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Der Wilde Osten

Santa Cruz: Verletzungen der Menschenrechte im Namen der Autonomie

Seit ihrer Amtsübernahme Anfang 2006 steht die Regierung von Evo Morales einer eisernen Opposition der südöstlichen Departements des Landes gegenüber. Dabei finden sich ihre heftigsten Gegner in der Präfektur und im Bürgerkomitee (Comité Cívico) der wohlhabenden Stadt Santa Cruz, beide gelenkt von Angehörigen der regionalen Wirtschaftselite aus dem Erdgas- und Agrargeschäft. Sie fordern in erster Linie die Gewährung politischer Autonomie, in der letzten Zeit haben sie immer radikalere Töne angeschlagen. Mittlerweile scheint der Graben zwischen beiden Parteien schier unüberwindbar.

Bettina Schorr

Bei dieser Auseinandersetzung geht es im Kern um die von Morales vorangetriebene Landreform. Mit ihr sollen brachliegende und in der Vergangenheit unrechtmäßig als politische Pfründe verteilte Ländereien zugunsten landloser Familien und indigener Gemeinschaften umverteilt werden. Diese Reform droht die Grundfesten der wirtschaftlichen und politischen Macht in der Region zu erschüttern, denn nirgendwo sonst in Bolivien ist die Verteilung von Land so ungleich wie hier. Angaben des für die Agrarreform zuständigen Instituts INRA (Instituto Nacional de Reforma Agraria) zufolge sind 30 Prozent der seit 1952 insgesamt vom Staat vergebenen Ländereien vom cruceñer Ex-Diktator Hugo Banzer (1972-1978) an Parteifreunde und Getreue vorwiegend in seiner Heimatregion verschenkt worden. Das führte zu einer dramatischen Landkonzentration, die bis heute besteht. Nur 15 Familien besitzen eine halbe Million Hektar Land – das ist ein Gelände, das 25-mal größer ist als die Millionenstadt Santa Cruz selbst –, während die große Mehrheit der ländlichen Bevölkerung nur selten mehr als einen Hektar bewirtschaftet. Wenn überhaupt. Insgesamt kontrollieren 10 Prozent der Bevölkerung etwa 90 Prozent des fruchtbaren Ackerlandes. Und nur ein kleiner Teil dieser Latifundien wird produktiv genutzt, der weitaus größere dient spekulativen Zwecken. Das soll sich nun ändern: Allein für dieses Jahr ist geplant, insgesamt 8 Millionen Hektar Land zu sanieren, 28 Prozent davon im Departement Santa Cruz.

Vor diesem Hintergrund scheuen die Köpfe aus Komitee und Präfektur weder Kosten noch Mühen, ihren „Kampf um Autonomie“ voranzutreiben. Mit der Verabschiedung des neuen Verfassungsentwurfs im November 2007, der die Landreform konstitutionell verankert und den größtmöglichen Landbesitz auf höchstens 10 000 Hektar begrenzt, verschärften sie ihren Kurs zusehends. Mitte Dezember stellten Vertreter der Präfektur der Öffentlichkeit „Autonomiestatuten“ vor, die „Verfassung“ des zukünftig autonomen Departements Santa Cruz, die eine vollständige Verlagerung der Kompetenz im Bereich der Landpolitik in die Hände der departementalen Verwaltung vorsehen. Am 4. Mai sollen diese in einem Referendum bestätigt werden, das der departementale Wahlgerichtshof, dessen Vorsitzender im Chor der Regionalelite mitsingt, organisiert – ungeachtet der Tatsache, dass neben dem Nationalen Wahlgerichtshof und der Regierung auch unabhängige Verfassungsrechtler, ausländische Regierungen, Vertreter von EU, UNO und der OAS und selbst einige Oppositionspolitiker das Vorgehen für rechtswidrig halten. Nach der geltenden Verfassung ist einzig der nationale Kongress befugt, ein solches Referendum anzuordnen. Bislang zeigten sich die Cívicos jedoch gegen jede Form von Kritik resistent, Dialoge mit der Regierung wurden kategorisch abgelehnt. Ebenso internationale Vermittlungsangebote: „Das Referendum wird nicht einmal der Papst stoppen“, hieß es aus der Präfektur.

Trotz ihres offenkundig illegalen Vorgehens, das die Republik in einen Bürgerkrieg zu treiben droht, erfreuen sich Präfektur und Komitee einer großen Zustimmung, insbesondere aus der urbanen Mittel- und Oberschicht. Seit 2005 nahmen wiederholt mehrere Hunderttausend Menschen an ihren Protestveranstaltungen (Cabildos) teil. Dieser Zuspruch geht einerseits auf die erfolgreiche Konstruktion und Verankerung einer regionalen Identität als Cruceños oder Cambas zurück, die in ihrer Modernität und Liberalität im unüberwindbaren Gegensatz zum „rückständigen“ Hochland mit seinem „erstickenden Zentralstaat“ positioniert wird. Der Ausweg aus dieser rhetorischen Unvereinbarkeit führt zwangsweise, so die Gleichung der Komiteeideologen, über die regionale Autonomie. Die radikalere Variante spricht von Sezession.

Andererseits basiert die dominante Stellung der Cívicos auf der massiven Manipulation der Bevölkerung und auf offenem Zwang. Dabei spielen die privaten Medien, die sich ohne Ausnahme im Besitz mächtiger Familien befinden, eine herausragende Rolle. Permanent greifen sie die Regierung an, die den Fortschritt der Region angeblich verhindert. Sie schüren Ängste und Unsicherheit und tragen zur Aufhetzung der Gesellschaft erheblich bei. Ein wahrer Cruceño hasst die Regierung und fordert Autonomie, lautet die Botschaft. Inzwischen liegt über der Stadt eine Atmosphäre mit totalitären Zügen, die nicht selten in offenen Rassismus übergeht. Traurig aber wahr: In Santa Cruz gehören Verletzungen elementarster Bürgerrechte inzwischen fast schon zum Tagesgeschäft. Wer es wagt, das Komitee und sein Vorgehen zu kritisieren, wird öffentlich als „Feind der Stadt“ markiert. In der stark korporativ organisierten cruceñer Gesellschaft bedeutet das häufig den sozialen Tod. 

Doch bleibt es nicht allein bei Worten. Für die krude Handarbeit des Komitees ist seine Jugendorganisation zuständig, die Unión Juvenil Cruceñista (UJC). Andersdenkende werden von ihren Mitgliedern bedroht, kritische Stimmen mit Gewalt zum Schweigen gebracht. Dabei gebärden sich die Horden der UJC wie die Herren der Stadt. Wiederholt „verboten“ ihre Sprecher, dass Demonstranten „ihr Stadtzentrum“ betreten. Weil sie es in der Regel dennoch taten oder versuchten, sind seit 2003 immer wieder DemonstrationsteilnehmerInnen von den jugendlichen Schlägertrupps verprügelt worden. Das gleiche Schicksal ereilte Studierende der staatlichen Universität, die das Autonomieprojekt des Komitees öffentlich zu kritisieren wagten. Doch häufig ist nicht einmal ein konkreter Anlass notwendig: Mehrfach wurden Menschen einzig aufgrund ihrer indigenen Gesichtszüge als „Regierungsanhänger“ von den Schlägern der UJC misshandelt.

Darüber hinaus erhalten MitarbeiterInnen von NGOs, vor allem aus dem Umwelt- und Menschenrechtsbereich, regelmäßig anonyme Drohungen – gegen sich selbst und ihre Familien. Schon häufiger wurden Gebäude von NGOs als „Verräternester“ gekennzeichnet und mit Brandbomben attackiert. Auch auf staatliche Institutionen, auf das INRA und das Büro des Ombudsmanns für Menschenrechte, sowie auf Privathäuser von Politikern der Regierungspartei und Gewerkschaftern sind Brandanschläge verübt worden. Wie ernst die Situation ist, zeigte sich, als Carlos Dabdoub, der ehemalige für Autonomie zuständige Sekretär der departementalen Verwaltung, Mitte vergangenen Jahres öffentlich dazu aufforderte, alle KritikerInnen der Autonomie mit dem „zivilen Tod“ zu strafen. Anschließend zirkulierte im Internet eine „schwarze Liste“ mit den Namen von „Ex-Cruceños, die ihr Volk verraten haben“, mit deren Bestrafung unverzüglich begonnen werden sollte. Danach wurden erweiterte Listen als Handzettel verteilt. Bis heute distanzierte sich keiner der lokalen Politiker von diesem Vorgehen. Im Gegenteil: Der derzeitige Präsident des Komitees, Branko Marinkovich, bekräftigte später den Aufruf Dabdoubs. 

In den Provinzen des Departements reproduziert sich diese Situation in der Auseinandersetzung zwischen lokalen „Dorfeliten“ und der mehrheitlich indigenen Landbevölkerung. Während die Anschläge in der Stadt aber weitgehend anonym sind und auf die Verbreitung einer diffusen Angst abzielen, tobt die Schlacht in den Provinzen in aller Rohheit. Dabei geht es um die Kontrolle von Land, das teilweise von indigenen Gruppen als „kommunitäre Ländereien“ mit eigenständigen Hoheitsrechten – völlig legal – beansprucht wird. Zum Beispiel in San Rafael, wo es Mitte Dezember 2007 zu einer wahren Hetzjagd auf Repräsentanten einer indigenen Organisation kam. Ihr Sprecher Fernando Rojas und seine Frau wurden brutal gequält. Rasende Cívicos verwüsteten gleich in mehreren Dörfern Büros indigener Organisationen, Privathäuser und einen Markt. Die Dorfelite lehnt die „kommunitären Ländereien“ ab, sie bevorzugt stattdessen eine Forstkonzession.

Ein ähnliches Szenario bot sich Anfang März in San Ignacio de Velasco, wo die Regierung nach einem langwierigen, absolut legalen Sanierungsprozess 70 Familien der Landlosenbewegung Ländereien übertragen hat. Auf dem Weg ihr Land zu besiedeln wurde die Karawane der Landlosen von einer bewaffneten Gruppe gestoppt, ihre Anführer mit Waffen bedroht, beraubt, misshandelt und schließlich zur Umkehr gezwungen. Zur Rolle der Presse: Bei dem Vorfall waren Journalisten der cruceñer Tageszeitung El Deber zugegen, die am folgenden Tag berichteten, „die Dorfbewohner San Ignacios hätten versucht, ihr Land gegen das Eindringen fremder, von der Regierung geschickter Siedler zu verteidigen“.

Derzeit wütet der Konflikt am schärfsten in der Provinz La Cordillera. Dort sollen rund 157 000 Hektar Land für die einheimischen Guaraní zur Verfügung gestellt werden – wie alle anderen auch auf legalem Weg. Doch die ansässigen Viehzüchter, die zudem beschuldigt werden, mehrere hundert Guaraní-Familien auf ihren Haciendas als Sklaven zu halten, wehren sich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln gegen die Prüfung der Legalität ihrer Grundstücke. Gewalt inklusive. Ende Februar wurde die lokale INRA-Behörde von einer bewaffneten Menge belagert und ihre MitarbeiterInnen gezwungen zu fliehen. Als daraufhin zwei hohe Regierungsfunktionäre in die Region reisten, wurden beide von aufgebrachten Viehzüchtern für acht Stunden festgesetzt und mit Waffen bedroht. Ähnliches erlebte die Ministerin für ländliche Entwicklung, Susana Rivero, bei einem erneuten Versuch, die Sanierung der Ländereien aufzunehmen: Sie wurde in ihrem Hotel umzingelt und aufgefordert, den Ort zu verlassen. Um das Eindringen der staatlichen Funktionäre zu verhindern, haben die Viehzüchter inzwischen bewaffnete „Verteidigungskomitees“ organisiert, die das Gebiet patroullieren, und Kontrollpunkte (trancas) eingerichtet. Einige Tage legten sie die Region mit Straßenblockaden lahm, im Zuge dessen kam es zu einem gewaltsamen Zusammenstoß mit Guaraníes. Das Ergebnis waren mehrere Verletzte und angeblich Verschwundene. Die Regierung scheint alledem machtlos gegenüber zu stehen. Sicherheitskräfte und Justizwesen der Region befinden sich unter der Kontrolle der Cívicos.

Die Viehzüchter aus La Cordillera fordern, den Sanierungsprozess bis zum 4. Mai, Tag des Autonomiereferendums, auszusetzen. Unterstützung erhalten sie dabei aus Santa Cruz. Jüngst rief der Präsident der landwirtschaftlichen Handelskammer, Mauricio Roca, alle Viehzüchter und Landbesitzer des Departements auf, sich der Regierung bis dahin zu widersetzen. Danach sei die Präfektur am Ruder.

Mit ihrer Strategie der Einschüchterung und des blanken Terrors sind die Cívicos in Stadt und Land erfolgreich. Aus Angst vor Repressalien trauen sich viele Menschen nicht mehr, ihre Meinung frei zu äußern. Dessen ungeachtet werden vor allem die Wortführer aus Santa Cruz nicht müde, sich als „lupenreine Demokraten“ darzustellen, als Opfer einer totalitären Regierung. In diesem Sinne reichte Komiteepräsident Marinkovich bei der „Internationalen Föderation für Menschenrechte“ eine Klage gegen die Regierung ein. Die Antwort kam postwendend: In einem offenem Brief erinnerte die FIDH daran, dass die Verletzungen der Menschenrechte in Santa Cruz auf die UJC und damit auf die Institution zurückgehen, „der Sie vorsitzen”. Die Reaktion Marinkovichs war absehbar: Das seien „Freunde der Regierung“. 

Diese hat inzwischen angekündigt, vermutlich um nicht noch mehr Legitimität bei der mittelständischen Bevölkerung einzubüßen, dass die Regierung das Referendum nicht gewaltsam verhindern wird. Allerdings werden auch keine Sicherheitskräfte den Urnengang bewachen, weswegen die Präfektur die Bildung ziviler Gruppen beschlossen hat, bestehend aus Mitgliedern der UJC. Zugleich riefen sowohl der Präsident als auch die Anführer verschiedener sozialer Organisationen zu Protesten am 4. Mai auf. Man kann sich leicht vorstellen, was passiert, wenn diese Demonstrationen auf die UJC-Patrouillen treffen. Noch düsterer gestaltet sich die Situation in den Provinzen. Die Mitgliedsorganisationen des Dachverbandes der indigenen Völker des Tieflandes (CIDOB) haben beschlossen, ihre Territorien noch vor dem Referendum zu „indigenen Autonomien“ zu erklären. Die Autonomiestatuten der Präfektur würden nicht anerkannt, wenn nötig wolle man sich mit „Pfeil und Bogen“ gegen die Großgrundbesitzer verteidigen. Noch mehr als in der Stadt ist vor allem in den weitgehend staatsfreien ländlichen Gebieten der Ausbruch massiver Gewalt scheinbar kaum noch zu verhindern. Es sei denn, die politischen Entscheidungsträger der Region kehrten ab von ihrem radikalen Kurs. Ob dies allerdings wirklich gewollt ist, ist eine andere Frage.

Die Autorin ist Doktorandin am Lehrstuhl für internationale Politik der Universität Köln und arbeitet zur Zeit an einer Dissertation über soziale Bewegungen in Bolivien.