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In Peru wurde ich auch nie gefragt, ob ich mich integrieren will

Interview mit Julio Mendívil über peruanische Community und Integration

Der Anthropologe, Musiker und Schriftsteller Julio Mendívil kam vor 16 Jahren nach Deutschland. In diesen Jahren hat er viele Beobachtungen angestellt – über Deutschland, die peruanische Diaspora, „Bilderbuch-Peruaner“ sowie zu unpassenden politischen Diskursen über Integration. Darüber haben wir uns mit ihm unterhalten.

Kerstin Kastenholz
Britt Weyde

Wie hast du dich am Anfang hier zurechtgefunden?

Ich konnte mich relativ schnell zurechtfinden, weil ich in Peru einen recht westlichen Lebensstil hatte. Natürlich haben mich die anfänglichen Sprachschwierigkeiten belastet, aber das war es auch schon. Meine ersten Kulturschocks traten erst ein, als ich die Deutschen wirklich kennen lernte – nach ungefähr zwei Jahren, wenn man die Sprache mit all ihren Feinheiten versteht und spürt, dass man diskriminiert wird.

Gibt es in Deutschland eine peruanische Community?

Rein zahlenmäßig würde ich sagen, dass es eine recht große Community gibt, wobei die meisten in den großen Städten Deutschlands leben. Aber was ist eine Community? Wen meinen wir mit „den Peruanern“? Oberflächlich betrachtet ist eine Kultur immer homogen. Aber das ist absurd. Unsere Kulturen sind nicht homogen, weder in Peru noch hier. Es gibt Klassenunterschiede, zwischen den Geschlechtern, den Generationen sowie kulturelle Unterschiede – auch in Peru selbst, schließlich reden wir nicht alle die gleiche Sprache. Und diese ganzen Unterschiede, die uns in Peru voneinander entfernen, wiederholen sich in Deutschland. Es gibt auch Dinge, die uns verbinden, z.B. das Essen oder bestimmte Musik – obwohl hier die Probleme anfangen – und die Sprache, also Spanisch als lingua franca (Handels- und Verkehrssprache – d. Red.). 

Gleichen sich denn diese Unterschiede im Ausland nicht an – indem man sich in der Fremde „peruanischer“ als sonst fühlt?

Vom Diskurs her schon, im wahren Leben aber nicht. Im erträumten Idealfall sind wir alle Peruaner und mögen uns und sind bereit uns gegenseitig zu helfen. Aber in der Praxis meiden die etablierten Peruaner den Kontakt mit denjenigen, von denen sie nicht genau wissen, welchen Aufenthaltsstatus sie haben. Auf einer Party mit peruanischer Musik und peruanischem Essen hat niemand Probleme zu sagen, wir sind alle Peruaner, aber im Alltag kommen die sozialen Unterschiede an die Oberfläche, oft sogar noch stärker als in Peru selbst. Ich habe z.B. einen Freund, der schon sehr lange hier lebt. Nach vielen Jahren erzählt er mir auf einmal, dass er homosexuell ist. Er wüsste, dass er es mir erzählen könnte, weil ich ihn deswegen nicht diskriminieren würde, aber dass ich es bitte niemandem weiter erzähle. Diese Geschichte zeigt ganz gut, wie Verhaltensregeln unter Peruanern, auch in der Diaspora, funktionieren. 

In manchen Teilen der deutschen Linken gibt es dieses sozialromantische Bild von der solidarischen Community, von der gegenseitigen Unterstützung ...

Ja, aber dieser Mythos sollte zerstört werden. Viele Peruaner erhalten bedingungslose Unterstützung von deutschen Linken, und dabei sind es mitunter sehr reaktionäre Leute. Ich kenne viele Peruaner, die CDU wählen, weil die ja eine bessere Ausländerpolitik hätten, hier würde es zu viele Ausländer geben – zu viele Türken, Russen etc. Und wenn du dann sagst, aber wer bist du denn hier, antworten sie dir: „Ich habe mich aber integriert.“ Sie hätten deutsche Freunde und die deutsche Staatsbürgerschaft.

Andere Lateinamerikaner in Deutschland haben uns erzählt, dass sie von uns den Eindruck einer sehr geeinten Gemeinschaft hätten, da wir uns so oft treffen, zusammen essen, feiern – darin sind wir echt Weltmeister! Aber abgesehen davon ... Vielleicht funktioniert am ehesten eine Art Networking, z.B. der und der kennt einen Zahnarzt, der Spanisch spricht und innerhalb eines Jahres geht die ganze lateinamerikanische Community zu ihm hin. Ein anderes Beispiel: Im Moment bauen wir mit anderen Familien einen Kindertanzkurs auf. Schön, dass es so was gibt. Aber gleichzeitig gibt es Tabuthemen. Wenn die angeschnitten werden, treten die Unterschiede zu Tage: Bei Fragen zu Religion und Politik – und zur Integration, also was heißt es für uns als Ausländer in Deutschland zu leben. Viele Peruaner hier haben eine romantische Vorstellung von der Integration und denken, dass Deutschland ein demokratisches und tolerantes Land ist. Sie stimmen mit der vorherrschenden kleinbürgerlichen Meinung überein. Andere hingegen wollen sich integrieren, aber nicht in dieses kleinbürgerliche Deutschland, sondern in eine liberale deutsche Gesellschaft. 

Könntest du eine Aussage über den Anteil derjenigen PeruanerInnen treffen, die sich mehrheitlich in der Community aufhalten, Politiker würden von „Parallelwelten“ reden ... 

Ich lehne den Begriff der „Parallelwelten“ ab, weil sich die Unterschiede zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen in der deutschen Gesellschaft nicht auf den Unterschied „Deutsche – Ausländer“ reduzieren lassen. Auch innerhalb „der Deutschen“ gibt es „Parallelwelten“ oder innerhalb jeder ausländischen Community selbst. Es gibt also unendlich viele „Parallelgesellschaften“, wobei wir nicht wissen, wo sie jeweils anfangen oder aufhören. Ich habe mit euch beiden bestimmt mehr Gemeinsamkeiten als mit meiner 60jährigen Nachbarin.

Das Thema Integration ist immer eine heikle Angelegenheit – zunächst die Frage, in was wir uns integrieren sollen? Ich z.B. fühle mich nicht integriert, will mich auch nicht integrieren, in Peru wurde ich auch nie gefragt, ob ich mich integrieren will. Dort hatte ich beschlossen, mich nicht in die peruanische Gesellschaft zu integrieren, denn diese Gesellschaft gefiel mir nicht. Dieses Recht beanspruche ich auch hier und überall sonst. Wenn es etwas in der deutschen Gesellschaft gibt, was mir nicht gefällt, warum sollte ich mich dann integrieren? Es gibt natürlich verschiedene Ebenen der Integration, eine ganz formal legale Ebene, sich z.B. an die Gesetze zu halten, legal zu arbeiten etc. Das liegt auf der Hand, aber was ist darüber hinaus gemeint, wenn von Integration geredet wird? Wenn Friedrich Merz von der CDU von Leitkultur oder den „deutschen Werten“ redet, frage ich mich, wie viele Deutsche sich damit identifizieren? Da wird einfach ein Subjekt, das deutsche Volk konstruiert, das es gar nicht gibt. Genauso wie ein fiktives Germanentum geschaffen wird, konstruieren wir auch ein Peruanertum. Aber das gibt es auch nicht.

Der Peruaner, der hierher kommt, kann unterschiedliche Rollen annehmen, z.B. den Anti-Deutschen spielen, wenn er mit Latinos zusammen ist, oder den integrierten Latino, wenn er mit Deutschen zusammen ist. Diese ganzen Diskussionen gehen von der falschen Annahme aus, dass wir alle eine immer gleiche Persönlichkeit haben, wobei wir doch alle vielschichtige Wesen mit unterschiedlichen Verhaltensweisen sind, je nachdem, mit wem wir gerade zusammen sind. Wenn ich mit meiner Tochter spiele, bin ich doch ein anderer als vor meinen Studenten in der Universität. 

Es gibt natürlich verschiedene Stereotype: die Figur des entwurzelten Peruaners, der mental immer noch in Peru lebt, die Sprache nicht lernt, sich mit seiner Frau nicht versteht, saufen geht und leidet etc. Ich glaube aber, dass 90 Prozent der Peruaner, die saufen, weil sie Peru vermissen, in Peru genauso viel saufen würden wie hier. Ein anderes Stereotyp, unter das ich wahrscheinlich auch falle, ist das des liberalen Peruaners, der versucht sich bestimmten, als positiv erachteten Werten der deutschen Gesellschaft anzupassen, sich z.B. mit Initiativen identifiziert, die für demokratische Rechte kämpfen. Er ist also auf eine gewisse Art und Weise integriert, lernt die Sprache, hat mit Deutschen zu tun, aber bewahrt gleichzeitig das Individuelle, verteidigt das Eigene, wie z.B. zu sagen, ich esse lieber ají als Sauerkraut, oder besteht auf seinem Recht, mit seiner Tochter in seiner Sprache zu sprechen. Dann gibt es noch einen anderen Typus, vor allem bei Frauen, die hier sehr isoliert sind: Sie sprechen kein Deutsch, leben aber in einem sehr deutschen Umfeld und haben wenig Kontakt zur lateinamerikanischen Community. Diese Leute leiden sehr. Es gibt schreckliche Fälle, in denen die Frauen von ihren deutschen Ehemännern misshandelt werden und von niemandem Unterstützung bekommen, weil sie total isoliert sind. Hier hat man es mit einer Art Desintegration zu tun, die auf keinen Fall freiwillig ist.

Um meine – sicherlich unvollständige – Typisierung abzuschließen, fehlt noch ein Stereotyp: der Bilderbuch-Peruaner, der hierhin kommt und sich schnell sehr deutsch fühlt, einen Arbeitplatz findet, sich dadurch von anderen Peruanern sozial abhebt und der aufgrund seiner Nähe zu den Deutschen versucht, sich von den Latinos zu distanzieren, aber dann, wenn es ihm passt, auf Partys z.B., ohne Probleme Peruaner ist. In punkto Solidarität oder politischer Einstellung identifiziert er sich aber eher mit sehr konservativen deutschen Einstellungen. Aber eigentlich finde ich den Begriff Integration unpassend, ich würde eher von gegenseitigem Respekt sprechen wollen. Respekt, den wir alle zeigen und einfordern sollten, mit all unseren Unterschieden und Ähnlichkeiten. Das Integrationskonzept drängt anderen ein Modell auf, und das hat nichts mit gegenseitigem Respekt zu tun. 

Wie sind deine Zukunftspläne, willst du irgendwann nach Peru zurück?

Einer der großen Träume der Peruaner in der Diaspora ist sicherlich die Rückkehr. Ich selbst bin seit 15 Jahren dabei, jedes Jahr sage ich mir: „Ein paar Jahre noch, und dann gehe ich wieder“. Andere haben mir erzählt, dass du nach 20 Jahren vielleicht akzeptierst, dass du hier bleibst. Aber ich schließe nicht aus, dass ich irgendwann woandershin gehe. Nicht, dass Deutschland so schlimm ist, aber so wie ich bereit war, mein Land zu verlassen, hätte ich kein Problem damit, Deutschland verlassen zu müssen. Ich gehe dahin, wo es mir am besten geht, denn ich pflege keine territoriale Treue. Ich bleibe hier, weil ich gewisse Bindungen in diesem Land habe. Das wird allerdings bei der Integrationsdiskussion vergessen: Nicht nur die Frage, warum die Leute hierher kommen, sondern auch, warum sie bleiben. Ich bleibe hier, weil hier meine Frau und mein Kind sind, die ich liebe, aber ansonsten hätte ich längst wieder nach Peru zurückgehen können. 

Leider sind nicht alle meine geliebten Menschen oder sozialen Zusammenhänge, die mir wichtig sind, an einem Ort, ein großer Teil davon ist in Peru, ein anderer hier und noch ein weiterer in Brasilien. Manchmal habe ich schon das Gefühl, nie zu Hause zu sein. Im Haus meiner Eltern kann ich bestimmte Sachen nicht machen, hier kann ich nicht meine Freunde zum Huayno tanzen einladen, nach zwei Minuten stände die Nachbarin vor der Tür. Dass ich mir in meinem eigenem Zuhause etwas verkneife – das wäre in Peru undenkbar!

Oder dass sich die Nachbarn über die Gerüche aus deiner Küche beschweren ...

In der Hinsicht habe ich zum Glück bisher keine Probleme bekommen. In der ethnologischen Literatur über Migration werden zwei Faktoren genannt, die sehr wichtig sind, um sich ein Ambiente zu schaffen, das an „zu Hause“ erinnert: Musik und Essen – weil es sehr sinnliche Dinge sind. Das funktioniert wie eine Guerilla-Taktik – wenn jetzt ein paar Peruaner gegenüber eine Party machen, besetzen sie den Raum, füllen ihn mit peruanischen Gerüchen und Klängen und reproduzieren so eine Art virtuelles Peru. Virtuell, weil es sich nur auf die genannten Elemente bezieht. Ich glaube, dass wir sehr bewusst Themen wie Politik und Religion meiden, um nicht dieses Gemeinschaftsgefühl zu gefährden – weil wir eigentlich alle wissen, dass es diese Gemeinschaft nicht gibt. 

Meiner Meinung nach ist aber der wichtigste Aspekt bei der Frage nach der „peruanischen Community“, die Frage: Für wen gibt es sie? Für die Deutschen gibt es natürlich eine peruanische Community, die sie nach äußerlichen Merkmalen bestimmen. Du wirst unweigerlich zum Bestandteil dieser Gruppe gemacht, ob du willst oder nicht. Das einzig Gute daran ist, dass dir wenigstens ein Ort in dieser Gesellschaft zuerkannt wird. Das Negative daran ist, dass dir damit auch ein Verhalten aufgezwungen wird. Denn du bist Vertreter deiner Kultur, und da Kulturen als etwas Homogenes angesehen werden, musst du dich wie alle Peruaner verhalten. Wenn du leider Gottes von diesem Modell abweichst, bekommst du Probleme mit den Deutschen, denn sie wollen dich als echten Peruaner. Bei den Peruanern ist es das Gegenteil: Sie nehmen das Stereotyp wahr, gucken dann, ob es passt, dieses Bild zu reproduzieren. Dabei passiert es oft, dass jemand Eigenschaften zur Schau stellt, die ihm erst von außen zugeschrieben worden sind. Ich kenne viele Leute hier, die, wenn sie sich angegriffen fühlen von dem, was sie unter „deutscher Kultur“ verstehen – was natürlich auch eine Vereinfachung ist - auf einmal viel radikaler reagieren, als sie es in Peru tun würden, und dann auf einmal z.B. den machismo verteidigen! 

Könnte man das als verinnerlichten Kolonialismus bezeichnen?

Ja, aber nicht nur. Z.B. diese Typen in der Fußgängerzone, die als Indianer verkleidet New Age Folklore Musik machen – sie übernehmen zum einen recht unkritisch eine Rolle, die ihnen zugeschrieben wird. Andererseits können sie so eine Identität finden, die sie in ihrem eigenen Land nicht hatten. Ich kenne viele Leute, die in Peru diskriminiert wurden, weil sie indigen aussahen. Hier in Deutschland werden sie bewundert, sind interessant, eben weil sie angeblich so „indigen“ sind. Natürlich hebst du hier diese Elemente hervor, da sie dir Nutzen bringen.

Was hältst du von der gegenwärtigen Debatte darüber, dass Multikulti in Deutschland gescheitert sei?

Ganz offensichtlich gibt es in Deutschland keine multikulturelle Gesellschaft, die CDU hat also insofern recht, dass das ursprüngliche Konzept von Multikulti gescheitert ist, weil die Leute mit Unterschieden nicht umgehen können. Andererseits ist das Projekt einer dominanten, hegemonialen Kultur, wie sie die CDU gerne hätte, auch gescheitert – auf der ganzen Linie, sonst hätten wir hier nicht so viele Leute aus der ganzen Welt. Heute kann man nicht mehr von den „blonden Deutschen“ etc. reden, genauso wenig von den „deutschen Werten“, denn die deutsche Gesellschaft ist sehr vielschichtig geworden. Deshalb läuft diese Debatte auf einem sehr vereinfachenden Niveau ab. Die Herausforderung besteht darin das Zusammenleben zu lernen. In diesem Land wird es in Zukunft sehr viele Menschen wie meine Tochter geben, die halbperuanisch, halbkamerunisch, halbwasweißich sind, und ich sehe nicht ein, warum diese Menschen, die die Zukunft des Landes repräsentieren, sich schuldig fühlen müssen.

Das Gespräch führten Kerstin Kastenholz und Britt Weyde im April 2006 in Köln, schriftliche Bearbeitung Britt Weyde