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Benutzbar, verzichtbar, wegwerfbar

Interview mit Isabel Ascencio vom Instituto de la Mujer, El Salvador

In El Salvador wird Feminizid von verschiedenen Frauenorganisationen ziemlich breit definiert, um die patriarchalischen Herrschafts- und Gewaltstrukturen sichtbar zu machen. In der breiten Öffentlichkeit, soweit sie sich in den Massenmedien widerspiegelt, kommt dies jedoch nicht an. Dort wird immer nur über die Spitze des Eisbergs berichtet, die Frauenmorde. Und die Statistiken zählen zwar, wie viele Frauen ermordet werden, sagen aber nichts über die Motive aus. Oft werden auch die Mitglieder der maras, der Jugendbanden, pauschal als Täter benannt. Über ein komplexes Phänomen und seine Hintergründe unterhielt sich Eduard Fritsch mit Isabel Ascencio.

Eduard Fritsch

Gibt es Feminizid in El Salvador?

Ja. Der Feminizid ist keine neue Realität, er kommt historisch, kulturell, ideologisch, religiös von langer Hand. Feminizid fasst in einem Wort die ganze Wirklichkeit des Hasses, der Diskriminierung, der Marginalisierung, der Unterordnung zusammen, denen die Frauen ausgesetzt sind – einzig und allein, weil sie Frauen sind. Wenn wir von dieser Definition ausgehen, sehen wir in der Geschichte immer wieder Momente, in denen diese totgeschwiegene und unsichtbar gemachte Realität an die Oberfläche bricht. Die ganze Gesellschaft ist in einer Weise strukturiert, die den Hass und die Unterdrückung der Frauen hervorruft. Mit den Beiträgen all der Historikerinnen, Anthropologinnen, Philosophinnen, feministischen Wissenschaftlerinnen eben, ist nachgewiesen worden, dass System dahinter steckt, das patriarchalische System. Der Feminizid als systematische Ermordung von Frauen ist also die Spitze eines Eisbergs, den wir vorfinden, wenn wir uns die gesellschaftlichen Strukturen genauer anschauen.

Wenn ein Homizid die Ermordung eines Menschen, einer Person ist, dann ist also der Feminizid der Frauenmord, der aus Hass begangen wird oder einfach nur, weil die Person eine Frau ist?

Mit Feminizid haben wir es zu tun, wenn systematisch Frauen ermordet werden. Es gibt aber auch den alltäglichen Feminizid, es gibt ihn im Krieg und es gibt ihn im Frieden. Zu dieser erweiterten Definition gehören Folter, Verschwindenlassen, Entführungen, Mädchen- und Frauenhandel zu Zwecken der Prostitution, alle Formen der Gewalt gegen Frauen, die ihre Würde reduzieren – bis hin zum Mord und einschließlich Selbstmord. Wir sagen also: Eine Kultur, in der es direkt und verdeckt alle jene ideologischen Rechtfertigungen gibt, mit denen die Stellung der Frauen in der Gesellschaft als inferior definiert wird, eine solche Kultur führt zum Feminizid. Der Feminizid ist nicht nur der Serienmord an Frauen, sondern nach unserer Auffassung alles, was eine Frau zum Objekt reduziert, alle Formen des Sexismus, alles, was zum Feminizid im engeren Sinne führt. Hier in El Salvador hält man uns entgegen: Wie könnt ihr von Feminizid reden in unserer Kultur der Gewalt mit den vielen täglichen Morden. Aber wir Feministinnen sagen ja genau, dass die patriarchalische Kultur nicht nur die physische Integrität der Frauen verletzt. Vielmehr ist in dieser Kultur die Maskulinität so konstruiert, dass die Männer Gefahren trotzen, sich ausleben, genießen. Und wie viele Männer sterben, weil sie die Gefahr herausfordern und das nur, weil sie Männer sind?

Wenn wir uns jetzt in der schon lange bestehenden Welt des Machismo verortet haben, in dem sich die Männer für unbesiegbar halten...

...unfehlbar...

... können wir also den Feminizid als die Spitze eines Eisberges sehen. Wie du gesagt hast: Die patriarchalischen Strukturen tendieren zur Ermordung von Frauen, weil sie Frauen sind. Wie sieht das jetzt aktuell in El Salvador aus? Nach welchem Muster kommt es zum Höhepunkt der Frauenfeindlichkeit, zum Frauenmord?

Die Mörder sind Männer. Den Feminizid gibt es, weil in unserer Kultur eine Maskulinität geformt wird, die auf Vernichtung, Zerstörung und Selbstzerstörung zielt. Wir Feministinnen sagen: Diese Kultur, die zum Feminizid führt, produziert Mord im Allgemeinen. Der statistische Wettbewerb interessiert uns nicht. Die Frage, ob mehr Frauen als Männer ermordet werden oder weniger, gibt wenig Sinn in einer Kultur der massiven Selbstzerstörung. Die aktuelle Entwicklung in El Salvador auf diesem Gebiet können wir so beschreiben: Das organisierte Verbrechen infiltriert die Jugendbanden, die pandillas (maras); das führt zu den Serienmorden an männlichen Jugendlichen. Und es gibt traditionell die Männer, die in ihrem Machismus die Gefahr herausfordern und den Tod in ihr finden. Im Zentrum unserer Analyse des Feminizides geht es genau darum, diese Zusammenhänge sichtbar zu machen, die Kultur des Hasses und der Erniedrigung, die dazu führt, dass jeder meint, das Recht zu haben, eine Frau physisch, aber auch psychisch ermorden zu können. 

Wie kann man einer Frau materiell das Leben nehmen? Man geht einfach davon aus, dass sie nicht nur Kinder bekommt, sondern sie auch aufzieht, allein für die Reproduktion zuständig ist. Dergestalt kulturell festgenagelt, lassen die Frauen ihre Leben in den Straßen als ambulante Händlerinnen, als Prostituierte, in den Maquilas. Der stille Tod durch die körperliche Vernutzung in der Arbeit, das Verbot, dem Frauen unterliegen, selbst über ihre Körper und ihre Leben zu entscheiden, der Serienmord an jenen Frauen, die bei Abtreibungen sterben und an reproduktiven Krankheiten. Und wie viele Frauen begehen Selbstmord, weil sie es einfach nicht mehr aushalten? Hier hat es etliche Fälle gegeben, in denen Frauen ihren Babys Gift ins Fläschchen getan und sich selbst ebenfalls vergiftet haben. Mit der Rede vom Feminizid wollen wir also die öffentliche Aufmerksamkeit auf diese vielen Ursachen für das Sterben von Frauen lenken.

Hier in El Salvador werten verschiedene Frauenorganisationen die Massenmedien täglich aus: die Dignas (Mujeres por la Vida y la Dignidad, Frauen für Leben und Würde), CEMUJER (Institut für Frauenstudien Norma Virginia Guirola de Herrera), ORMUSA (Organisation salvadorianischer Frauen), die vor allem mit Maquiladora-Arbeiterinnen arbeiten, und wir, das IMU (Fraueninstitut für Forschung, Ausbildung und Entwicklung). In der Zeit zwischen dem Internationalen Tag gegen Gewalt gegen Frauen, dem 25. November, und dem Internationalen Menschenrechtstag, dem 10. Dezember, haben diese Organisationen letztes Jahr im Rahmen einer entsprechenden Kampagne der Frauenkoordination Concertación Feminista Prudencia Ayala, in der wir Mitglied sind, ihre Daten zusammengetragen und öffentlich gemacht: Nach den Veröffentlichungen in den vier Tageszeitungen El Salvadors wurden zwischen 1999 und Ende 2004 ca. tausend Frauen ermordet. Nur in fünf Prozent dieser Fälle von Frauenmorden ist irgendwas passiert, wurden Verdächtige verhaftet oder gar angeklagt.

Den Mangel an Aufklärung schwerer Verbrechen gibt es aber allgemein.

Die Straflosigkeit in unserem Land ist enorm. In diesem Fall ging es aber darum, mit der statistischen Auswertung den Feminizid öffentlich zu machen. CEMUJER hat diese Ergebnisse benutzt, um Alarm zu schlagen. Die Ereignisse in Ciudad Juárez und mittlerweile in Guatemala haben das Problem des Feminizids in die internationale Öffentlichkeit gebracht. Als wir dann unsere eigene Situation genauer untersucht haben, waren wir natürlich entsetzt: Tausend Frauenmorde in fünf Jahren, die die ganze Zeit über als gewöhnliche Verbrechen, Ergebnisse von Überfällen usw. gehandelt worden sind. Als Concertación Feminista Prudencia Ayala haben wir deshalb Ende 2004 die Kampagne „Sagen wir nein zu allen Formen der Gewalt gegen Frauen. Keine einzige Tote mehr!“ lanciert. Dabei hat die Prudencia Ayala Feminizid definiert als „Ergebnis der Mysoginie, das heißt des Hasses und der Missachtung gegen Frauen, die zu ihrer Vernichtung führen, als Ergebnis eines Konzeptes, wonach Frauen benutzbar, verzichtbar, misshandelbar und wegwerfbar sind.“

Werdet ihr die Kampagne dieses Jahr wiederholen?

Ja, und wir werden wieder am 25. November beginnen und bis zum 10. Dezember überall im Land Aktivitäten durchführen – um öffentlich klar zu machen: Der Feminizid ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, und um darauf hinzuweisen, dass die Mörder in der großen Mehrheit Männer sind. Hier in El Salvador, in der allgemeinen Öffentlichkeit, der Politik und in den Gemeinden, ist das Thema pandillas ungleich stärker präsent als der Feminizid. Dabei werden die beiden Themen nicht miteinander in Verbindung gebracht. Seht ihr einen Zusammenhang? Sind die Frauenmorde, die mutmaßlich von pandilleros begangen werden, Feminizide?

Wir gehen in unserer Analyse des Phänomens Jugendbanden davor aus, dass es weder neu ist noch ausschließlich mit Jugendlichen zu tun hat. Es ist nachgewiesen und öffentlich gemacht, auch von der Ombudsfrau für Menschenrechte, dass es in diesem Land Killerbanden gibt. Ich habe lange Zeit in den „roten Zonen“ El Salvadors gearbeitet, den Zonen, in denen es Prostitution, Drogenhandel, Menschenhandel gibt. Es gibt Gruppen, die wie die Todesschwadronen von den Staatsinstanzen geschützt werden oder aus ihnen heraus funktionieren, Gruppen des organisierten Verbrechens. Diese Gruppen rekrutieren in den Straßen Personen, nach denen nie jemand fragen wird. In meiner Arbeit bin ich den Mördern jener Frauen, die Anfang 2003 in Serie ermordet und zerstückelt wurden, relativ nahe gekommen. Die Freundinnen der ermordeten Frauen haben uns angesprochen. In dieser Welt des organisierten Verbrechens, in der bestimmte Gruppen mit Drogen, Waffen, Menschen und Hehlerware handeln, sind diese Frauen ermordet worden, weil sie einen Teil ihres Lebens auf der Straße verbrachten, mit jenen Leuten gesprochen haben, die niemals als Zeugen gerufen werden, weil sie als rechtlos gelten. Sie gelten als rechtlos, werden ignoriert, weil sie herumvagabundieren, keine feste Arbeit haben, unmoralisch leben. Aber das sind Menschen mit Gefühlen, die vielleicht drogenabhängig sind, vielleicht mit den Killerbanden kollaborieren. Sie sind eine sehr wertvolle Informationsquelle. 

Frauen aus diesem Milieu haben uns also erzählt, dass diese Frauen ermordet wurden, weil sie Informationen über Persönlichkeiten hatten, die in das organisierte Verbrechen verwickelt sind. Die Frauen, die ermordet wurden, wollten damals aus diesen Strukturen raus. Das ist ein Grund für diese Art von Frauenmorden. Es gibt auch die Fälle von Familienangehörigen von Jugendlichen beiderlei Geschlechts, die in die Strukturen des organisierten Verbrechens verwickelt sind. Schwestern, Mütter, Bräute, Ehefrauen sind Trumpfkarten, die in den territorialen Auseinandersetzungen gespielt werden. Das funktioniert so: Ich kille dich nicht, aber ich werde deine Frau, deine Mutter, deine Schwester umbringen, wenn du aussteigen willst. So wurden Frauen in diesen Kämpfen um Territorium umgebracht, die nicht einmal wussten, in welchen Strukturen sie lebten. Wenn man sich in diesen Straßen bewegt, kann man beobachten, wie die Cliquen-Führer mit dem organisierten Verbrechen liiert sind, das sich um die Säuberung des Territoriums kümmert, um seine Gewinnspannen zu verbessern. 

Die kriminellen Banden rekrutieren in diesen Zonen Personen, die auch bereit sind zu morden. Ich habe hier sicarios getroffen, Berufskiller. Wenn du in den Frauentreffen, die wir in solchen Stadtteilen organisiert haben, mit den Frauen der sicarios sprichst, erzählen sie dir, wie die Netzwerke funktionieren und wie die Cliquen-Führer reicher werden unter dem Schutz der Polizei. Die Freundin der Frau, die ermordet wurde und deren abgeschnittenen Kopf man im Parque de la Libertad gefunden hatte, wurde bedroht, weil sie den Mord gesehen hatte. Dieser Freundin haben sie vorher angekündigt, dass sie sie umbringen werden. Die Polizei wird benachrichtigt, kommt, nimmt den potenziellen Mörder mit und lässt ihn jenseits der umstrittenen Zone wieder laufen, straflos. Der Typ geht zurück und sagt zu der Freundin: Ich werde dich töten, weil mir die Polizei nichts macht. Und er bringt sie um. Und die Leute in der Gegend bekommen alles mit. Wenn man das erlebt, kommt man zu der Schlussfolgerung, dass das Problem mit den pandillas ein konstruiertes ist, weil starke Interessen dahinter stecken. Das konnte man erkennen, als der Präsident der Fluggesellschaft TACA ermordet wurde, am Fall des ehemaligen Abgeordneten Eliu Martínez, der in den USA als Drogenhändler angeklagt ist. Wer sich nicht rekrutieren lässt, riskiert das Leben seiner Familienangehörigen oder sein eigenes. 

Es gibt aber auch pandillas mit eindeutig anderen Zielen als jenen der Verbrecherbanden. Einige haben sich in letzter Zeit angesichts der Politik der „eisernen Faust“ der Regierung sogar zusammengeschlossen. Das ist ein anderer Typus von Jugendlichen. Ich wohne in Quetzaltepeque an der Grenze zwischen den Territorien der „18“ (Mara 18) und der „MS“ (Mara Salvatrucha). Ich kenne die Jugendlichen und kann sie unterscheiden. Ich spreche von jenen, die zusammenkommen, um einen gemeinsamen Ort zu haben, an dem sie ihre Unzufriedenheit ausleben können. Mit einigen von ihnen spiele ich Basketball. Die führen ein öffentliches Leben. Wenn das organisierte Verbrechen auftaucht, werden auch sie zu Opfern. Zum Beispiel der Fall der jungen Frau, deren Mutter Anzeige erstattet hat, weil die mara die Tochter entführt habe. Die Polizei kommt, aber die junge Frau sagt: Nein, ich liebe ihn, ich bin hier, weil es mir gefällt. Die Polizei nimmt sie mit und gibt sie beim ISNA (Salvadorianisches Institut für Kinder und Jugendliche) ab. Das ISNA definiert sich nicht mehr als Kinderschutzorganisation, sondern als federführende Einrichtung des Staates in diesem Bereich, und übergibt die junge Frau einer Tante oder einem Stiefvater usw. Sie überlassen sie ihren Mördern, denn die Gefahr ist latent, weil sie die Szene kennen gelernt hat. Niemand schützt sie. So etwas meinen wir, wenn wir von Feminizid sprechen, all diese Bedingungen, welche die Frauen benachteiligen, unterwerfen und verletzlich machen. Und wir sprechen von Feminizid, wenn wir das organisierte Verbrechen meinen, jene, die öffentliche Ämter bekleiden, Macht ausüben und in das organisierte Verbrechen verwickelt sind; wenn man diese ganze Straflosigkeit miteinbezieht, wie die Herren an die Regierung kommen, um sie auszuplündern, wie das organisierte Verbrechen sich wie im Paradies fühlt!

Die Fälle, die du geschildert hast, betreffen Frauen, die ermordet wurden, weil sie Dinge gesehen und gehört hatten, nicht weil sie Frauen waren. 

Aber ihr Tod hat insofern etwas mit der allgemeinen Diskriminierung der Frauen zu tun, als hier jeder einfach kommen und eine Frau umbringen kann. Und die Art, wie er sie dann umbringt, zerstückelt, das ist eine Botschaft. Der Feminizid ist die Reduktion der Frau zum Objekt, das verkauft, ausgebeutet und gegebenenfalls umgebracht wird.

Das Gespräch führte Eduard Fritsch am 18. Oktober 2005 in San Salvador.

Isabel Ascencio hat an der Universidad Bíblica Latinoamericana in San José, Costa Rica, Theologie studiert und versteht sich als „unabhängige Christin” und feministische Theologin. Einige Jahre lang hat sie sich mit ganzheitlicher Medizin beschäftigt. Zur Zeit arbeitet sie im Instituto de Investigación, Capacitación y Desarrollo de la Mujer (IMU) als Koordinatorin eines Projektes für sexuelle und reproduktive Gesundheit von Jugendlichen.