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Selbst die Hand Gottes war zur Faust geballt*

Gegenaktivitäten zum Amerikagipfel in Mar del Plata

12 000 Personen nahmen im argentinischen Mar del Plata – mehr oder weniger intensiv – an 150 Workshops und zehn thematischen Seminaren des Gegengipfels „Cumbre de los Pueblos“ teil. Mehr als 30 000 Leute waren bei der Demo am 4. November. GewerkschafterInnen, UmweltschützerInnen, Indigene, GlobalisierungskritikerInnen, MenschenrechtsaktivistInnen, StudentInnen, Piqueteros/as, Stadtteilgruppen usw. diskutierten engagiert über Mittel und Wege hin zu einem gerechten, demokratischen, nachhaltigen, entmilitarisierten und für alle offenen Amerika, tauschten Erfahrungen aus, knüpften neue und stärkten bestehende Kontakte. Daneben gab es aber auch heftige Kontroversen, vor allem über die Frage der Autonomie der sozialen Bewegungen im Verhältnis zu den Regierungen, insbesondere zu der von Venezuela.

Silke Helfrich
Beat Schmidt

Viel bekannte Kritik wurde auf dem „Gipfel der Völker“ geübt. Nicht gerade gut kamen dabei auch die Mitte-Links-Regierungen in Argentinien, Brasilien und Uruguay weg. Sie hielten letztlich an neoliberalen Wirtschaftsmodellen fest, an der Agrarexportierung, der massiven Ausbreitung von Monokulturen – zunehmend mit gentechnisch verändertem Saatgut – und setzten damit dieser Art der wesentlich von Transnationalen Konzernen getragenen Neuordnung der Welt kaum etwas entgegen. Kritik wurde auch an den gigantischen Infrastukturmaßnahmen wie Erdgasleitungen und Amazonasstraßen laut, welche die Verwertung und Zerstörung von Naturressourcen mit sich bringen und lokal geerdeten Entwicklungsmodellen das Wasser abgraben. Apropos Wasser: ein Thema, das die Säle füllte und das liegt nicht nur daran, dass das vierte Weltwasserforum im März 2006 auf dem lateinamerikanischen Kontinent, in Mexiko City, stattfindet. Genderfragen – leider meist in isolierten Veranstaltungen – wurden ebenso bearbeitet wie die klassischen Themen Menschenrechte, Verschuldung, Migration und Militarisierung. 

Neue Themen jedoch fehlten weitgehend: Informations-, Bioinformatik- und Nanotechnologie, Wissensgesellschaft, Verhältnis der Linken zu diesen Themen im Spannungsfeld zwischen Technologie und Ökologie angesichts der Tatsache, dass nicht nur Naturressourcen, sondern auch die menschlichen Gene, Ideen, Informationen und traditionelle Wissensbestände zur Ware werden. So ist das bei Veranstaltungen, die im Stile des Weltsozialforums angelegt sind und noch dazu mit dem Modell der „autoconvocatoria“ – der Selbsteinladung – experimentieren. Autoconvocatoria heißt, es gibt keine Organisation, die für das Gesamtprogramm und den Prozess verantwortlich zeichnet. Keine zentrale „juristische Person“ ist für die Mittelbeschaffung oder -weiterverteilung zuständig. Jede Gruppe meldet selbst an, kümmert sich um die Finanzierung und Einladung, lediglich eine minimale Infrastruktur und Bewerbung durch das im letzten Moment erscheinende und dann doch schon wieder unaktuelle Gesamtprogramm wird allen zur Verfügung gestellt. Was die operative Umsetzung des Ganzen nicht leichter macht und den trotz der üblichen Raumsucherei gelungenen logistischen Ablauf in der Bewertung noch positiver ausfallen lässt. 

„Ein anderes Amerika ist möglich“ skandierten dann am Freitag, dem Tag der Demonstration und des ersten der zwei offiziellen Verhandlungstage, circa 40 000 Menschen, vor allem aus Argentinien, auf ihrem langen Marsch ins Stadion von Mar del Plata. Eine eindrucksvolle und bunte Demonstration, die unter anderem auch den Abschluss der dreitägigen Debatten des „Gipfels der Völker“ markierte. Mitaufgerufen zur Demo hatte auch Diego Armando Maradona, ehemaliger Fußballstar und aktuelle Kultfigur. Er hatte wenige Tage zuvor Fidel Castro – der wie üblich als einziges Staatsoberhaupt nicht zum offiziellen Amerikagipfel eingeladen war – besucht, strahlte in den Tagen des Gipfeltreffens in seiner vielgesehenen Talkshow, „Die Nacht der Zehn“, ein Interview mit dem cubanischen Präsidenten aus und fuhr – auf dessen Bitte – mit über 200 anderen Persönlichkeiten im Nachtzug von Buenos Aires ins knapp 500 Kilometer südlich gelegene Mar del Plata. Dort beteiligte er sich ebenso wie der argentinische Friedensnobelpreisträger Adolfo Pérez Esquivel und linke Abgeordnete wie Miguel Bonasso von der Revolutionären Demokratischen Partei am friedlichen Protest gegen Bush und Verbündete (darunter vor allem Mexiko und Kanada) sowie das von ihnen forcierte Freihandelsabkommen. Esquivel, Bonasso und Co. ist zudem das Husarenstück gelungen, die zersplitterte argentinische Politlandschaft zumindest für einige wenige Tage unter einen Hut zu bringen.

Zum Abschluss des Gipfels der Völker, der einen Tag vor dem offiziellen Gipfel zu Ende ging, kam es dann doch noch zu der befürchteten und teilweise auch herbeigeredeten und -geschriebenen Gewalt. Mehrere Piqueteroorganisationen und ein Teil des linksradikalen Parteiensplitterspektrums hatten zu einer Art Nachdemonstration vom Stadion Richtung Sperrzone aufgerufen. Gegen Abend, kurz vor dem Familienfoto der Staatsoberhäupter, ging dann dort die Post ab. Die relativ defensive Polizei – erst nach rund zwei Stunden waren die Reste von DemonstrantInnen weiträumig eingekreist und mehrere Dutzend Personen wurden vorübergehend verhaftet – setzte Tränengas ein. Eine kleine Gruppe von AktivistInnen begann Scheiben einzuschlagen und Geschäfte zu plündern. So machten denn die gleichzeitigen – wie üblich exzessiv verwerteten – Bilder der brennenden Bankfiliale der Banco de Galicia zusammen mit dem Familienfoto klar, dass die Stimmung in Mar del Plata weit weg von eitel Sonnenschein lag, was den Präsidenten vielleicht gar nicht so unangenehm war.

Doch zurück zum Gipfel der Völker; eine Veranstaltung der argentinischen Piqueteroorganisation „Movimiento Barrios de Pie“ zum Thema „Soziale Bewegungen und politische Herausforderungen im Verhältnis zu den Progressiven Regierungen in Lateinamerika“ scheint gerade im Rückblick den entscheidenden Nerv des Forums berührt zu haben. Denn ein Novum dieses Gipfels war so produktiv wie problematisch: die Direktverbindung zwischen beiden Sphären – dem offiziellen und dem „wahren Gipfel“, dem der Völker – in der Person des venezolanischen Präsidenten Chavez. Nachdem sich Chavez mit Maradona und dem bolivianischen Präsidentschaftskandidaten Evo Morales die Schlussdeklaration des Sozialforums angehört hatte, setzte er – mit gewohnt starkem Hang zur Agit-Prop Tonlage – zu einer zweistündigen Rede an. Darin verpflichtete er sich, seinen Kollegen eine Kopie des Schlussdokumentes des Gipfels der Völker zukommen zu lassen. Womit sich die alte Diskussion um die Brücke zwischen Lobbyarbeit und Protest um die Option erweitert, dass – wie in Mar del Plata geschehen – ein Mandatsträger die konkreten Forderungen derer „draußen“ mit nach „drinnen“ nimmt. Unter tosendem Applaus beglückwünschte Chávez die „ALCA-TotengräberInnen“ im Stadion und ließ sich zur Aussage hinreißen, jetzt stünde die etwas komplexere Angelegenheit der Abschaffung des Kapitalismus auf der Tagesordnung. Wobei er – mit etwas realistischerem Blick – nicht vergaß, auf die Fülle von bilateralen Investitions- und Freihandelsabkommen hinzuweisen, die ein ALCA durch die Hintertür zum Ziel hätten.

Zum ersten Mal auch war eine so große cubanische Delegation mit von der Partie. 300 CubanerInnen, im einheitlichen Trainingsanzug, der kaum gegen die Kälte schützte, formierten einen gut sichtbaren Block. Ein argentinischer Jugendlicher brachte es auf den Punkt: “Ich komme aus einem armen Barrio, bin seit Jahren aktiv und habe Kuba und seinen Kampf für Selbstbestimmung seit jeher bewundert. Und nun sitze ich hier neben den KubanerInnen und sie sagen mir, dass sie unserer Kämpfe auch kennen und bewundern – das ist ein wahnsinnig starker Moment für mich”. Die cubanische Delegation war trotz jahrelanger und behutsamer Einbindung einiger cubanischer Organisationen und Gewerkschaften in die Alianza Social Continental (das seit Ende der 90er Jahre existierende gesamtamerikanische Netzwerk von sozialen Bewegungen, Netzwerken, NGOs und Gewerkschaften und Mitveranstalter des Gipfels der Völker) gemeinsam und relativ weit enfernt von den anderen Organisationen untergebracht. Doch der Kontakt zwischen handverlesenen Kadern aus Cuba und SozialaktivistInnen war nicht nur wegen der räumlichen Distanz ein Problem, hat doch die geballte venezolanisch-cubanische Präsenz vor allem während der Schlussveranstaltung die ihre Autonomie reklamierenden Organisationen mit geradezu brachialer Deutlichkeit vor neue Herausforderungen gestellt.

Am Verhandlungstisch über Struktur, Ablauf, Marsch- und Redeordnung der Abschlussdemo saßen die venezolanische und kubanische Delegation sowie die unabhängigen Organisationen und Netzwerke, die zu den Alternativveranstaltungen nach Mar del Plata geladen hatten. Die üblichen zähen Auseinandersetzungen darüber, wer in die Fotoreihe gehört, wer an welcher Stelle marschieren darf und welche Losungen das Banner schmücken, nahmen angesicht der politischen Solidarität, die beide Verhandlungsseiten im Grundsatz verbindet, unerwartete Schärfe an. 

Die „Alianza Social Continental“ ist seit nunmehr fast zehn Jahren bemüht, den komplexen Prozess des Aufbaus einer „unabhängigen kollektiven politischen Kraft auf dem gesamten Kontinent“ zu wagen. Damit ist klar, dass die Präsenz in Mar del Plata für viele neben dem Protest gegen Bush, neoliberale Politik und ALCA noch von einer anderen wesentlichen Motivation getragen wird, nämlich der, diesem Vorhaben auch weiterhin Struktur und Perspektive zu geben. Den zahlreichen, auf ihre Unabhängigkeit insistierenden Organisationen der Alianza, muss ein Politikstil, der komplexe, auch fragile politische Prozesse im Sinne eines vermeintlich höheren politischen Ziels – etwa der öffentlichkeitswirksamen Lancierung des ALBA oder der Ausstrahlung, die eine von Cuba, Venezuela und einem Teil der argentinischen Linken angeführte Kundgebung von 40 000 TeilnehmerInnen hat – schlichtweg überrollt, als das erscheinen, was es ist: als existentielle Bedrohung. Auch wenn diese Bedrohung von politischen Kräften kommt, mit denen sich die lateinamerikanischen sozialen Bewegungen und Netzwerke seit Jahren, und letztlich auch in Mar del Plata, solidarisieren.

Das Problem ist nun ganz und gar nicht neu, es steht regelmäßig im Rahmen der Sozialforen (Diskussion um Rolle der PT/ Beteiligung von Lula und Chávez) auf der Tagesordnung, aber auch anlässlich des jährlich von der cubanischen Regierung mit der ASC veranstalteten Anti-ALCA Events in Havanna. Neu ist allerdings mit welcher Schärfe die Auseinandersetzung ausgetragen wurde. Es bleibt nur wenig Zeit, um Mar del Plata zu verarbeiten. Allein der Ort des nächsten kontinentalen Sozialforum, Januar 2006, sorgt aus Perspektive der Frage nach dem Verhältnis der unabhängigen sozialen, kontinentalen Bewegungen und Netzwerken zu linken Regierungen in Lateinamerika für Spannung. Nicht ganz zufällig fiel die Wahl auf Caracas.

 

* Im Viertelfinalspiel Argentinien-England bei der Fußball-WM 1986 bugsierte Diega Armando Maradona den Ball mit der Hand ins englische Tor und sicherte den Sieg für Argentinien. Als er nach dem Spiel gefragt wurde, ob da nicht eindeutig ein Handspiel vorgelegen habe, meinte er, das sei aber die Hand Gottes gewesen.