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Tanzend zur Befreiung

Yanick Lahens' Roman „Tanz der Ahnen“
Hans-Ulrich Dillmann

Eben ist die Welt noch in Ordnung, bekleiden die Protagonisten die ihnen zugewiesene Rolle und dann tut sich plötzlich die Erde auf, stürzt das Chaos, die Unordnung in die kleine heile Welt im Hause Bienaimé. Plötzlich hat „eine unerklärliche, fröhliche Macht“ Tochter Alice in ihrer Gewalt und zwingt ihr ihr Verhalten auf. „Jetzt bin nicht ich es mehr, sondern der Tanz, der mich durchdringt und mir mein Blut durch die Adern jagt.“ Eben noch hat Alice mit ihrer Mutter zu Ragtimemusik aus dem Grammofon im Wohnzimmer getanzt, jetzt bewegt sich die Protagonistin in Yanick Lahens' Roman „Tanz der Ahnen“, wie von Furien gepackt, nach dem Rhythmus der Voodoo-Trommeln, der von ihr Besitz ergriffen hat. Sie lässt sich von der Tradition der Ahnen aus der vermeintlich realen Welt des Heutigen in das vermeintlich antiquierte, irreale Gestern wegtragen. Erst die schallende Ohrfeige ihre Vaters holt sie wieder in die Realität zurück – nach Haiti, in das „Land der Berge“ zum Ende der US-amerikanischen Besatzung, die 1915 begann und erst 1934 endete und nach „Ayiti“, wo die weiße und mulattische Minderheit nur einen Wunsch hat, nicht so zu sein wie die schwarze Bevölkerungsmehrheit.

Alice Bienaimé, die geliebte Tochter, soll es besser haben. Besser als ihre Eltern, Groß- und Urgroßeltern, die sich seit der formalen Sklavenbefreiung von der französischen Kolonialmacht im Jahre 1804 hochgearbeitet und versucht haben, sich von dem Makel der negritude, der schwarzen Tradition, zu befreien. Schwarz, das ist Versklavung, schwarz, das ist Elend, Primitivität, unkontrollierbare Gefühle – Emotion macht Angst. Die Hautfarbe schwarz steht für all das, an was die Aufsteiger und Angepassten nicht mehr erinnert werden wollen, afrokaribische Identität gegen französische Orientierung. Generation um Generation wurde die Welt der (französischen) Weißen zur neuen Heilslehre, deren Kultur zur Errungenschaft, deren Kommunikation zur Interaktion. Wer in Haiti aus dem Teufelskreis der noch immer fünf Millionen Armen entrinnen und sozial aufsteigen will, muss sich an der weißen Bevölkerungsminderheit und bürgerlichen Bildungsidealen orientieren – und vor allem deren Werte imitieren.So geht es auch im Hause Bienaimé. Die Wurzeln wurden abgehackt und, die Welt der Weißen kopierend, die eigenen kulturellen Werte verdeckt. Wer weiterkommen will in seinem sozialen Aufstieg, muss seiner Tochter eine gute Bildung angedeihen lassen und hoffen, dass sie einen Weißen als Mann findet. Aber die Wurzeln sind nicht verschwunden. Alice muss sie nur entdecken, ausgraben, rekonstruieren. Tänzerisch – im wahrsten Sinne des Wortes – bricht Alice aus dem Teufelskreis aus, zerreißt die Fesseln einer neuen Versklavung für sich im Rhythmus von Trommeln, der seine Kraft aus ausgehöhlten Baumstämmen und den darüber gespannten Tierhäuten zieht. Was für sie Entfesselung und Befreiung, ist für ihre Familie wie eine Katastrophe, die Zerstörung des Aufstiegs, der den schwarzen Makel abschütteln sollte.

Für Alice tut sich eine neue Welt auf. Sie zieht „die Schuhe“ aus, die den natürlichen Kontakt ihrer Fußsohlen mit der dem Boden verhindern. „Ich fühlte, wie der Boden sich auftat und plötzlich unter meinen Füßen die ganze Erde erzitterte und zu klingen begann, die Bäume, die Berge und die endlosen Flüsse“, lässt Yanick Lahens ihre Protagonistin Alice Bienaimé in Ich-Form in ihrem Erstlingsroman erzählen.
Aber der Roman ist nicht nur die phantastische Beschreibung eines jungen Mädchens, das sich der Norm und des familiären Zwangs durch die Besinnung auf sich selbst entzieht. Es ist auch ein subtiler Roman über die Befindlichkeit eines Landes, das sich vor zwei Jahrhunderten als erste lateinamerikanische Nation von seinen Kolonialherren befreite, aber heute am Rande des Chaos lebt, in dem knapp fünfzig Prozent der Bevölkerung weniger als einen halben Euro am Tag für das Bestreiten des Lebensunterhaltes besitzt. 

Ein Land, in dem wie in keinem anderen lateinamerikanischen oder karibischen Land die afrikanischen Wurzeln noch so deutlich vorhanden sind, der Rhythmus als Seelenbalsam, die Kenntnisse der Heilkundigen, die mit Kräutern helfen, die gegenseitige Hilfe und der Solidarität den Schwächeren gegenüber. All dieses wird als Ausgeburt der Primitivität und des Rückschritts von jenen begriffen, die das politische, gesellschaftliche und vor allem das wirtschaftliche Sagen im „Land der Berge“ haben.
Die 1953 in Port-au-Prince geborene Yanick Lahens lebt heute wieder nach langen Auslandsaufenthalten in der haitianischen Hauptstadt und versucht als Dozentin an der Universität der Literatur des Landes neue Impulse zu geben. Die von ihr mit gegründete Schriftstellervereinigung organisiert Lesungen in Schulen, versucht Literatur dort zu präsentieren, wo noch immer die Mehrheit der Analphabeten lebt, auf dem Land. Lahens, die im Jahre 2002 im Rahmen der Leipziger Buchmesse den „Förderpreis der Initiative LiBeraturpreis“ erhalten hat, gibt Hoffnung: „Die ersten Trommelwirbel sind aus dem Bauch der Erde zu hören.“ 

Yanick Lahens, Tanz der Ahnen, aus dem Französischen von Jutta Himmelreich, Rotpunktverlag, Zürich, 160 Seiten, 17 Euro