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Schlüssellöcher, durch die man das Universum sehen kann

Eduardo Galeano über sein neues Buch „Zeit die spricht“, die Übereinstimmung von Form und Inhalt – und die Gefahren des kommerziellen Literaturbetriebs

Der Uruguayer Eduardo Galeano gehört zu den Ikonen der globalisierungskritischen Bewegung. Vor allem seine journalistischen Kolumnen verbreiten sich in Windeseile über das Internet. Kaum ist einer seiner Texte in einer Zeitung oder Zeitschrift erschienen, findet er sich schon auf zahlreichen Websites, nach einige Tagen auch in diversen Übersetzungen. Jenseits dieser politisch-publizistischen Interventionen versteht sich Eduardo Galeano aber vor allem als Schriftsteller. Als solcher hat er mit seinen Collagen aus kurzen Geschichten eine ganz eigene literarische Form geschaffen und perfektioniert. Dieser Tage ist im Wuppertaler Peter Hammer Verlag mit „Zeit die spricht“ ein neues Meisterwerk Galeanos erschienen. Gerhard Dilger hat den Autor in Montevideo getroffen und dieses Interview mit ihm geführt.

Gerhard Dilger

Herr Galeano, wie ist „Zeit die spricht“ entstanden?

Dieses Buch ist das Ergebnis von acht Jahren harter Arbeit. Es besteht aus 333 Geschichten. Sehr viele habe ich weggelassen – übrig geblieben sind die, die sich miteinander verknüpft haben, die zusammenpassten. Wie bunte Fäden kommen sie zusammen, um ein Gewebe zu bilden. 

Wie hat man sich das vorzustellen – arbeiten Sie mit einem Zettelkasten?

Nein. Manchmal schreibe ich mir etwas auf, damit ich es nicht vergesse, dann bearbeite ich es, ausgehend von einer Skizze, einem Gekritzel. Oft fängt es mit den winzigen Notizbüchern an, die ich immer in der Hosentasche habe, in denen ich die Dinge aufschreibe, die ich höre, an die ich mich erinnere oder von denen ich denke, dass sie einen gewissen Zauber haben. 

Diese Dinge sind wie Schlüssellöcher, durch die man das Universum sehen kann: vom Kleinen aus das Große, vom Besonderen das Universelle, von dem, was winzig erscheint, das, worauf es wirklich ankommt. Ich mache also Notizen, und dann fange ich an, den Text zu bearbeiten, schreibe eine Version, zwei, zehn oder zwanzig. Deswegen brauche ich so viel Zeit: Um Geschichten zu erzählen, bei denen kein Wort zuviel ist. Es geht also um die Suche nach den Worten, die aus der Notwendigkeit geboren werden, dass man sie ausspricht, die es wert sind zu existieren, die besser sind als die Stille. Das erfordert sehr viel Arbeit. 

Und es ist wohl schwieriger, als Essays zu schreiben?

Ja, viel schwieriger. Das Buch „Die Füße nach oben“ (2000) habe ich in zwei Jahren geschrieben. Und während ich es geschrieben habe, habe ich weiter an „Zeit die spricht“ gearbeitet. Für die kurzen Texte brauche ich am längsten. Mir gefällt der kleine Raum, die Konzentration. Es sind Gedichte, die so tun, als wären sie Prosa.

Die Struktur von „Die Füße nach oben“ ist anders: Da gibt es kleine Texte, die eingeschoben sind in einen Essay, der eher traditionell geschrieben ist. Diese langen Texte schreibe ich schnell, die kosten mich keine Mühe. Der Text, der mir gefällt, ist der, der mich Arbeit kostet, das Konzentrat, das in wenigen Worten viel aussagt. Wie die Engländer sagen, less is more... Außerdem kann ich so eine perfekte Übereinstimmung zwischen Verpackung und Inhalt finden.

Wo besteht da der Zusammenhang? 

Das hat mit meinen Ideen zu tun, mit meiner Art, die menschliche Geschichte zu sehen. Meine Weltsicht geht aus vom Respekt für alles, was verachtet wird, für die kleinen, scheinbar unbedeutenden Dinge und von meinem tiefen Misstrauen gegenüber allem Großkotzigen, Spektakulären, Mächtigen. Bei dieser extrem konzentrierten Literatur fühle ich, dass Hand und Handschuh zusammenpassen, denn es ist eine Hommage an die ganz kleinen Dinge. Diese Minitexte fügen sich also in eine größere Struktur... 

...das Gewebe, von dem Sie vorher sprachen?

Daraus wird eine andere Wirklichkeit, darum geht es mir. Ich versuche das zusammenzufügen, was von einem weltweit funktionierenden Mechanismus der Trennungen auseineinandergerissen wird, der alles zerbricht, was er berührt. Er trennt die Seele vom Körper ab, die Vergangenheit von der Gegenwart, das Gefühl vom Verstand. 

Wie schon in Ihren vorherigen Büchern werden viele Texte durch kleine Vignetten illustriert. Was steckt dahinter? 

Das sind Bilder aus der peruanischen Region Cajamarca. Die meisten hat ein Freund entdeckt, der seit 40 Jahren daran arbeitet. Einige von ihnen sind Tausende Jahre alt, 10 000, 15 000 Jahre, und sie sind phantastisch, so perfekt wie von Picasso. Sie sehen aus, als wären sie letzte Woche entstanden. Aber es sind anonyme, in Felsen eingravierte Werke. 

Mir gefällt es sehr, all das wiederherzustellen, was verachtet worden ist, wie zum Beispiel die Holzschnitte in „Die Füße nach oben“ von José Guadalupe Posada, dem mexikanischen Künstler, der vor 100 Jahren gestorben ist, aber lebendiger ist als wir. Oder jene in „Wandelnde Worte“ (1997) von dem Brasilianer José Francisco Borges, dem letzten Mohikaner der Cordel-Tradition (Heftchen-Literatur aus dem brasilianischen Nordosten, GD). An jenem Buch haben wir zusammen drei Jahre lang gearbeitet, auch darin gibt es die Übereinstimmung zwischen Bild und Wort, die wiederum der Korrespondenz zwischen Form und Inhalt entspricht. 

Was ist Ihr nächstes Projekt?

Die Bücher schreiben mich. Ich weiß nie, was ich machen werde, ganz allmächlich wachsen sie in mir und werden zu dem, was sie werden wollen. Wir Uruguayer sind langsam. Die uruguayischen Kühe gebären langsam. Die uruguayischen Fußballspieler nehmen den Ball an und überlegen zehn Minuten lang... Ich nehme mir meine Zeit, ohne Konzessionen an den kommerziellen Druck. Ich lebe von dem, was ich schreibe, das reicht. Aber Versuchungen gibt es immer, mir haben sie Millionen versprochen. Das ist eine Falle: Wenn du da einsteigt, kommst du nicht mehr heraus. 

Wie meinen Sie das? 

Zum Beispiel literarische Verträge auf Zeit, ein Buch in einem Jahr, dann zwei Jahre darauf das nächste. Oder der Zwang, an diesen anstrengenden Werbetourneen teilzunehmen... Ich arbeite mit kleinen, unabhängigen Verlagen, das verschafft mir Freiheit. Das andere wäre gelinde gesagt unbequem – und paradox: Wenn ich gegen die Zivilisation bin, die alles zur Ware macht, was es berührt, für die Dinge wichtiger sind als Menschen, die den solidarischen Internationalismus durch die Globalisierung der Ware ersetzt, warum sollte ich mich selbst zur Ware machen? Es wäre unerträglich. Ich habe mich immer geweigert, solche Verträge zu unterschreiben, wie sie manche meiner Freunde unterschrieben haben, denn ich habe gesehen, wie sehr sie dadurch zu Gefangenen wurden. Dann hört die Literatur auf, ein Vergnügen zu sein und wird zur Pflicht.

Eduardo Galeano: Zeit die spricht, Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2005, 360 Seiten, 22,- Euro

Das Gespräch führte Gerhard Dilger in Montevideo.