ila

Der Qhella

Sein Nachgeben hält den bolivianischen Präsidenten im Amt

Präsident Mesa solle sich nicht so anstellen, beschwerte sich Oppositionsführer Evo Morales, nachdem die bolivianische Abgeordnetenkammer Anfang März die zweite Rücktrittsdrohung von Carlos Mesa ignoriert und nicht nur die von ihm vorgeschlagene Ausschreibung von Neuwahlen abgelehnt, sondern auch noch ein Erdölgesetz auf den Weg gebracht hatte, das Mesa strikt ablehnt. Er sei ein „Qhella“, meinte Morales, der nicht selten selbst als ebensolcher, nämlich launischer Bauernjunge, der nicht mitmachen will, kritisiert worden war. Es dauerte einige Momente, bis die anwesende Presse merkte, dass sie Morales überhaupt nicht verstanden hatte. Symptomatisch für die letzten Monate. Die Medien hatten es wochenlang versäumt, ernsthaft über die Hintergründe zu informieren, und waren zum Sprachrohr der Regierung und der mit der Agraroligarchie des Tieflands und den Erdölkonzernen wieder alliierten Mittelschichten geworden. Und der Historiker im Präsidentenamt hatte die Erkenntnis aus seiner Antrittsrede vergessen, dass Bolivien nicht mehr gegen die indianischen und kleinbäuerlichen Mehrheiten regiert werden kann. Stattdessen hatte Mesa Rückendeckung bei den städtischen Mittelschichten gesucht, die ihm die nach wie vor hohen Sympathiewerte bei Meinungsumfragen in den Großstädten sicherten.

Peter Strack

Es war die Autonomiebewegung im Tiefland von Santa Cruz, die, vorbereitet von einer geduldigen Presse- und Lobbyarbeit der transnationalen Konzerne wie der US-Botschaft, Anfang des Jahres die allgemeine Unzufriedenheit über die Subventionskürzungen bei Treibstoffen für einen Frontalangriff auf das Zweckbündnis zwischen dem ohne parlamentarische Mehrheit regierenden Carlos Mesa und Evo Morales’ „Bewegung für den Sozialismus“ (MAS; vgl. ila 282, S.50), der die sozialen Bewegungen unter Kontrolle zu haben schien und selbst für die Mittelschichten immer attraktiver geworden war, genutzt hatte. Die wachsenden Stimmenanteile des MAS bei den Kommunalwahlen hatten die wirtschaftliche Elite aus traditionellen spanischstämmigen bzw. Einwandererfamilien vor allem deutschen oder kroatischen Ursprungs aufhorchen lassen. Und wie immer in der Geschichte, wenn die Regierung in La Paz der Agraroligarchie, den Exportplantagen und den lokalen Enklaven oder Anteilseignern der internationalen Unternehmen nicht mit Subventionen, Steuergeschenken und zentralen Posten in der öffentlichen Verwaltung entgegen kam, war auch diesmal wieder das Comité Cívico, das Bürgerkomitee, aktiv geworden. Zunächst ging es um die vor allem ökologisch fragwürdigen Treibstoffsubventionen. Diese helfen nicht nur einkommensschwachen Familien, sondern fördern auch den Sojaexport und führen zur Ausweitung der landwirtschaftlichen Flächen auf Kosten der Waldreserven. Dann ging es um die regionale Autonomie. Vor allem der Präfekt, Carlos Hugo Molina, der bei Landkonflikten zwischen Großgrundbesitzern und Landlosenbewegung auf Verhandlungen statt auf gewaltsame Räumung gesetzt hatte und sich in der Präfektur mühte, gegen Korruption und Klientelismus vorzugehen, war vielen ein Dorn im Auge. Auch wollte man der bevorstehenden Verfassunggebenden Versammlung zuvorkommen, von der weitere Mitbestimmungsrechte der indigenen Bevölkerung zu erwarten sind.

Da wurden ganze Belegschaften zum Demonstrieren geschickt und tausende Cruzeños und Cruzeñas (BewohnerInnen von Santa Cruz) schlossen sich unter dem Banner der Autonomieforderung freiwillig den Protesten an. Die rassistische gegen die Hochlandbevölkerung polemisierende Jugendbewegung der Nación Camba besetzte öffentliche Einrichtungen. Selbst die liberale Presse der Tieflandmetropole verbot ihren MitarbeiterInnen, kritisch über diesen von der Elite inszenierten Aufstand zu berichten. Ein Drehbuch, das an Venezuela erinnerte und an dem wie in Venezuela auch die internationalen Erdölkonzerne, die über die Unternehmerverbände im Bürgerkomitee vertreten sind, mitgeschrieben haben. Präsident Mesa, der die Elite von Santa Cruz zeitweise heftigst als verfassungsfeindlich attackiert hatte und von ihr zum Feind von Santa Cruz erklärt worden war, willigte schließlich in einen Kompromiss ein, der dem gesamten Land dienlich sein würde und den die Tiefland-Caudillos als Erfolg präsentieren konnten: die teilweise Rücknahme der Subventionskürzungen für Treibstoffe und die Durchführung eines Referendums über erhöhte Autonomie der Departamentos. So sollte die Bevölkerung künftig auch die Präfekten direkt wählen können. Carlos Mesa konnte sich im Parlament inzwischen zwar auf die Unterstützung einer Gruppe von dissidenten Abgeordneten aus traditionellen Parteien wie auch der MAS stützen, doch ihm musste klar sein, dass er bei einem der konfliktivsten Themen der bolivianischen Politik, der Erdöl- und Erdgaspolitik, mit seiner unternehmensfreundlichen wirtschaftspolitischen Position nicht mehr auf den MAS zählen konnte und auf Bündnispartner in den traditionellen Parteien angewiesen war.

Der Augenblick schien günstig. Evo Morales war innerhalb der Bauernbewegung und selbst bei seiner Hausmacht, den Cocaleros, wegen seines häufig autoritären Führungsstils unter Druck geraten und hatte mit seinen zahlreichen Auslandsreisen und seinem Parlamentsamt Präsenz an der Basis verloren. Gewerkschafter kritisierten seinen gemäßigten Kurs. In Cochabamba hatten vermutlich die gleichen AktivistInnen die Gleichung Mesa = Evo an Hauswände gepinselt, auf denen sie nicht lange zuvor die Parolen „Mesa = Goni“, oder „Mesa, Höfling der Konzerne“ zum Besten gegeben hatten. Neue Köpfe setzten sich an die Spitze der sozialen Bewegungen, etwa Abel Mamani von der Föderation der Nachbarschaftsvereinigungen in El Alto. Die drängten mit Streiks und Blockaden darauf, dass die zum französischen Konzern Suez gehörenden Wasserwerke „Aguas de Illimani“ wieder in einheimische Hände kommen sollten. Die Geschichte scheint immer die gleiche: Eine Ausschreibung, bei der kleine Lösungen oder nationale Anbieter keine Chance haben. Der Abschluss von Verträgen mit der Wasserbehörde, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit zugunsten des Investors dann wieder geändert werden. Die Enttäuschung von Gewinnerwartungen beim Konzern, weil die Menschen sich so viel teures Wasser schlicht nicht leisten können und – ökologisch wünschenswert, aber häufig unter Hintanstellung der Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse – lieber sparen. Dem folgt die Nichterfüllung von Investitionsversprechen. Die betroffenen Menschen müssen nicht selten wie schon früher selbst Hand anlegen beim Ausheben von Gräben und müssen die Rohre selbst beschaffen, wollen sie ans Wassersystem angeschlossen werden. Und diese Menschen fragen sich, warum man für höhere Preise bei gleich schlechtem Service einen ausländischen Konzern benötigt. 

Was für die einen ein Alltagsproblem ist, bot den anderen die Chance, erneut die Systemfrage zu stellen und sich wie Jaime Solares vom Gewerkschaftsbund COB oder Oscar Olviera von der Wasserkoordination in Cochabamba politisch wieder ins Gespräch zu bringen. Es führte auch zur Radikalisierung von Bauernführer Evo Morales, den manche mit seiner Annäherung an die Mittelschichten schon als nächsten Präsidenten gesehen hatten, der aber nun wieder bei der ureigenen Basis Boden gutzumachen versuchte. Der Rechtsruck von Carlos Mesa kam dem nur gelegen und machte die Radikalisierung gleichzeitig nötig. Denn genauso wenig, wie heute eine Regierung den Unternehmenssektor oder die internationalen Finanzorganisationen ignorieren kann, kann der Staat an den organisierten Kleinbauern und sozialen Bewegungen vorbei Entscheidungen treffen. Dass die Regierung dies dennoch versucht hat und die Gesellschaft sich erneut zwischen städtischen Mittel- und Oberschichten einerseits und indianischer und kleinbäuerlicher Bevölkerung andererseits polarisiert hat, lag wohl am Thema der Erdölpolitik, bei dem externe Akteure wie die US-Botschaft eine wichtige Rolle spielen, auch wenn sie nach Oktober 2003 darauf verzichteten, öffentlich aufzutreten. Dass die Debatte um Zahlen und juristische Feinheiten des Erdölgesetzes ging, machte sie nicht weniger leidenschaftlich. Der Regierungsvorschlag 18 Prozent Royalities plus 32 Prozent Steuern auf die Produktion am Bohrloch schien sich im Endeffekt nicht zu unterscheiden von den 50 Prozent Royalities, die die MAS vorschlug. Für die 50 Prozent Royalities machten jedoch die Bauernorganisationen in verschiedenen Landesteilen, vor allem aber in der Kokaanbauregion Chapare, mit Straßenblockaden massiv Druck.

Die Ablehnung der in der ILO-Konvention zu indigenen Völkern vorgesehenen Konsultationspflicht bei Bohrungen auf indianischen Territorien durch die Regierung war ein Indiz für die indianischen und Bauernorganisationen, dass es um wesentlich mehr ging als unterschiedliche mathematische Formeln, um vermeintlich zur gleichen Summe zu kommen. Frisch genug war auch noch die Erinnerung an die Ergebnisse der Überprüfung der Privatisierungspolitik, nach denen kaum ein Erdölkonzern die Vereinbarungen erfüllt und nicht einmal die unter der Regierung von Sánchez de Lozada festgelegten, konkurrenzlos niedrigen Steuern gezahlt hatte. Die Royalities, so die sozialen Bewegungen, seien die Lösung für Steuerhinterziehung durch Buchhaltungsakrobatik. Während der Druck von der Straße zunahm, mobilisierte die Regierung die veröffentliche Meinung. Die zeigte zunehmend Unverständnis für die Blockaden. Die Unternehmerschaft und Massenmedien, die in Santa Cruz die Besetzung öffentlicher Gebäude und Blockaden von Straßen noch kurz zuvor zur historischen Großtat hochstilisiert hatten, wurden plötzlich wieder gesetzestreu und forderten die Anwendung der hohen Gefängnisstrafen. Die waren noch unter der Regierung von Sánchez de Lozada in Gesetzesform gegossen worden, um soziale Proteste niederzuschlagen. Doch all das, die immer offener und in Stellungnahmen teilweise rassistisch zur Schau getragenen Versuche, die Proteste in die Ecke zu drängen, führte zu ihrer Radikalisierung und weiterer Mobilisierung. Während der militärische Generalstab sich verfassungstreu zurückhielt, organisierte sich auf der Offiziersebene eine Gruppe mit Putschideen, die jedoch in den eigenen Reihen erst einmal wenig Rückhalt fand und zunächst durch Versetzung in entfernte Provinzen neutralisiert wurde. Aber die Eliten und traditionellen Parlamentsparteien, die um die Erfüllung der Zugeständnisse durch einen neuerlichen Richtungswechsel des Präsidenten bangten, forderten, Mesa solle endlich beginnen zu regieren. 

Der Showdown kam am ersten Sonntagabend im März mit einer Pressekonferenz, auf der Carlos Mesa rhetorisch brillant zunächst die Eliten von Santa Cruz, aber insbesondere Evo Morales und die sozialen Bewegungen wegen ihrer Blockadepolitik anklagte. Sie machten das Land unregierbar. Da er sich weigere, das Militär oder Polizeigewalt zur Auflösung der Blockaden einzusetzen, weil er kein Blut vergießen wolle, sei er definitiv am Ende seiner Möglichkeiten angelangt und biete dem Parlament seinen Rücktritt an. Was zunächst wie ein Eingeständnis der Schwäche aussah und bei den traditionellen Parteien erste Kalküle über die Verteilung des Machtkuchens, über Zugeständnisse bei den nur mühsam vorankommenden Prozessen gegen die Verantwortlichen der Massaker vom Februar und Oktober 2003 provozierte, erwies sich als erfolgreicher medialer Schachzug, um sich die Unterstützung der Parlamentsabgeordneten zu sichern und die sozialen Bewegungen unter Druck zu setzen. Noch während der Rede sammelten sich DemonstrantInnen mit weißen Taschentüchern vor dem Regierungspalast, um Mesa zu unterstützen. Er hatte erwähnt, wie tief ihn DemonstrantInnen in Oruro berührt hatten, die ihm mit weißen Taschentüchern zugewunken hatten. Mit dem auf den Zuschauer gerichteteten ausgestreckten Zeigefinger und dem für ihn typischen „Usted“ (Sie da!) appellierte er an jeden einzelnen Zuschauer, an „das Volk“, das ihn in großer Mehrheit unterstütze. Nur einige Quertreiber ließen ihn nicht regieren. Fortan war das weiße Taschentuch das Symbol zahlreicher Demonstrationen, vor allem der Mittelschichten, gegen die Straßenblockaden und für Mesa. Selbst BewohnerInnen von El Alto, dessen Bevölkerung gespalten war, sangen auf der Plaza Murillo vor dem Regierungssitz die berühmt gewordenen Spottgesänge gegen Sánchez de Lozada, nur dass dessen Spitzname Goni diesmal durch den von Evo Morales ausgetauscht worden war. 

Der sollte sich nur langsam aus der medialen Defensive erholen und paradoxerweise damit, dass er die Argumente aufnahm: Ja, die Blockaden würden von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt und schadeten dem Land (13,8 Millionen Dollar Verluste pro Tag, laut Zeitungsberichten). Aber noch mehr Menschen befürworteten seinen Vorschlag für ein Erdölgesetz, das dem Land mehr Nutzen bringen würde als die Blockaden schadeten. Darauf zielten die Blockaden, nicht auf einen Rücktritt des Präsidenten. Der solle mal ruhig regieren, aber für die Interessen der Mehrheit der Menschen, nicht für die ausländischen Unternehmen. Als das Parlament am Dienstag, den 8. März, das Rücktrittsangebot des Präsidenten mit überwältigender Mehrheit ablehnte, erhob sich folglich auch die Hand von Evo Morales. Doch der „Nationalen Vereinbarung“, die Mesa zur Bedingung gemacht hatte, um nicht doch unwiderruflich zurückzutreten, stimmten MAS und die indianistische MIP des Aymara-Bauernführers Felipe Quispe nicht mehr zu. Und trotzig kündigte Morales gegen alle Kritik an: Die Blockaden würden weiter gehen. Ein wichtiger Punkt in der Vereinbarung, der zum Veto von Morales geführt hatte, nachdem seine Fraktion schon zustimmen wollte: Die Garantie der Gültigkeit der bestehenden Verträge mit den Erdölkonzernen. Zu diesem Zeitpunkt trat der Leiter von Radio Pio XII mit dem Vorschlag an die Öffentlichkeit, alle Akteure in einer Delegation zu den Erdölkonzernen zu schicken und unter den Augen und Ohren der Öffentlichkeit die Argumente und Positionen zu klären. Er traf einen zentralen Punkt des Problems. Nicht einmal der Präsident, der in seinen Reden den rationalen Diskurs zu beschwören pflegte, hatte seine Karten offen auf den Tisch gelegt, geschweige denn die Erdölunternehmen. Der Vorstoß blieb ebenso vergeblich wie Verhandlungsrunden, die von der Regierung oder dem Ombudsmann einberufen wurden. Doch das Ringen im Parlament, das sich gegenüber Mesa verpflichtet hatte, binnen Kürze das Erdölgesetz zu verbschieden, und nach langer Zeit wieder das politische Heft in die Hand genommen hatte, ging weiter. 

Als das Erdölgesetz am folgenden Dienstag (15. März) schließlich auf der Tagesordnung des Parlamentes stand, trat Mesa, der die Führungsrolle verloren hatte, überraschenderweise mitten in der Sitzung erneut mit einem „interpretativen Gesetzesvorschlag” an die Öffentlichkeit. Noch immer gelte das Erdölgesetz von Sánchez de Lozada mit seinen mickrigen Abgaben für den Staat. Und das Parlament habe seine Versprechen nicht erfüllt, griff er den zwischen den Parteien erzielten ihm nicht genehmen Kompromissen voraus. Es repräsentiere nicht die Bevölkerung und habe daher keine Legimität. Deshalb schlage er Neuwahlen im August vor, bei denen die Abgeordneten gleichzeitig Mitglieder der Verfassunggebenden Versammlung sein sollten, die unbedingt durchgeführt werden müsse. Sollte das Parlament diesen Vorschlag ablehnen, trete er unwiderruflich zurück, womit wir fast schon wieder am Anfang dieses Artikels angekommen sind. Diesmal blieben die Solidaritätsbekundungen auf der Straße jedoch aus. Rechtsexperten erklärten das „interpretative Gesetz“ schlicht für verfassungswidrig. Viele spürten, dass es ein Versuch war, Druck auszuüben, statt die offene Debatte zu suchen. Der Glaubwürdigkeitsverlust der Regierung nahm zu, als diese den im Unterhaus verabschiedeten Kompromissentwurf des Parlamentspräsidenten Cossio (18 Prozent Royalities plus 32 Prozent nicht abzugsfähige Steuern) mit dem Argument ablehnte, es sei das Gleiche wie Evo Morales 50 Prozent Royalities. Da war die Katze aus dem Sack: Tatsächlich würde der Regierungsentwurf durch Verrechnungs- und Abschreibungsmöglichkeiten in der Praxis zu weit niedrigeren Abgaben führen. Cossio konterte, dass Mesa selbst daran schuld sei mit seinen Fragen im Erdölreferendum. Bei dem hatte die Bevölkerung mehrheitlich für die Wiedergewinnung des staatlichen Eigentums an den Rohstoffreserven und Abgaben „bis zu 50 Prozent“ gestimmt. Ein „bis“, das freilich weiten Interpretationsspielraum offen lässt. Das Unterhaus, das das Zugeständnis des Weiterbestehens der alten Verträge und der Streichung der Konsultationspflicht bei den indigenen Völkern zurückgenommen hatte, habe nichts anderes getan, so Cossio, als dem Sinn der Referendumsergebnisse Gesetzesform zu verleihen. 

Im Grunde ist es eine Frage von Macht und von Geld. Auf der einen Seite Drohungen von internationalen Schiedsgerichtsverfahren und Entschädigungszahlungen, obwohl die Unternehmen selbst als erste die bestehenden Verträge gebrochen haben. Drohungen mit Kürzungen der Kredite oder von Entwicklungshilfegeldern, obwohl diese eigentlich in erster Linie der bolivianischen Bevölkerung zugute kommen sollten. Und Bedingungen für den Eintritt in die Verhandlungen zum amerikanischen Freihandelsabkommen, das ohnehin von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt wird. Auf der anderen Seite Drohungen mit Protesten und Blockaden der sozialen Bewegungen. Die wurden zum Entsetzen des Präsidenten, der auf die „gerechte Hand“, die Gerichtsverfahren als Druckmittel gegen die sozialen Bewegungen gesetzt hatte, dann vom Generalstaatsanwalt noch als „aus sich heraus noch nicht gesetzeswidrig“ eingestuft. Es sei nicht einzusehen, dass Erdölkonzerne Bolivien als Risikoland einstuften, bei denen ein Reingewinn von 25 Prozent zu fordern sei, während sie in Ländern im Krieg wie Kolumbien mit 10 Prozent zufrieden seien, meinte der Sozialwissenschaftler Rafael Puente vom Zentrum für Dokumentation und Information Bolivien (CEDIB). Franz Barrios, dem Präsidenten verbundenes Senatsmitglied der corriente democrática, konterte, die Fördermengen in Bolivien seien eben zu klein. Das könne nicht mit dem gleichen Maß gemessen werden. Doch dem normalen Handwerker, der Straßenhändlerin, dem Kleinbauern oder der Essensverkäuferin an der Ecke ist es schwer zu vermitteln, warum Erdölkonzerne mit einem Reingewinn von 25 Prozent in Millionenhöhe nach Hause gehen sollen, während bei ihnen am Monatsende selten Erspartes übrig bleibt. Es sind solche Situationen, wo 25 Jahre nach der Ermordung des populären Sozialisten Marcelo Quiroga Santa Cruz wieder Nationalisierungsforderungen laut werden. Unter dessen Ägide als Erdölminister war in Bolivien zum letzten Mal die Erdölindustrie verstaatlicht worden. Doch lauter werden ebenso die Stellungnahmen der Erdölunternehmen, künftig nicht mehr in Bolivien zu investieren. 

Wie der Poker auch angesichts diverser Interessenten aus China oder Indien an den bolivianischen Rohstoffen letztendlich ausgehen wird, wie genau der Kompromiss aussehen wird, ist bei Redaktionsschluss noch offen. Wahrscheinlich ist, dass es zu weiteren massiven Konflikten kommen wird, da der Senat, der dem Gesetz ebenfalls zustimmen muss, sich in wesentlichen Punkten wieder auf den Präsidenten zubewegt hat. Das wird erneut die sozialen Bewegungen auf den Plan rufen, die jedoch ebenfalls zu Mesa als Präsidenten keine politisch durchsetzbare Alternative sehen. Zwar hat er nach der zweiten nicht erfüllten Rücktrittsdrohung viel an Glaubwürdigkeit verloren, doch letztlich ist das auch ein Teil der Demokratie: Nicht die Ordnungskräfte auf den Plan zu rufen, wenn Proteste sich regen, nicht die Tür zuzuschlagen, wenn Lobbyisten anklopfen, nicht das Telefon aufzulegen, wenn der Anruf der Botschaft des großen Bruders kommt, sondern nachzugeben, Kompromisse zu suchen. Denn auch wenn er selbst, die wirtschaftlichen Eliten und auch die sozialen Massenorganisationen es immer wieder vergessen mögen: Bolivien ist ein multikulturelles Land mit parallelen Ordnungsstrukturen, die beide machtvoll sind. Das parlamentarische, noch weitgehend von den traditionellen Eliten beherrschte System, die Staatsnation auf der einen Seite, und die nación profunda, das indianische Bolivien, das Bolivien der Stadtteilorganisationen und Bauerngemeinden. Diese kulturell gegensätzlichen, durch den Modernisierungsprozess heute in sich jeweils aber aufgefaserten und in sich durchaus widersprüchlichen Strukturen zusammenzubinden, ist die schwierige Herausforderung der Verfassunggebenden Versammlung. Diese zum Erfolg zu bringen, dazu hat sich Carlos Mesa in seiner Antrittsrede verpflichtet. Und noch gibt es keine nennenswerte politische Kraft in Bolivien, die den intellektuellen Qhella, trotz seiner zunehmenden Launen, von dieser Verpflichtung entbinden will.