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Über den Tellerrand hinaus

Endlich ein Buch über 1968 aus globalhistorischer Perspektive
Gert Eisenbürger

Erstens, der Aufbruch des Jahres 1968, oder der „rebellischen Periode“ um 1968, war ein weltweites Phänomen. Zweitens, er war nirgendwo eine reine StudenInnenbewegung, auch wenn Studierende fast überall eine zentrale Rolle spielten. Das sind zwei der Grundthesen des von Jens Kastner und David Mayer herausgegebenen Buches „Weltwende 1968 – Ein Jahr aus globalhistorischer Perspektive“, denen zwölf AutorInnen in dreizehn durchweg lesenswerten Beiträgen nachgehen.

Wie es sein konnte, dass sich die auf ihre Art sehr unterschiedlichen Revolten in so unterschiedlichen Ländern wie dem Senegal und den USA, Mexiko und Jugoslawien, Japan und Frankreich im gleichen Zeitraum vollzogen, fragt Marcel van der Linden in seinem Beitrag „1968: Das Rätsel der Gleichzeitigkeit.“ Mit dem ausdrücklichen Vermerk, darauf keine erschöpfende Antwort geben zu können, weist er darauf hin, dass in den fünfziger und sechziger Jahren sowohl in den Metropolen des Nordens, als auch den Ländern des Südens, die Zahl der OberschülerInnen und StudentInnen enorm anwuchs. Hatten weiterführende Schulen und Universitäten bis dahin vor allem der Reproduktion der Eliten gedient, verlangte die ökonomische Dynamik nun hoch qualifizierte Fachkräfte in großer Menge, weswegen auch verstärkt Angehörige weniger privilegierter Schichten Zugang zu den Universitäten erhielten. Damit entstanden fast überall autonome Jugendkulturen, deren Einfluss nicht nur auf die studentische Bevölkerung begrenzt blieb. 

Im Universitätssystem, das fast überall nach westlichen Vorbildern organisiert war, gab es zudem, trotz aller Ungleichheiten, eine gewisse Ähnlichkeit des studentischen Lebensstils und auch der Vorstellungen und Ideen. Neben diesen sozialstrukturellen Gemeinsamkeiten nennt van der Linden eine Reihe von externen, sprich politischen Entwicklungen, die Jugendliche weltweit beschäftigten, wie die cubanische Revolution, die (unvollständige) Entkolonisierung, die Invasion und der Krieg der USA in Vietnam, die chinesische Kulturrevolution (obgleich sie letztlich eine „von einer Parteifraktion manipulierte Jugendbewegung mit terroristischen Zügen“ gewesen sei). Dazu kamen wechselseitige Lernprozesse, die durch Jugendaustausch und Auslandssemester bzw. -studium erleichtert wurden.

Zwei Beiträge beschäftigen sich mit Lateinamerika. David Mayer unterstreicht dabei, wie stark die cubanische Revolution die gesellschaftliche Dynamik auf dem Kontinent in den sechziger Jahren bestimmte. Das betrifft nicht nur den Aufschwung der sozialen Bewegungen, denen die cubanische Entwicklung deutlich machte, dass radikale Änderungen in Lateinamerika sehr wohl möglich sind, sondern auch militärische Experimente – sprich der Aufbau von Guerillagruppen – ausgehend von Ches falscher Analyse, dass der Erfolg der cubanischen Revolution vor allem durch das Zusammenspiel einer kleinen Gruppe Bewaffneter mit der Landbevölkerung möglich geworden sei. Dies versuchte man auf Lateinamerika zu übertragen und scheiterte überall grandios.

Martina Kaller-Dietrich beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit dem „katholischen 68“, nämlich der Bischofskonferenz von Medellín im August/September besagten Jahres. Hier handelte es sich natürlich mitnichten um eine Revolte gegen das kirchliche Establishment (so etwas gab es 1968 übrigens auch, in der BRD etwa die Bewegung „Kritischer Katholizismus“ – die den Essener Bischof beim dort stattfindenden Katholikentag mit der Parole „Hengstbach wir kommen, wir sind die linken Frommen“ begrüßte). Aber auch wenn die Bischofskonferenz in Medellín eine von der Kirchenhierarchie initiierte und gelenkte Veranstaltung war, war sie eindeutig Teil des epochalen Umbruchs des Jahres 1968. Aus ihren Dokumenten spricht die soziale Botschaft und Sicht von Gesellschaft, die die cubanische Revolution auf die Tagesordnung gesetzt hatte. Die Dokumente betonten die Notwendigkeit sozialer Reformen – auch solche der Eigentumsrechte, etwa beim Zugang zu Land – und die befreiende Botschaft des Evangeliums. 

Zwar war der Begriff „Theologie der Befreiung“ in einzelnen theologischen Publikationen schon vor 1968 benutzt worden, doch mit der Bischofskonferenz von Medellín wurde er bekannt und fortan für das breite Spektrum kirchlicher Praxis benutzt, die sich der sozialen Realität Lateinamerikas stellte und auf ihre Veränderung hinwirkte. Was als Reform von oben begann, entwickelte in den siebziger Jahren eine Eigendynamik, vor allem durch die Bewegung kirchlicher Basisgemeinden, die irgendwann doch zu einer Herausforderung der hierarchischen kirchlichen Strukturen wurde. Ihren Einfluss und den der gesamten Befreiungstheologie zurückzudrängen war seit den achtziger Jahren wichtigstes Ziel der Lateinamerikapolitik des Vatikan, maßgeblich betrieben vom Chef der römischen Glaubenskongregation und heutigen Papst Josef Ratzinger. Jener Josef Ratzinger übrigens, der 1968 seinen Lehrstuhl in Tübingen aufgab, weil er sich der Kritik der StudentInnen nicht stellen wollte.

Neben den erwähnten Beiträgen enthält das Buch noch Artikel zum Entstehen der neuen Frauenbewegung, der Rezeption des Krieges in Vietnam und deren Bedeutung für die Globalisierung des Holocaust-Diskurses, zur Bildenden Kunst um 1968 sowie Länderstudien zu Jugoslawien, der Tschechoslowakei, dem Senegal, den USA (über die schwarze Bürgerrechtsbewegung), Italien und Spanien.

Ich jedenfalls habe schon lange kein politisches Sachbuch mehr mit soviel Spaß und Erkenntnisgewinn gelesen wie Weltwende 1968. Kann ich nur empfehlen!

Kastner, Jens & Mayer, David (Hg.): Weltwende 1968 – Ein Jahr aus globalgeschichtlicher Perspektive, Mandelbaum-Verlag, Wien 2008, 208 Seiten, 17,80 Euro