ich, ganz im Heute, möchte nun sein wie du. Mein Gedächtnis hat Lücken, verstehst du?“

Bruno Schwebel hat in der Geschichte von Vertreibung und Flucht die Chronik ihrer Überwindung aufgehoben. Der fragwürdige Terminus Bewältigung, hier trifft er zu. Das ist zu allererst das individuelle Verdienst des Autors, eine Sache seines Temperaments und seines inneren Friedens. Es liegt auch daran, dass seine engsten Verwandten, die Eltern und der Bruder, sich retten konnten. Dass die Familie auf ihrer langen und langwierigen Flucht – über Deutschland, Frankreich, durch Spanien nach Lissabon – zusammenbleiben konnte. Dass bei der Ankunft im Hafen von Veracruz das Leben noch vor ihm lag. Dass es gute Zeiten waren, um sich in Mexiko einzuleben, für europäische Immigranten. Und dass er offen war für diese neue uralte Gesellschaft, deren phantastische Realität ihn vom ersten Tag an beschäftigt und beglückt hat. Vieles von diesem Glück erschließt sich bei der Lektüre; es ist ein stilles, ruhiges Glück, aber unter der Oberfläche brodelt die Leidenschaft. 

Vom Glück kündet auch der Roman „Verjagte Jugend“. 

Es ist nicht zum ersten Mal, dass sich Alfredo Bauer, der kürzlich seinen 80. Geburtstag begangen hat, mit seiner Familiengeschichte zwischen Wien und Buenos Aires beschäftigt. In den achtziger Jahren legte er eine breite Familiensaga vor, die am Vorabend der Revolution von 1848 einsetzte und im fünften Band mit Flüchtlingsschicksalen am Río de la Plata endete. Nur die ersten beiden Folgen sind, damals noch in der DDR, auch auf Deutsch erschienen. Darauf folgte, nach dem Zerfall des Sowjetimperiums, unter dem Titel „El viaje“ (Die Reise) der „Versuch der Selbstverständigung in einer kaum zu bewältigenden Welt“, in einer Mischform aus Erzählung, Erinnerung und Reflexion. Der Unterschied zu Bruno Schwebel besteht darin, dass Alfredo Bauer schon in der Struktur seiner Prosa auf kollektive Erfahrung zielt. Er ist sich der Richtigkeit seiner Haltung und seiner Einsichten gewiss, man spürt, er braucht nicht um seinen Standpunkt zu ringen. Die eigene Person ist ihm nur insofern wichtig, als sie ihm Kenntnis anderer Menschen verschafft. Deshalb kommt er in seinem neuen Roman als einer unter vielen vor, als Robert Bender, sein Pseudonym übrigens, unter dem er dem rechten „Argentinischen Tageblatt“ gelegentlich einen Artikel untergejubelt hat.

Das Buch ist dem Andenken seiner ersten Frau Kitty gewidmet. Er stellt sie, anfangs zumindest, in den Mittelpunkt des Geschehens, aber nicht aus sentimentalen Gründen, sondern weil er in ihrer Entwicklung einen Menschentypus zu erkennen glaubt, der ihn, Bauer, als Kommunisten erst festigt: derjenige, der fähig ist, sich über seine Verhältnisse zu erheben und ein tätiges Leben zu führen. Das familiäre Umfeld in Wien ist für die Halbwaise Kitty – Ruth heißt sie im Roman – alles andere als günstig, dazu kommt nach dem März 1938 die Entrechtung der jüdischen Bevölkerung, die wachsende Gefahr, die fehlende Einsicht der Erwachsenen, die um das Mädchen sind, und nach der eher zufälligen Rettung ins argentinische Exil seine Verzagtheit. Und doch gelingt es Ruth, „liebesfähig, schöpferisch und also glücklich“ zu werden.
Mit fortschreitender Handlung rückt der Roman seine Protagonistin immer mehr an den Rand. Aber das ist kein Nachteil, so wie auch der sorglose Umgang mit der Sprache hier keinen großen Schaden anrichtet; die Bedeutung der „Verjagten Jugend“ liegt jenseits des Erzählerischen, in Bauers These von einem erfüllten Leben, das diesen Verjagten immer wieder abgesprochen wird. 

Wir haben es im Grunde mit einem Pamphlet zu tun, das man sich für einmal frei von seiner negativen Bedeutung vorstellen möge. Es ist nur folgerichtig, dass manche Gestalten als bloße Ideenträger vorkommen, holzschnittartig geschaffen, aber der Holzschnitt erfordert bekanntlich keine geringe Kunst. Ich erinnere mich an das Libretto der Stefan-Zweig-Oper „Aus allen Blüten Bitternis“, eine Auftragsarbeit für die Wiener Kammeroper, in dem Alfredo Bauer Zweigs Dienerpaar im brasilianischen Exil ebenso viel Augenmerk geschenkt hat wie dem weltberühmten Schriftsteller: Auch in „Verjagte Jugend“ nimmt das proletarische Hausmädchen von Ruths Mutter den gleichen Rang ein wie die Herrschaft, verfolgt Bauer ihr Leben und das ihres klassenbewussten Gefährten von der Wiener Vorstadt in die argentinische Pampa. Juden, Christen, Ungläubige – Bauer wertet sie nur gemäß ihrer Fürsorge, ihrer Gesinnung und ihrer Bereitschaft, Unrecht zu bekämpfen, und dafür möchte man ihn schon gerne küssen.

Im letzten Drittel zerfällt der Roman in eine Vielzahl von Exilgeschichten, besser gesagt, er öffnet sich gegenüber einer ganzen Generation junger Österreicher jüdischer Herkunft, die in Argentinien den Kampf für ein freies Österreich aufnehmen. Einerseits ihr Zusammenstehen, ihre Überzeugung, ihr Gemeinschaftsgefühl, andererseits die Suche nach dem passenden Partner, der Partnerin. Und immer gönnt der Autor seinen Geschöpfen, hinter denen sich ja reale Menschen verbergen, das Verlangen, es recht zu machen, nicht sich selbst, sondern den andern. Der sittliche Ernst, die Aufrichtigkeit, mit der Bauer sie ausstattet, berührt seltsam in dieser Zeit, in der kaum wer Jugendlichen zutraut, ein kohärentes Leben führen zu wollen. Und wieder kommen einem Günter Anders' Verse in den Sinn. „Hätte es jene Verfolgung und Erniedrigung nicht gegeben“, schreibt Alfredo Bauer am Ende seines Romans, „wären diese jungen Menschen nicht verjagt worden, nicht entwurzelt gewesen, es wäre kaum in ihnen der Drang entstanden, diese verzerrte Welt zurechtzubiegen; und wenn doch, dann nicht mit solcher Kraft, solcher Entschlossenheit.“

Während „Das andere Glück“ mit einem sympathischen Nachwort von Christian Kloyber und einem fast zu detailfreudigen vierzigseitigen Glossar versehen ist, wurde Bauers Roman bloß mit etlichen Druckfehlern ausgestattet; die unterschiedliche Sorgfalt sollte niemanden davon abhalten, das eine und das andere Glück in beiden Büchern zu erkunden.

Bruno Schwebel, Das andere Glück – Erinnerungen und Erzählungen, Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft, 2004, 290 Seiten, 21,- Euro

Alfredo Bauer, Verjagte Jugend. Ein biographischer Roman, Edition Atelier Wien 2004, 238 Seiten, 22,- Euro