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Die offenen Feinde und ihre Gesellschaft

Oder wie man die Deutungshoheit über die Wirklichkeit gewinnt
Werner Rätz

Wer hätte es nicht schon mal gehört, vielleicht selbst gesagt: „There Ain't No Such Thing As A Free Lunch“? Das scheint uns selbstverständlich, alles im Leben hat seinen Preis. Dass es keinerlei Notwendigkeit gibt, Zusammenhänge in diesem am Marktmechanismus orientierten Schema zu deuten, fällt uns kaum noch auf. Und dennoch ist es keineswegs selbstverständlich und dieses „TANSTAAFL“- Prinzip selbst ist eine der wirkmächtigsten Formeln der intellektuellen Auseinandersetzungen der letzten fünf Jahrzehnte. Es geht zurück auf Milton Friedmanns „there is no such thing as a free meal“ und findet seinen vielleicht bekanntesten Ausdruck in Margret Thatchers “there is no such thing as a society”. (S.347) In einer verkürzten Variante wird es bei ihr zu “there is no alternative” (TINA). Bruno Leoni, ein wichtiger Theoretiker des Neoliberalismus, der sich speziell mit der Frage des Rechts beschäftigte, plädierte auch in diesem Zusammenhang gegen den Staat und die Gesetzgebung, weil diese auf die Feststellung der öffentlichen Meinung angewiesen sei, aber „there is no such thing as a social opinion“. In einer Marktwirtschaft müsse Recht von berufenen Richtern gesprochen werden, Gesetzgebung sei ein planwirtschaftliches Verfahren und könne so wenig funktionieren wie diese. (S. 155f) Und in die Debatte um gleichen Lohn für gleiche Arbeit interveniert ein anderer neoliberaler Theoretiker, Walter Williams, mit der Feststellung „There is no such thing as a just wage“ und empfiehlt auch hier die segensreiche Wirkung des Marktes, die Lohnprobleme schon lösen werde, indem sie allen Waren den angemessenen Preis zukommen lasse. (200).

Die hier zitierten Herren eint nicht nur die Rhetorik. Sie gehören auch alle zu einem exquisiten Kreis von Personen, der Mont Pèlerin Society. Diese wurde 1947 im Schweizer Bergdorf Mont Pèlerin gegründet und vereinte die damalige Prominenz liberalen Denkens. Unter den 39 Teilnehmenden befanden sich mit Maurice Allais, Milton Friedman, Friedrich August von Hayek und George J. Stigler allein vier spätere „Wirtschaftsnobelpreisträger“ sowie mit z. B. Walter Eucken, Albert Hunold, Fritz Machlup, Ludwig von Mises, Michael Polanyi, Karl Popper und William Rappard eine Vielzahl von höchst einflussreichen Persönlichkeiten der folgenden Jahre. (S. 210, 391f) Die Gesellschaft hat ihre Bedeutung kontinuierlich ausgeweitet und verfügt heute über mehr als tausend Mitglieder in über 50 Ländern. Es handelt sich dabei ganz überwiegend um Wissenschaftler (nur fünf Prozent sind Frauen) in Universitäten und privaten Instituten, aber auch um Wirtschaftsführer, Politiker und Journalisten. 

In Lateinamerika schrieben Angehörige der Gesellschaft Geschichte: „Chile unter Diktator Augusto Pinochet (diente) Wirtschaftswissenschaftlern und Wirtschaftspolitikern als ‚Versuchslabor'. Von 1975 an konnte an einem konkreten Fall und an der Bevölkerung eines konkreten Landes ein Set an Theorien aus dem Neoliberalismus ausprobiert werden. Dabei waren es nicht nur die monetaristischen Lehren resp. Doktrinen, die in Chile Anwendung fanden. Genauso wurde auf den Ansatz der Public-Choice-Theorie und auf Konzepte Hayeks zurückgegriffen. Die von den chilenischen ‚Chicago-Boys' unter Billigung und Empfehlung von Arnold Harberger und Friedman durchgeführten wirtschaftspolitischen Maßnahmen haben nicht nur den marktradikalen Umbau des Landes befördert, sondern sollten nach Aussagen Friedmans in einem Brief an Pinochet zu einer ‚effective social market economy' führen. Innerhalb des pinochistischen Gewaltrahmens boten sich für die Technokraten und Experten einzigartige Möglichkeiten, endlich ihre Vorstellung der einzig richtigen und möglichen Erkenntnis in Politik umzusetzen und entsprechende institutionelle Rahmenbedingungen zu schaffen.“ (S.176)

Zwar sind hier mit Harberger und Friedman zwei bedeutende Mitglieder der MPS eingebunden (auch Hayek ist verschiedentlich involviert), aber die unmittelbare politische Intervention ist nicht das eigentliche Anliegen der Gesellschaft. Schon beim Gründungstreffen war man sich zwar einig, dass die eigenen Einflussmöglichkeiten in Politik und Gesellschaft minimal waren (Karl Popper: „Unsere augenblickliche Lage ist beinahe zum verzweifeln.“ Übers. hier und im Folgenden WR; S. 102-106). Und so stimmte man überein, dass „die Bedeutung des Treffens darin lag, zu zeigen, dass wir nicht alleine waren“, wie es Friedman formulierte. Stigler fasst die Funktionsweise der MPS später zusammen: „Die Gesellschaft…gibt keine Bücher oder Periodika heraus, engagiert sich nicht in politischen Aktivitäten, veröffentlicht keine Erklärungen und ihre Mitglieder decken nach wie vor ein wirklich breites Spektrum an Herangehensweisen an wirtschaftliche und politische Fragen ab.“ Zwar wollte man, in den Worten Hayeks, „eine geschlossene Gesellschaft, nicht offen für alle und jeden, sondern nur für Leute, die mit uns bestimmte allgemeine Überzeugungen teilen“. Aber während die Linke sich oft bis heute Zusammenarbeit nur vorstellen kann, wenn es Einigkeit in den Inhalten, oft bis ins Detail, gibt (manch leidvolle Diskussion um das letzte Komma in irgendeinem Aktionsaufruf zeugt davon), bedeutet das für die MPS, dass sie „die Verschiedenheit willkommen heißt“ (MPS-Präsident Edwin Feulner beim Jubiläum 1997). In der 1947 verabschiedeten „Feststellung der Ziele“ heißt es folgerichtig: „Die Gruppe strebt keinerlei Propaganda an. Sie will keine detaillierte oder enge Orthodoxie etablieren. Sie ist mit keiner speziellen Partei verbunden. Ihr Ziel ist es lediglich, zu Aufbau und Sicherung einer freien Gesellschaft beizutragen, indem sie den geistigen Austausch von Meinung fördert, die von bestimmten Ideen beseelt sind und weit angelegte Konzepte miteinander teilen.“

Es ging und geht also um die Beeinflussung von Meinung. Das ist eine langfristige Aufgabe und immer wieder gab es darum Auseinandersetzungen in der MPS (und Walpen geht auf einige ausführlich ein). Zu diesem Zweck beginnt die Gesellschaft Mitte der Fünfziger Jahre mit dem Aufbau des ersten von inzwischen über 100 mit ihr verbundenen Think-Tanks, dem Insitute of Economic Affairs in Großbritannien (S.129). Diese Einrichtungen spielen im Laufe der Zeit eine immer größere Rolle in der Beeinflussung des Alltagsverstandes. Es gelingt den Neoliberalen viele scheinbare oder tatsächliche Evidenzen aufzunehmen, die Menschen tagtäglich in den sozialstaatlich regulierten kapitalistischen Gesellschaften wahrnehmen. „Auch wenn ihre Kritiken an den fordistisch-keynesianischen Politiken überzogen waren, so fielen ihre Anrufungen der Lohnabhängigen als selbstverantwortliche Subjekte im Arbeitsprozess auf einen ‚fruchtbaren Boden', denn im sozialen Gedächtnis und in der Alltagserfahrung war die monotone, repetitive und geisttötende Arbeit berechtigterweise negativ konnotiert. Gleichfalls wurden arrogantes Befehlen und Diktieren aus den vielschichtigen, gestaffelten Chefetagen verabscheut. Die Arbeitenden warteten auf jede Möglichkeit, es ‚denen dort oben' zu zeigen. Hinzu kamen die vielen Erfahrungen mit ‚arroganten' Staatsbeamten, die auch noch in der Freizeit Ärger bereiteten. Die in die Alltagssprache übersetzten Konzepte von Hayek zum ‚tacit knowlegde', dem jeweiligen in den Arbeitserfahrungen geronnen Wissen, und ihre Verbindung mit der Forderung nach mehr Handlungsspielräumen, Eigenaktivität und Selbstverantwortung fanden eine entsprechende Auftreffstruktur. Das gleiche gilt für die in der Public-Choice-Theorie angebotene ‚Rache' an den Staatsbeamten und –bürokraten, die vor allem von den neokonservativen Kräften massiv populistisch geschürt wurde und wird. Aufgegriffen wurde diese Theorie aber auch von Bürgerbewegungen in den ehemals sozialistischen Staaten.“ (S.293)

Aus diesen wenigen Ausführungen sollten die beiden wesentlichen Arbeitsstränge Walpens deutlich geworden sein. Er beschreibt zum einen die Entwicklung der Mont Pèlerin-Society seit ihrer Gründung, stellt ihre Absichten und Schwierigkeiten dar und macht ihre Bedeutung sichtbar. Dabei wird gut erkennbar, wie breit die in der Gesellschaft vertretenen Positionen waren. Insbesondere den dauernden, auch heute noch höchst virulenten Konflikt zwischen „Utopisten“ und „Pragmatikern“ arbeitet er stark heraus. Zielen die einen eher auf tagespolitische Durchsetzung des je Erreichbaren, gilt den anderen die Reinheit der Lehre alles. Benannt werden auch zahlreiche ökonomische Denkschulen, die aus der MPS kommen oder mit ihr eng verbunden sind, wie die schon erwähnten Public-Choice-Theorie oder Leonis Freiheit-und-Recht-Schule. Neben Hayek und Friedmann sind aber auch die Humankapitaltheorie von Gary Becker oder der Markttransaktionskostenansatz von Ronald Coase, beide ebenfalls Nobelpreisträger, zu erwähnen. (S.152-156). In diesem Themenkomplex wird der Leserin ein Grundwissen über wirtschaftswissenschaftliche Diskussionsstände zugetraut, ohne dass die Lektüre schwer fällt.

Einfacher ist der zweite Strang zwar für ungeübte Leser ebenfalls nicht, aber er wird mit umfassenderem Material jeweils eingeführt und dargestellt: Wie es der Untertitel verspricht, begleitet der Autor die historische Linie mit grundsätzlichen hegemonietheoretischen Überlegungen. Dazu greift er ganz wesentlich auf Konzepte Antonio Gramscis zurück. Diese werden so umfassend reflektiert, dass dem aus dem Text heraus gefolgt werden kann ohne eigene Kenntnis von Gramscis Schriften. Besonders intensiv beschäftigt er sich mit Gramscis aus dem Ablauf des ersten Weltkriegs gewonnen Bild des „Stellungskrieges“: „Die Debatte über den Staat und die radikale Staatskritik sollte im Anschluss an Gramsci selber nochmals kritisch gelesen werden. Was in der utopistischen Konzeption als eine Konsequenz des Ansatzes erschien, die Forderung nach der Abschaffung des Staates, wäre mit Gramsci als der ‚vorgeschobene Schützengraben' zu verstehen, der sich – rhetorisch – nicht nur leicht attackieren lässt, sondern der auch darüber hinwegtäuschen kann, dass sich dahinter eine ‚robuste Kette von Festungen und Kasematten' befindet.“ (S.266)

Alles in allem ein umfassendes Buch mit einem beeindruckenden Anmerkungs- und Datenapparat, das zur historischen wie zur theoretischen Aufhellung des Phänomens „Neoliberalismus“ unverzichtbar ist. Es liefert einen umfassenden Beitrag zu der notwendigen Diskussion, wie die emanzipatorischen Kräfte ihrerseits wieder Deutungshoheit über die gesellschaftliche Wirklichkeit gewinnen könnten. Autor und Verlag haben damit die geplante Reihe „zur Geschichte und Kritik der politischen Ökonomie“ mit einem Glanzstück eröffnet, das Maßstäbe setzt.

Bernhard Walpen: Die offenen Feinde und ihre Gesellschaft. Eine hegemonietheoretische Studie zu Mont Pèlerin Society ; Band 1 der Schriften zur Geschichte und Kritik der Politischen Ökonomie, Hamburg 2004, 496 Seiten, 34,80 Euro