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Gouverneur mächtig unter Druck

Auch ein gewaltsamer Polizeieinsatz kann die Oppositionsbewegung in Oaxaca nicht stoppen

Am Morgen des 14. Juni 2006 um 4.30 Uhr erstürmen 3000 Polizisten das historische Zentrum von Oaxaca-Stadt. Über 30 000 DemonstrantInnen halten dort seit Ende Mai mehr als 50 Häuserblocks besetzt. In Panik versuchen Männer und Frauen zu fliehen. Fünf Stunden lang werden sie von Spezialtruppen und von einem Hubschrauber aus mit Tränengas eingenebelt. Der brutale Gewalteinsatz gegen die friedlich Protestierenden geht mit massiven Menschenrechtsverletzungen einher. Die Szenerie erinnert an den Großeinsatz von Polizeieinheiten am 4. Mai in San Salvador Atenco nahe Mexiko-Stadt (vgl. ila 296).

Eberhard Raithelhuber

Gewerkschaftshäuser werden überfallen, mehrere Personen beraubt, illegal festgenommen und gefangen gehalten. Die Einrichtung des Streikradios der Gewerkschaft, Radio Plantón, wird zerstört. Zwei Personen werden durch Schüsse schwer verletzt, eine Schwangere verliert ihr ungeborenes Kind. Hunderte DemonstrantInnen werden vom Roten Kreuz und freiwilligen Helfern notversorgt. Neben Verletzungen von Schlägen werden viele wegen Tränengasvergiftungen behandelt. Manche verlieren das Bewusstsein oder erleiden Nervenzusammenbrüche. Aus Sicht der Regierung des umstrittenen Gouverneurs von Oaxaca, Ulises Ruiz Ortiz, scheint es, als sei die gewaltsame Auflösung der zeitlich unbefristeten Besetzung der Innenstadt von Oaxaca von Erfolg gekrönt. Doch schon nach wenigen Stunden sammelt sich die Bewegung und schlägt zurück. Der staatliche Terror erzeugt Gegengewalt, die Situation kippt. Mehrere tausend LehrerInnen treiben die Einsatzkräfte vor sich her, sammeln Helme, Schutzschilder und Gasmasken ein. Sie halten sechs Polizisten sowie zwei mutmaßliche Geheimdienstmitarbeiter fest. Gegen Nachmittag ziehen sich die Truppen komplett aus dem Zentrum zurück. Die Bewegung, die ihre Entschlossenheit schon Tage vorher trotz der offenen Gewaltandrohung der Regierenden bekundete, hat dem Polizeieinsatz widerstanden. Wie konnte es zu einer solchen Eskalation des Konfliktes kommen? 

In den Berichten der mexikanischen Presse über die Proteste in Oaxaca stehen die Forderungen der Lehrerschaft nach höherer Bezahlung und einer Verbesserung der Schulausstattung im Vordergrund. Die Ansprüche der LehrerInnen sind allerdings Teil eines weit größeren sozialen Protests gegen die Misswirtschaft und die autoritäre Regierungsweise des Gouverneurs, der seit Anfang 2005 im Amt ist. Ruiz Ortiz wird vorgeworfen, mehr noch als andere Regierende vor ihm den öffentlichen Haushalt Oaxacas ausgesaugt zu haben, um die Gelder in den Präsidentschaftswahlkampf der PRI (Revolutionäre Institutionelle Partei) umzuleiten. Die Bewegung aus Mitgliedern von Gewerkschaften und sozialen Organisationen kritisieren darüber hinaus die neoliberale Wirtschaftspolitik in Oaxaca, von der nur wenige profitieren (vgl. ila 292, Februar 2006). Außerdem richten sich die Proteste der Organisationen gegen die repressive Politik, unter der oppositionelle Gruppierungen seit dem Amtsantritt des Gouverneurs stark zu leiden haben. 

Dutzendweise wurden Führungspersonen regierungskritischer Gruppen willkürlich verhaftet und ins Gefängnis gesteckt, unliebsame Gegner ermordet. Ganze Dörfer wurden von Polizeieinheiten angegriffen, Männer, Frauen und Kinder misshandelt, beraubt und eingeschüchtert. Hundertfach wurden Haftbefehle „auf Vorrat“ ausgestellt, die jederzeit zum Einsatz gebracht werden können. Darüber hinaus wird der Regierung vorgeworfen, den Raubbau an den Ressourcen zu fördern und dabei lokale Konflikte um Ländereien auszunutzen. Wie dem Bericht des Menschenrechtsnetzwerks Red Oaxaqueña de Derechos Humanos (RODH) für 2005 zu entnehmen ist, existiert in dem südwestmexikanischen Bundesstaat de facto keine Gewaltenteilung. Die Taubheit der Regierung gegenüber den Forderungen verschiedener Gemeinden und gesellschaftlicher Sektoren hat im Laufe des vergangenen Jahres zu einer verstärkten Mobilisierung zivilgesellschaftlicher Kräfte geführt. Den Kampf um Rechte führen demokratische GewerkschafterInnen sowie Mitglieder sozialer, popularer und indigener Gruppierungen nun gemeinsam. In dieser Entwicklung nimmt die „Promotorin für Nationale Einheit gegen den Neoliberalismus – Oaxaca“ (PROMOTORA) eine Schlüsselrolle ein. Teile dieser Allianz von Organisationen unterschiedlicher politischer Couleur sind Anhänger der „Anderen Kampagne“ (vgl. ila 294, April 2006). 

In Oaxaca bildet die LehrerInnenschaft ein Bindeglied zwischen dem Gewerkschaftsbündnis „Front der demokratischen Gewerkschaften und Organisationen in Oaxaca“ (FSODO) und den sozialen, bäuerlichen und indigenen Organisationen der PROMOTORA. Das breite und schlagkräftige Bündnis – unabdingbare Voraussetzung für die aktuellen Protestaktionen – wurde durch Protestmärsche und Foren zusammengeschweißt. Über Monate hinweg wurde ein gemeinsamer Forderungskatalog und Aktionsplan erarbeitet, in dem sowohl die Vorstellungen der LehrerInnen als auch politische, soziale und juristische Ansprüche indigener bäuerlicher Basisorganisationen enthalten sind. Anfang dieses Jahres konnte die PROMOTORA die ersten Gespräche mit der Regierung nach langer Zeit erzwingen. Als einziger Verhandlungspunkt wurde dabei die Freilassung der politischen Gefangenen präsentiert, welche von der Regierung schon mehrfach zugesichert worden war. Außerdem sollten die offenen Haftbefehle gegen Personen der Mitgliedsorganisationen ausgesetzt werden. Die Gespräche scheiterten an der harten Haltung der Regierung. 

Zur traditionellen Großdemonstration am 1. Mai erhielt der Gouverneur einen erweiterten Forderungskatalog, der von über 80 Organisationen erarbeitet wurde. Nachdem das soziale Bündnis über drei Wochen vergeblich auf ein Signal des Dialogs wartete, besetzten die Gewerkschaften und Basisorganisationen am 22. Mai das Zentrum von Oaxaca-Stadt für unbefristete Zeit. Seitens der Regierung wurde über die Medien eine Kampagne zur Diffamierung und Einschüchterung der BündnispartnerInnen losgetreten. Öffentlich wurde der Bewegung mit einem gewaltsamen Einsatz der Sicherheitskräfte gedroht. Der Aufruf der Protestierenden an die mexikanische Regierung, eine Eskalation des Konfliktes zu vermeiden, blieb unbeantwortet. 

Trotz großer Anstrengungen seitens der Regierung Oaxacas, die Proteste zu delegitimieren, konnte nicht verhindert werden, dass sich ihnen immer mehr Personen und soziale Organisationen anschlossen. So nahmen nach Angaben unterschiedlicher Quellen an einer ersten großen Demonstration am 2. Juni rund 80 000 Leute teil. Schon fünf Tage später demonstrierten beim zweiten „Megamarsch“ ca. 200 000 Menschen. Hierbei wurde der Gouverneur in einem politischen Verurteilungsakt für abgesetzt erklärt. Eine vorläufige Liste aller Menschenrechtsverletzungen wurde erstellt, die dem Regierungschef zur Last gelegt werden. Sie soll eine Abberufung von Ruiz Ortiz durch die mexikanische Regierung ermöglichen. Die Bewegung brachte ihren Entschluss zum Ausdruck, ab sofort keinen direkten Dialog mit der aktuellen Regierung mehr zu führen. Die völlige Weigerung von Ruiz Ortiz, auf die DemonstrantInnen zuzugehen und ihre Forderungen anzuhören, gipfelte dann in dem Versuch, die Bewegung aus dem Stadtzentrum zu vertreiben. 

Der Zulauf und die Unterstützung seitens großer Teile der Bevölkerung riss allerdings nach den Gewaltexzessen am 14. Juni nicht ab, sondern dehnte sich sogar auf andere Regionen des Bundesstaates aus. Keine 24 Stunden nach dem Polizeieinsatz kam es zu einer Solidaritätsbekundung von ca. 50 000 Menschen in Oaxaca-Stadt. Außerdem besetzten Studierende der staatlichen Universität UABJO das hochschuleigene Radio, um die Funktion des ausgefallenen Gewerkschaftssenders zu übernehmen. In mehreren Gemeinden des Bundesstaates wurden Rathäuser und Regierungseinrichtungen besetzt sowie zentrale Verkehrswege blockiert. Am 16. Juni erlebte Oaxaca die größte Protestbekundung seiner Geschichte: Bis zu einer halben Million Menschen zogen unter sintflutartigen Niederschlägen über sechs Stunden durch die Landeshauptstadt – der Protestzug war mehr als 15 Kilometer lang. Ist das, was Oaxaca diese Tage erlebt, einer der seltenen Momente in der Geschichte, in denen sich sektoren- und klassenübergreifend Widerstand organisiert? 

Aus den Protesten formierte sich eine Volksversammlung (Asamblea Popular del Pueblo de Oaxaca), an deren Einsetzung am 20. Juni mehr als 100 Organisationen mit 500 Delegierten teilnahmen. Oberstes Ziel des Zusammenschlusses, in den sich die gewerkschaftlich-populare Bewegung eingegliedert hat, ist der Rücktritt des Gouverneurs – oder seine Absetzung auf Basis der mexikanischen Verfassung. Die Proteste sollen, sofern notwendig, über die Präsidentschaftswahlen hinweg fortgesetzt werden, auch wenn der Urnengang selbst nicht behindert werden soll. Die Versammlung will Gespräche zur Lösung des Konflikts jetzt nur noch direkt mit der mexikanischen Regierung führen. Inzwischen wurde eine Vermittlungskommission gebildet: Angesehene Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens – unter anderem der bekannte Maler Francisco Toledo – haben ihre Beteiligung zugesagt. Der Versuch der Regierung, eine große Gegendemonstration zu veranstalten, ist an Straßenblockaden in ganz Oaxaca gescheitert. Anzeigen, die beim Menschenrechtsnetzwerk RODH eingingen, bezeugen, dass viele der ca. 20 000 DemonstrantInnen des „Marsches für Bildung“ von der Provinzregierung unter Androhung von Repressalien zur Teilnahme gezwungen wurden. 

Ob die Demokratisierungsbestrebungen in dem südwestmexikanischen Bundesstaat längerfristig Erfolg haben, hängt nicht zuletzt davon ab, wie es der neu geschaffenen Volksversammlung gelingt, die verschiedenen politischen Kräfte zu integrieren und sich Spaltungstendenzen zu widersetzen. Die Organisationen, die die Proteste angestoßen haben, stehen dabei in einem Zwiespalt: Sie müssen weiterhin den zivilen Aufstand vorantreiben und dabei gleichzeitig darauf hinwirken, dass die Bewegung einem gewaltlosen Weg folgt. Die RepräsentantInnen und aktiven Mitglieder der Organisationen leben indes nach wie vor in Angst vor Anschlägen und Verhaftungen – nicht zuletzt in den Dörfern, aus denen der Protest in die Stadt getragen wurde.1

  • 1. Mein Dank für die hilfreiche Zusendung von Informationen und Quellen gilt den Organisationen der PROMOTORA, allen voran den Organizaciones Indias por los Derechos Humanos en Oaxaca (OIDHO) und dem Comité de Defensa de los Derechos del Pueblo (CODEP).

Eberhard Raithelhuber ist Vorstand von promovio e.V. – Verein zur Förderung der indianischen Meneschenrechtsbewegung in Oaxaca/Mexiko. Der Verein ist seit vergangenem Jahr Teil der Deutschen Menschenrechtskoordination Mexiko.