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Parallelwelten

Fernando Molicas Kriminalroman „Krieg in Mirandão“
Gert Eisenbürger

Literatur dürfe kein Ersatz für Journalismus sein. Wer die soziale Realität abbilden wolle, der solle eine Reportage schreiben und keinen Roman. Derartige Sätze liest man gelegentlich in Rezensionen, wenn KritikerInnen eine literarische Arbeit als völlig missraten oder verfehlt beurteilen. Derartige Einschätzungen mögen berechtigt sein, wenn AutorInnen eine bestimmte Wirklichkeit beschreiben wollen und dafür ein paar Personen auflaufen lassen, die nur etwas illustrieren aber kein Eigenleben entwickeln. Das kann dann tatsächlich extrem langweilig und überflüssig sein. Literarische Figuren müssen lebendig sein, der Autor muss sie kreieren und dann müssen sie von selbst loslaufen und agieren, wie es der Schriftsteller Omar Saavedra Santis einmal scherzhaft formuliert hat. 

Wenn es einem Autor/einer Autorin gelingt, Figuren zu schaffen, die sich glaubwürdig verhalten und dadurch die soziale Realität, in der sie „leben“, ausleuchten und ihre Konflikte und ihre Komplexität begreifbar machen, dann ist das hohe Kunst. Da kann Literatur Wirklichkeiten begreifbar machen und die Nebelschwaden medialer Darstellungen oder gewachsener Vorurteilsstrukturen lüften. Genau dieses ist Fernando Molica in seinem Roman „Krieg in Mirandão“ gelungen. Natürlich gibt es eine Geschichte, eine Fraktion einer kleinen Linkspartei versucht in einer Favela von Rio de Janeiro einen Guerillafocus aufzubauen und sucht dafür die Zusammenarbeit mit den das Elendsviertel kontrollierenden Drogenhändlern. Diese Story ist gut erzählt und es gelingt dem Autor auch geschickt durch kleine Andeutungen und Fährten, die für das Genre notwendige Spannung aufzubauen. Doch die eigentliche Stärke ist das Sichtbarmachen der totalen Spaltung der brasilianischen Gesellschaft, konkret der Stadt Rio de Janeiro.

In kaum einem Land der Erde wird das „Wir-Gefühl“ so zur Schau gestellt wie in Brasilien, ist die Nationalflagge so allgegenwärtig, und dennoch dürfte es wenige Länder geben, die dermaßen desintegriert sind wie das größte Land Südamerikas. Die Realitäten derer, die zumindest teilweise am Reichtum partizipieren, die wohlhabenden Schichten, inklusive der relativ großen, ständig vom Absturz bedrohten unteren Mittelklasse, und der überwiegend schwarzen BewohnerInnen der Favelas, wirken völlig imkompatibel. Es scheint fast so, als ob die beiden unterschiedlichen Brasilien in verschiedenen Welten, ja auf unterschiedlichen Planeten leben, deren einziger Berührungspunkt die gegenseitige Angst voreinander und die allgegenwärtige Gewalt, ausgehend von den Banden aus den Favelas oder der Polizei der Besitzenden, ist. Darüber wurde schon viel Kluges geschrieben, nirgendwo fand ich es aber überzeugender dargestellt als in Molicas Roman „Krieg in Mirandão“.

Fernando Molica: Krieg in Mirandão, Krimi aus Rio, Übersetzung und Glossar: Michael Kegler, Edition Nautilus, Hamburg 2006, 192 Seiten, 13,90 Euro