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Wann dürfen Frauen selbst entscheiden?

Die Mitte-Links-Regierungen scheuen bei der Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen den Konflikt mit den Kirchen

Im Juni 2008 veröffentlichte die uruguayische Tageszeitung La República eine „Abtreibungkarte Lateinamerika“, eine kurze Übersicht über die aktuelle Gesetzeslage. Fast überall ist der Schwangerschaftsabbruch ab dem ersten Tag der Befruchtung strafbar, den Frauen drohen mehrjährige Gefängnisstrafen. In einigen Ländern gibt es Ausnahmen, wenn das Leben der Mutter gefährdet ist oder sie vergewaltigt wurde. Wenn sich an dieser katastrophalen Situation etwas ändern sollte, dann nur wegen des unermüdlichen Einsatzes der Frauengruppen für ein selbstbestimmtes Leben, die für straffreien und sicheren Abbruch kämpfen. Die Mitte-Links-Regierungen setzten dagegen weitgehend die konservative Familien- und Frauenpolitik ihrer Vorgängerinnen fort, weil sie es sich nicht mit den Kirchenhierarchien verderben wollen.

Laura Held
Stefan Thimmel

Weltweit gibt es jährlich etwa 70 000 bis 80 000 Frauen, deren Abbrüche tödlich enden, wobei das Risiko von Frauen aus der „Dritten Welt“ fünfzehn Mal höher ist als jenes von Frauen in Ländern des Nordens. Nach vorsichtigen Schätzungen gibt es in Lateinamerika jährlich mindestens vier Millionen Schwangerschaftsabbrüche, von denen 95 Prozent heimlich und unter prekären Bedingungen stattfinden. Über 10 000 Frauen sterben dabei, fast alle Todesopfer sind arme Frauen. Zahlreiche Schwangerschaftsabbrüche haben schwerwiegende Auswirkungen auf die Gesundheit der Frauen wie Unfruchtbarkeit oder chronische Krankheiten. Ein wichtiger Schritt, diesen fatalen Folgen entgegenzuwirken, besteht – neben der Verbreitung von Verhütungsmitteln – in der Schaffung von Rahmenbedingungen, die „sichere“ Abtreibungen ermöglichen. Deshalb haben Frauenorganisationen 1990 auf dem Fünften Lateinamerikanischen und Karibischen Feministinnentreffen in Argentinien den 28. September zum Tag der Entkriminalisierung und Legalisierung des Abbruchs erklärt. Seitdem gibt es jährlich an diesem Tag Aktionen.

Heimliche Schwangerschaftsabbrüche sind auch ein Thema der öffentlichen Gesundheitsvorsorge und der sozialen Gerechtigkeit. Denn während Frauen aus der Mittel- und Oberschicht Abbrüche in Privatkliniken vornehmen lassen, sind es die ärmeren Frauen, die nicht das Geld haben, für eine sichere Abtreibung zu zahlen. Restriktive Gesetze haben noch nie Abtreibungen verhindert, sie werden dann nur heimlich durchgeführt, oft unter unsäglichen Bedingungen.

In mehreren Ländern wird derzeit über Reformen der restriktiven Gesetze diskutiert. In den föderativen und laut Verfassung laizistischen „Vereinigten Staaten von Mexiko“ liegt die Entscheidungskompetenz dafür bei den Bundesstaaten. Im Hauptstadtdistrikt D.F., wo die sozialdemokratische PRD regiert, wurde im April 2007 der Schwangerschaftsabbruch bis zur 12. Woche erlaubt. Damit wurde Mexico Stadt nach Cuba (seit 1965), Puerto Rico und Guyana zum vierten Territorium in Lateinamerika, in dem Schwangerschaftsabbrüche straffrei durchgeführt werden können. Das hat im ganzen Land heftige Diskussionen ausgelöst. Obwohl bisher mehr als 12 000 Abbrüche in öffentlichen Krankenhäusern durchgeführt wurden und das angekündigte Chaos („dann kommen Frauen aus ganz Lateinamerika“, warnte die Rechte) ausblieb, wurde eine Klage wegen Verfassungsbruchs beim mexikanischen Verfassungsgericht eingereicht. Die katholische Kirche, Lebensschützer und die von der konservatvien PAN gestellte Regierung machen gegen das Gesetz mobil, u.a. mit dem Aufstellen von 12 400 Kreuzen vor der Kathedrale. Am 29. August dieses Jahres erklärten die Richter den Abtreibungsparagrafen des Bundesdistrikts mit acht gegen drei Stimmen für legal.

In Nicaragua dagegen gibt es seit Oktober 2006 eine restriktive Gesetzesänderung, die auch bei medizinischer Indikation, also bei Lebensgefahr für die Frauen, jeglichen Eingriff verbietet (was seit über 100 Jahren möglich war). Es gibt Fälle, in denen sich Ärzte sogar geweigert haben, andere medizinisch notwendige Eingriffe bei schwangeren Frauen durchzuführen, aus Angst, eines verbotenen Eingriffs bezichtigt zu werden (vgl. ila 301, 306, 310).

In Brasilien finden jährlich bis zu 1,5 Millionen unerlaubte Schwangerschaftsabbrüche statt. Abtreibungen sind verboten und werden mit Gefängnisstrafen zwischen einem und vier Jahren geahndet. Ausnahmen gibt es, wenn Gefahr für das Leben der Mutter besteht oder die Schwangerschaft Folge einer Vergewaltigung ist. Die jahrzehntelange Mobilisierung von Frauengruppen für das Recht auf sichere Abtreibung und gegen Kriminalisierung scheint trotz heftiger Gegnerschaft von Kirche und Lebensschützern ganz langsam einen Bewusstseinswandel einzuleiten, obwohl nach Umfragen die Mehrheit der Bevölkerung weiterhin gegen eine Legalisierung ist. Auf der 13. Nationalen Gesundheitskonferenz in Brasilia wurde am 18. November 2007 über einen Gesetzesentwurf zur Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen abgestimmt. Etwa 70 Prozent der 5000 Delegierten stimmten nach massiver Einflussnahme durch die katholische Kirche dagegen, womit der Entwurf nicht in den Abschlussbericht der Konferenz aufgenommen und der Regierung nicht zur Abstimmung vorgelegt wurde. Die Regierungspartei PT hat Anfang September 2007 auf ihrem Dritten Nationalen Kongress nach sehr kontroversen Diskussionen die Forderung nach Straffreiheit des Abbruchs verabschiedet. Zur Zeit liegt der Abgeordnetenkammer auch der Gesetzenwurf PL 1135/91 zur Entkriminalisierung der Abtreibung vor. Er wurde im Mai und Juni dieses Jahres von den zuständigen Ausschüssen (Familie und Justiz) abgelehnt, kann aber trotzdem noch ins Plenum kommen, wenn genügend Abgeordnete unterschreiben. Es ist aber mehr als fraglich, ob das Gesetz eine Mehrheit im Parlament finden wird.

Am 26. August fand die erste von drei öffentlichen Anhörungen vor dem Obersten Gerichtshof (Supremo Tribunal Federal – STF) zu der Frage statt, ob Schwangerschaftsabbrüche im Falle einer Anenzephalie (fehlendes Gehirn) zukünftig in Brasilien möglich sind oder nicht. Das war seit 2004 – mit ärztlicher Bescheinigung – erlaubt, wurde aber aufgrund des Drucks religiöser Gruppen vom STF kassiert.
In Ecuador war die Frage der Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen in der Verfassungsdebatte eines der Themen, die die polemischsten Auseinandersetzungen auslösten. Der verabschiedete Text der Verfassung stellt sowohl die katholische Kirche, als auch die Frauenbewegung nicht zufrieden. Denn im Artikel 45 wird der Schutz für jedes Leben nach der Befruchtung garantiert, aber der Artikel 66 „garantiert das Recht, freie, verantwortungsvolle und informierte Entscheidungen über die Gesundheit und die Reproduktion zu treffen und darüber, wann und wie viele Kinder“ jemand haben möchte. Die katholische Kirche protestiert gegen letzteren Artikel, er sei zwar „nicht direkt pro Abtreibung, könne aber zu allen möglichen Interpretationen Anlass geben, so dass die Menschen einfach Entscheidungen je nach ihrer Gesundheit und den Umständen treffen“, wie der frühere Erzbischof von Cuenca, Luis Alberto Luna Tobar, warnte.

Die Frauenbewegung sieht in dem Text keinen Fortschritt gegenüber der Verfassung von 1998. Das Versprechen der Regierung, auch eine Bürgerinnenrevolution zu machen, sei nicht erfüllt worden. Sexuelle Gewalt sei kein Thema, viele ungewollte Schwangerschaften seien aber die Folge von Gewalt in Beziehungen oder von Vergewaltigungen.

In Bolivien ist Abtreibung verboten, mit Ausnahme – mit vorheriger richterlicher Anordnung! – bei einer Vergewaltigung, „einer Entführung, die nicht in eine Eheschließung mündet“, Inzest oder bei Lebensgefahr für die Mutter. Es finden trotzdem jährlich zwischen 30 000 und 40 000 Abtreibungen statt. Umfragen zufolge gibt es – vor allem bei Aymara- und Quechuafrauen – große Widerstände gegen eine Legalisierung der Abtreibung.

In Venezuela wird der Schwangerschaftsabbruch mit Gefängnis zwischen sechs Monaten und zwei Jahren geahndet. Ausnahmen gibt es, wenn abgetrieben wird „um die Ehre zu schützen“. In Venezuela gibt es extrem viele Schwangerschaften bei Jugendlichen, 20 Prozent aller Schwangeren sind minderjährig, das ist die höchste Rate in Lateinamerika. Trotzdem steht das Thema nicht auf der Prioritätenliste der Chávez-Regierung, wie Mercedes Muñoz, die Sprecherin der „Venezolanischen Vereinigung für eine andere Sexualität“ (AVESA) klagt. Das öffentliche und kostenlose Gesundheitssystem sei generell eine große Hilfe für die Frauen, nur bei sexuellen Fragen, Sexualaufklärung, Verhütung, Möglichkeit eines Abbruchs tue es nichts. Schwangerschaft und Kinder sind auch in Venezuela reine Frauensache, ungewollte oder frühe Schwangerschaften gelten als moralisches Problem, nicht als soziales. Hugo Chávez erklärte dazu im April 2008: „Was Abtreibungen angeht, da können Sie mich ruhig konservativ nennen, aber damit bin ich nicht einverstanden.“

In Uruguay, dem vielleicht laizistischsten Staat Lateinamerikas, ist Bewegung in die Diskussion gekommen: Im Dezember 2007 stimmte der Senat, die zweite Kammer des uruguayischen Parlamentes, mit 18 zu 13 Stimmen einem Gesundheitsgesetz zu, das auch einen Passus zur Straffreiheit von Abbrüchen enthält. Nach dem Gesetzentwurf kann eine Schwangerschaft in den ersten zwölf Wochen unter bestimmten Bedingungen legal abgebrochen werden. Jetzt muss noch das Abgeordnetenhaus über die Gesetzesvorlage abstimmen, in dem ebenso wie im Senat die Mitte-Links-Koalition Frente Amplio die Mehrheit stellt. Eigentlich gilt eine Zustimmung als sicher und eine breite Mehrheit sowohl der Basis der Frente Amplio als auch der Gesamtbevölkerung ist für das „Gesetz zur Reproduktiven Gesundheit“, das sowohl die Entkriminalisierung von Abtreibungen als auch die Einführung von Sexualerziehung vorsieht. Aber dem steht der Präsident im Wege. Tabaré Vázquez hat angekündigt, gegen jedes Gesetz, das die Möglichkeit eines straffreien Abbruchs vorsieht, sein Veto einzulegen. Also lavieren die meisten Abgeordneten der Frente Amplio im Parlament herum. Denn schon hat der Vorwahlkampf für die Parlamentswahlen im Oktober 2009 begonnen und bei der Mehrheit der Abgeordneten überwiegt die Furcht vor einer öffentlichen Beschädigung des Präsidenten die Wut über die Sturheit des der katholischen Kirche nahe stehenden Vázquez. 

Seit 1889 ist in Uruguay ein Schwangerschaftsabbruch strafbar und nur aus medizinischen Gründen zulässig. Versuche, einen straffreien Schwangerschaftsabbruch auch aus anderen Gründen gesetzlich festzuschreiben, sind in den letzten Jahren gescheitert. Vielmehr gab es 1938 sogar noch eine Verschärfung: Alle Frauen, die eine Abtreibung vornehmen, sowie alle beteiligten Personen wie ÄrztInnen oder Krankenschwestern werden strafrechtlich verfolgt und können zu einer Gefängnisstrafe verurteilt werden. Seit 2005 ist auch der Verkauf der Abtreibungspille Misoprostol verboten. Nach Schätzungen von Frauenrechtsorganisationen werden jährlich rund 35 000 unerlaubte Schwangerschaftsabbrüche in Uruguay vorgenommen.

In Argentinien darf eine Abtreibung nur dann legal stattfinden, wenn die Frau vergewaltigt wurde und geistig behindert ist oder wenn das Leben der Frau durch die Schwangerschaft gefährdet ist. Immer wieder entscheidet aber die Justiz auch in diesen Fällen, dass kein Abbruch stattfinden darf. Seit Mai 2005 gibt es eine breit angelegte nationale Kampagne für das Recht auf legale, sichere und kostenlose Abtreibung. Am 28. Mai 2007 wurde ein entsprechender Gesetzesentwurf im Kongress eingebracht, der zur Zeit verhandelt wird. In Argentinien treiben circa 800 000 Frauen jährlich ab und 500 sterben durch schlecht durchgeführte Eingriffe.