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Revolution als Mythos

Sammelband über Politik und Kultur in Mexiko
Gert Eisenbürger

Anders als der Befreiungskrieg in Vietnam oder der Widerstand gegen das Pinochet-Regime in Chile wurden die revolutionären Prozesse in Mittelamerika ab 1979/80 von den sie unterstützenden Solidaritätsbewegungen intensiv beobachtet. Durch Teilnahme an Arbeitsbrigaden oder Delegationsreisen bekamen zahlreiche SoliaktivistInnen direkte Eindrücke und kehrten voller Fragen zurück. Diese führten zu heftigen internen Debatten in den Solidaritätskomitees. Ein Begriff, der dabei oft benutzt wurde, war „Mythos“. Es sei ein Mythos, dass das gesamte nicaraguanische Volk hinter der Revolution stehe oder dass die Frauenorganisationen der revolutionären Parteien primär für die Befreiung der Frauen kämpften. Unter Mythos verstanden wir dabei etwas, was wir bisher geglaubt hatten, was sich aber bei genauer Betrachtung als Wunschdenken herausstellte. Wesentlich differenzierter sieht Raina Zimmering in dem von ihr herausgegebenen Sammelband „Der Revolutionsmythos in Mexiko“ den Charakter und die Bedeutung von politischen Mythen. In Anlehnung an die Philosophen Ernst Cassirer und Hans Blumberg geht sie davon aus, „dass politische Mythen jedem politischen System inhärent sind“ (S. 20). Politik ohne Mythen sei kaum möglich, sie seien notwendig, um Gemeinschaften zusammenzuhalten. Politische Mythen dienen der Legitimation von Herrschaft, sie können aber auch eine Quelle der Kraft sein, um kollektiv gegen herrschende Verhältnisse zu kämpfen.

Die Herausgeberin stellt in ihrem Beitrag über Mythenwandel und politische Transition klar, dass die mexikanische Revolution eine sehr heterogene Angelegenheit war. Während die so genannten Konstitutionalisten lediglich für einen Austausch der Eliten und modernistische Reformen kämpften, hatten die an der Spitze von Heeren aus städtischen Unterschichtlern, Landarbeitern und indigenen Kleinbauern stehenden Francisco (Pancho) Villa und Emiliano Zapata sozialrevolutionäre Ziele, wenn auch keine kohärenten Strategien, diese umzusetzen. Ihre Heere wurden von den bürgerlich-konstitutionalistischen Kräften besiegt, Villa und Zapata umgebracht. Kaum war die Machtfrage entschieden, legitimierten sich die neuen Herren als die Repräsentanten der Revolution und vereinnahmten Villa und vor allem Zapata. Sie machten gewisse soziale Zugeständnisse und versprachen die Revolution fortzuführen. Der Revolutionsmythos bildete mehr als sieben Jahrzehnte die ideologische Grundlage des mexikanischen Staates und der Herrschaft der Regierungspartei PRI. Erst als die PRI-Präsidenten Salinas de Gortari und Zedillo eine neoliberale Umgestaltung Mexikos betrieben, wurde der Revolutionsmythos mit seinen Versprechen von Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit endgültig obsolet.

Den Schwerpunkt der Beiträge zu einzelnen Aspekten des Revolutionsmythos bilden drei Artikel über die wichtigsten künstlerischen Propagandisten der mexikanischen Revolution, die Muralisten (Wandmaler) Diego Rivera, David Alfaro Siqueiros und den zunehmend skeptischen José Clemente Orosco. Interessant wäre auch ein Beitrag über die revolutionäre mexikanische Kunstmusik gewesen. Anders als Rivera und Siqueiros haben Komponisten wie Carlos Chávez und Silvestre Revueltas die Verschmelzung der indigenen und europäischen Traditionen zu etwas spezifisch Mexikanischem nicht nur proklamiert, sondern auch umgesetzt. Dadurch schufen sie eine faszinierende Musik, die leider vom europäischen Konzertbetrieb noch immer weitgehend ignoriert wird. Der letzte Teil des Buches beschäftigt sich mit neuen Mythen, die bei Teilen der Bevölkerung den Bezug auf den alten Revolutionsmythos abgelöst haben. Drei Beiträge setzen sich dabei mit den heutigen ZapatistInnen auseinander (insbesondere ihrer politischen Praxis und deren theoretischen Grundlagen, der Funktion der Maskierung und ihren Wandbildern, die ganz anders sind als die der früheren Muralisten). Der Text Die Revolte gegen die „Revolution“ von Raina Zimmering macht dabei deutlich, wie die ZapatistInnen von heute den hohl gewordenen Revolutionsmythos der PRI demaskiert und neu besetzt haben. Sehr lesenswert ist auch der Aufsatz von Gabi Löffler über den Mythos von Aztlán und den Kampf der Chicanos/as, den mexikanischen bzw. mexikanischstämmigen MigrantInnen im Südwesten der USA.

Als Buch hat der Sammelband den Nachteil vieler wissenschaftlicher Veröffentlichungen. Da diese vor allem für den akademischen Gebrauch konzipiert sind, d.h. die Aufsätze oft einzeln für wissenschaftliche Arbeiten benutzt werden, müssen sie für sich alleine verstanden werden. Wenn man aber das ganze Buch liest, ermüdet es doch etwas, wenn man zum sechsten oder siebten Mal den Hinweis auf die Bedeutung des mexikanischen Philosophen und zeitweiligen Erziehungsministers José Vasconcelos und seine Theorie der „kosmischen Rasse“ findet. Das schmälert aber ebenso wenig wie die zahlreichen orthografischen Fehler den Erkenntniswert und die Originalität des Buches. Gerade Leute, die sich solidarisch auf die ZapatistInnen beziehen, können durch die Lektüre viel über die ideologischen Rahmenbedingungen erfahren, in denen die EZLN agiert, was für das Verständnis ihrer Politik sehr aufschlussreich ist. Gewidmet ist das Buch der am 19. Oktober 2001 ermordeten Menschenrechtsanwältin Digna Ochoa – doch dazu mehr auf den folgenden Seiten dieser ila.

Raina Zimmering (Hg.): Der Revolutionsmythos in Mexiko, Königshausen & Neumann, Würzburg 2005, 214 Seiten, 29,80 Euro