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Escenario Latino

Lateinamerikanische Präsenz in der Berliner Theaterwelt

Es sind viele und sie sind verstreut, sie realisieren Aufführungen, entwerfen das Design, gründen Theatergruppen, träumen, lösen sich auf und wie Phönix werden sie aus der Asche neu geboren. Diese dramatische Beschreibung wird einer Theaterszene nur unzulänglich gerecht, die seit mehr als zwanzig Jahren ihren Platz in dieser Stadt hat. Sie ist nicht immer sichtbar, aber beständig: SchauspielerInnen, TänzerInnen, BühnenbildnerInnen, DesignerInnen, DramatikerInnen und RegisseurInnen. Sie arbeiten auf Deutsch und auf Spanisch. Ein Blick auf den Berliner Spielplan reicht aus, um sie zu finden.

Esther Andradi

Der Chilene Adolfo Assor bringt mit dem Garn Theater seit 1987 Stücke von Pessoa und Radrigán auf die Bühne, ebenso Werke von Kafka, Ionesco oder Dostojewskij. Oder die „Profis“, die bereits viele erfolgreiche Inszenierungen vorweisen können und die in den berühmten Häusern arbeiten, wie die chilenischen Regisseure Alejandro Quintana und Carlos Medina. Oder diejenigen, die Aufführungsorte und Treffpunkte schaffen, wie La Cueva, das die talentierte kubanische Schauspielerin Maria Magdalena González gründete. Sie sind produktiv wie die brasilianische Schauspielerin Telma Salvietto, die eine lange Karriere sowohl auf der Bühne für Erwachsene als auch mit Kindertheater aufweist. Sie erzählen Geschichten mit ihrem Körper wie die Tänzer Ismael Ivo und Shanti Oyarzábal. Sie sind kreativ wie das Kollektiv La Calaca von Mario Vázquez und Darinka Ezeta. Unverzichtbar sind die Tango-Veranstaltungen in Berlin wie die des Argentiniers Miguel Levin, unvergesslich die Beiträge des legendären chilenischen Theaterregisseurs Andrés Pérez (La negra Ester), der viele Spuren in Berlin hinterließ. Aus diesem reichhaltigen und vielfältigen Angebot möchte ich drei Beispiele herauspicken: die Arbeit der Theaterwerkstatt Taller Teatro Berlín, die Ende Mai ein Stück des argentinischen Autors Copi unter der Leitung des Chilenen Pedro Rubio auf die Berliner Bühne gebracht hat, und die beiden Künstler Jaime Mikán und Edmundo Torres. 

1989 schlossen sich ein argentinischer Agrarexperte, ein kolumbianischer Tänzer und ein chilenischer Theaterdesigner zusammen, um das Theatermachen zu lernen. Die erste Aufführung, aus reiner Intuition geboren, war Madame no quiere envejecer, eine freie Bearbeitung des Stücks Sarah y el grito de la langosta des Franzosen Georges Wilson, das wiederum eine Adaptation des Stücks Memoires des Kanadiers John Murrell ist. Das Stück wurde auf Spanisch aufgeführt. Da sie kein professionelles Ensemble waren, gaben sie sich den Namen Taller Teatral Berlín (Theaterwerkstatt Berlin). Dies berichtet der Schauspieler und Regisseur Pedro Rubio von den Anfängen eines der wichtigsten lateinamerikanischen Theaterensembles im Berlin der 90er Jahre. Taller Teatral Berlín wurde zum Vorbild für viele weitere Theatergruppen.

„Ab 1993 wurde für das Ensemble die Professionalität der SchauspielerInnen immer wichtiger. Deshalb wurde beschlossen, sich neu zu strukturieren und auch EuropäerInnen in die Gruppe aufzunehmen. Aber diese Auswahl reichte nicht aus, da die Gruppe über keine regelmäßigen Einkünfte verfügt, und es begann eine lange Zeit des künstlerischen und organisatorischen Stillstands“, erzählt Rubio. So entscheiden sich Rubio und zwei weitere Mitglieder der Gruppe nach einer langen Vorbereitungszeit Cool Cool! zu inszenieren, eine freie Bearbeitung des Stücks Le Frigo von Copi, einem argentinischen Autor, der in Paris lebte und dessen Werk in vieler Hinsicht grenzüberschreitend ist. Es ist das erste und einzige Mal, dass ein Stück von Copi in Berlin aufgeführt wird, obwohl Copi in Frankreich, wo er 1987 starb, schon zu Lebzeiten Kultstatus genoss und seit den 90er Jahren in Argentinien wiederentdeckt wurde. Copi ist das Pseudonym von Raúl Damonte, der sich 1962 endgültig in Paris niederließ. Copi war ein vielfältig begabter Künstler, er zeichnete, seine Comics wurden u.a. in Le Nouvel Observateur abgedruckt (La mujer sentada heißt einer seiner bekanntesten), und ab 1968 begann er Theaterstücke zu schreiben. Siebzehn Stücke waren es bei seinem Tod. Außerdem war er ein außergewöhnlicher Travesti-Künstler, der auf Französisch und Italienisch auftrat.

Pedro Rubio dazu:

Warum Copi?

Weil er Grenzen überschreitet und provoziert. Alle seine Stücke beschäftigen sich mit Identität und Tod. Obwohl sie auf den ersten Blick phantastisch und belanglos scheinen, sind sie ernst und tiefschürfend. Seine Figuren haben immer große Schwierigkeiten, zu wissen, wer sie sind und wohin sie gehen. Sie sind immer unterwegs. Und obwohl sein Theater anfangs vielleicht brutal und sarkastisch wirkt, ist es von einer tiefen Liebe zum Leben und den vom Dasein gebeutelten, zurückgewiesenen und an den Rand gedrängten Menschen geprägt.

Wie entsteht Identität und Spannung in dem Werk?

Das Ziel von Copi – und auch von uns – ist es nicht, sich an der Konservierung von traditionellen kulturellen Identitäten und ähnlichen sozialen Normen zu beteiligen, sondern zu suchen und zu beschreiben, bis an die Grenzen der Realität zu gehen, Anstrengungen zu unternehmen, um neue Wege aufzuzeigen und das Theater als offenen Raum zu benutzen. Wir glauben, dass wir mit der Inszenierung von Cool, cool! nicht nur zum Dialog zwischen den Kulturen beitragen, sondern auch dazu, die Stereotypen von anderen Kulturen abzubauen.

Das Stück wurde auf Französisch von einem argentinischen Autor geschrieben und wird von einer interkulturellen Gruppe in Berlin aufgeführt – was für Schwierigkeiten ergaben sich dabei?

Zuerst haben wir das Stück ins Spanische übersetzt. Die größte Schwierigkeit dabei war es, die Kraft, die Explosivität und die verbale Gewalt beizubehalten, ohne das Stück zu „bereinigen”. Dann übersetzten wir das Stück ins Deutsche. Dabei war es schwierig, die Spannung der einzelnen Situationen nicht zu verlieren. Wir wollten es nicht normal oder „modern” machen. Zu provozieren und zu erstaunen, ohne die Form zu verändern und das Stück in einem sozialen und religiösen Kontext zu zeigen, der nicht der Kontext einer lateinamerikanischen Gesellschaft ist, war nicht leicht. Um nicht in Versuchung zu geraten, haben wir uns entschieden, das Stück abwechselnd auf Deutsch und Spanisch aufzuführen.

 

Jaime Mikan   Der Regisseur, Choreograf und Schauspieler

Der 1966 in Bogotá geborene Jaime Mikan machte zunächst eine Tanzausbildung beim kolumbianischen Nationalballett. Seit mehr als zwanzig Jahren lebt er in Berlin. Hier studierte er Theaterwissenschaften, setzte seine Ausbildung bei Heiner Müller fort, beteiligte sich in den 90er Jahren aktiv an der Theatergruppe Taller Teatral Berlín, arbeitete zusammen mit Alejandro Quintana in Inszenierungen des Berliner Ensembles und lernte u.a. bei Michael Bogdanov, Jan Kott und Keith Johnston. Er leitet das Theaterlaboratorium Interval, das „Der Traum ein Leben“ des Österreichers Franz Grillparzer auf die Bühne brachte (inspiriert von dem Stück Calderóns). Er unterrichtet Schauspiel und Improvisation am ISFF, dem Institut für Schauspiel, Film- und Fernsehberufe. Unter seiner Regie führte die freie Theatergruppe Molino „Der Kreidekreis“ auf, nach der deutschen Erstübersetzung aus dem Chinesischen von Klabund aus den 20er Jahren, an der sich später Bertolt Brecht für sein bekanntes Stück orientierte. Er tritt auch in der Tanztheatergruppe Salpuri auf.

Du arbeitest seit Jahren intensiv in der Berliner Theaterszene. Was hältst du von der Arbeit der „Latinos“ in Berlin?

Es ist schwierig, Gemeinsamkeiten in der Theaterarbeit der Latinos in Berlin auszumachen. Obwohl unsere Arbeit natürlich auf die eine oder andere Form mit unserer Kultur zu tun hat. Wir machen alle sehr unterschiedliche Sachen. Vielleicht könnte man sagen, dass generell unsere Körperarbeit und unser Sinn für Rhythmus bewundert werden, da die deutsche Kultur ein anderes Körpergefühl hat. Musik und Tanz mit Latino-Wurzeln werden sehr gut aufgenommen. Und unsere Sorte Humor hat auch einen guten Ruf, vor allem, weil wir über uns selbst und unsere Missgeschicke lachen können.

Wenn du die deutsche Theaterszene beeinflussen oder ändern könntest, was würdest du tun?

Was die Ausbildung angeht, würde ich die Dienstleistungsfunktion hervorheben, die unser Beruf hat und nach Möglichkeiten suchen, übertriebene Egos zu dämpfen. Was die Organisation betrifft, da würde ich die Zusammenarbeit der Ensembles stärker fördern, so dass die Gruppe ausreichend Zeit hat, um sich mit dem jeweiligen Stück auseinander zu setzen und sich intensiv mit den menschlichen Verhaltensweisen und Konflikten zu beschäftigen. Qualität zu produzieren ist eine Verantwortung, und Quantität zieht vielleicht mehr BesucherInnen zu den Erstaufführungen, aber so gewinnt man nicht die Herzen der Menschen. Das führt dazu, dass die Theatersäle nach der Premiere immer leerer werden. Zu den Inhalten: Ich würde mehr Gewicht auf die Suche nach den Wurzeln der menschlichen und sozialen Werte der deutschen Kultur legen. Die deutsche Geschichte reicht viel weiter zurück als der Nationalsozialismus. Dieser benutzte und missbrauchte viele gute deutsche Eigenschaften, wie auch antike Symbole aus anderen Kulturen. Irrtümer einzusehen und sie zu korrigieren ist die Basis für jede Entwicklung. Seine positiven Eigenschaften anzuerkennen ist unverzichtbar für die Identität eines Volkes, seine Zukunftsvorstellungen und eine vernünftige Beziehung zwischen der eigenen Bevölkerung und Menschen aus anderen Kulturen.

 

Edmundo Torres   Der Performancekünstler, Maskenmacher und künstlerische Direktor 

Edmundo Torres wurde in Puno in Peru nahe der bolivianischen Grenze geboren, einer an Traditionen sehr reichen Region. Er studierte bildende Kunst und Theater in Lima, war Teil des Ensembles des Teatro Nacional Popular, bis er Mitglied der mythischen Theatergruppe Yuyachkani wurde. Seit zwanzig Jahren beteiligt er sich an den Aufführungen von Yuyachkani in Peru und auf der ganzen Welt. Außerdem studierte er Maskenbau in Mailand. Seit 1985 pendelt er zwischen Lima und Berlin und nimmt am künstlerischern und kulturellen Leben auf beiden Seiten des Pazifiks teil. Torres stellt Masken nach volkstümlichen und traditionellen Mythen her, um sie im Theater einzusetzen, und dadurch ist er mit den verschiedensten Theatergruppen und -projekten sowohl in Berlin als auch in Europa verbunden.

Berühmt ist seine Version der Calaca-Catrina nach der Graphik des Mexikaners José Guadalupe Posada, die zu einem Markenzeichen Mexikos wurde. Mit dieser Maske nahm er an Inszenierungen auf ganz verschiedenen Bühnen teil. Mit seiner Maske „Frida”, einer Wiedererschaffung der mexikanischen Malerin Frida Kahlo, war Edmundo Torres der „ungeplante” Schlussakt bei der Verleihung der Ehrendoktorwürde an den Schriftsteller Carlos Fuentes an der Freien Universität Berlin. Die ernsthaften Reden waren bereits vorbei, das Publikum fing bereits an aufzubrechen, da erklangen Gitarrenklänge. Eine Stimme sang das berühmte mexikanische Lied „Llorona” und es erschien die beeindruckende Gestalt der Frida. Magische Momente, poetische Blitze – die Performances von Torres lassen die Berliner Szene in einem anderen Licht erstrahlen.

„Ich habe das Gefühl, dass das zeitgenössische Theater wunderbare Traditionen verloren hat. Man braucht nur einen Blick auf die ganze Breite der Volksfeste zu werfen, um zu sehen, wie viele unbestreitbar theatralische Elemente sie beinhalten. Das Theater ist kein Hörsaal, es ist auch keine Tribüne, keine Messe und keine Kaserne, obwohl es Elemente von alldem aufweisen kann.” Das ist der kritische Kommentar von Torres, als ich ihn nach seiner Meinung zum Berliner Theater frage. „Ich sehe viel Förmlichkeit und viel Theoriearbeit, aber sie vergessen den Körper. Ein anderer wichtiger Aspekt des Theaters ist die Unterhaltung. Ich zitiere Brecht: ‚Man geht ins Theater aus Vergnügen und nicht aus Pflicht.'“

Und wie siehst du das lateinamerikanische Theater in Berlin?

Das Theater, das wir in Berlin machen, findet in versteckten Nischen statt, weil wir es trotz unserer großen Talente bisher nicht geschafft haben, ein gemeinsames Projekt ins Leben zu rufen. Es ist, als ob uns manchmal die Überzeugung fehlt, wer wir sind, was wir leisten, wie wir mit unserer Arbeit die Theaterszene bereichern. Das Ergebnis sieht man in den Medien. Sie ignorieren uns. Wir sind kein Modethema wie die OsteuropäerInnen und wir sind keine Gringos. Schau dir die geringe Resonanz in den Medien zum Berliner „mexikanischen Totenfest“ an, zu dem immer viele Menschen kommen und das jedes Jahr besser wird. Ich glaube, dass unsere Arbeit eine andere Antwort von der Gesellschaft, in der wir leben, verdient hat – eine Antwort, die dem Talent der lateinamerikanischen KünstlerInnen mehr entspricht.

Woran arbeitest du gerade und was waren deine beiden letzten Vorstellungen?

Meine letzte Arbeit war die künstlerische Betreuung der peruanischen Karnevalsgruppe Ríos Profundos für den Karneval der Kulturen. Und letztes Jahr habe ich zusammen mit Miguel Rubio von Yuyachkani und dem Künstler Coqui Baldeón am Forum de las Culturas in Barcelona teilgenommen. Wir haben zusammen eine Show mit Maskenspiel entwickelt und hatten einen riesigen Erfolg, so dass unser Vertrag sogar um eine Woche verlängert wurde.