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Machtproben

EuroparlamentarierInnen trafen in Bolivien auf eine schwierige Gemengelage

Nach dem so genannten Abberufungsreferendum vom 10. August schienen die Machtverhältnisse in Bolivien geklärt: Für Präsident Evo Morales stimmten 67,4 Prozent der WählerInnen. Das sind 13 Prozent mehr als bei seiner Wahl Ende 2005. Auch in den angeblich abtrünnigen Departements legte der erste indigene Präsident des Landes entscheidend zu. Zwei Departementpräfekten wurden abgewählt, die Präfekten der rebellischen vier Departements im östlich gelegenen Tiefland, der so genannte Media Luna, dagegen bestätigt. Das deutete auf Verhandlungen zwischen dem Präsidenten und den „autonomistischen“ Präfekten über Zugeständnisse an die reichen Regionen und danach ein klares „Ja“ im Referendum über die neue Verfassung hin, die den Übergang vom kolonial-republikanischen zu einem plurinationalen Bolivien in ihrer Präambel festschreibt. Doch es kam anders. Die autonomistas griffen zu brutaler Gewalt und machten Jagd auf Evo-UnterstützerInnen. Eine Delegation aus fünf EuroparlamentarierInnen war Ende September in Bolivien, um sich ein Bild der Lage zu machen. Gaby Küppers hat die Abgeordneten begleitet.

Gaby Küppers

Bolivien liegt nicht um die Ecke. Von Europa aus gibt es keinen Direktflug. Man muss umsteigen, gute 20 Stunden Reisezeit sind das Minimum, meist dauert es wesentlich länger. Kein Tourismusziel also und auch beim Ausbau von Handelsbeziehungen kommen Zweifel auf. „Aber gerade darüber müssen wir dringend reden“, sagt Christián Inchauste und wedelt mit einer Zeitung. „Die USA haben gestern die Zollvergünstigungen (ATPDEA) für Bolivien gestrichen. In El Alto rechnet man mit 30 000 bis 50 000 Arbeitsplatzverlusten im Bereich Textilien, Handwerk, Edelsteine und Schmuck.“ Wir sitzen auf dem Flughafen in Lima und warten auf den Anschluss. Christián Inchauste ist bolivianischer Botschafter in Brüssel. Er begleitet die EP-Delegation, denn die Regierung hängt die Visite sehr hoch. Die Streichung des ATPDEA ist nur eine weitere Eskalationsstufe im Versuch der USA, die bolivianische Regierung zu destabilisieren. Anfang September hatte die Regierung Morales den US-Botschafter Philipp Goldberg wegen konspirativer Unterstützung der gewalttätigen Opposition ausgewiesen. Als Retourkutsche setzten die USA Bolivien auf die schwarze Liste der in Drogenfragen nicht kooperationswilligen Länder. Jetzt der ökonomische Knebel. Und wenn jetzt auch noch die HandwerkerInnen und HändlerInnen aus El Alto, eine bisherige Bastion des indigenen Präsidenten, wegen des Wegfalls der Exportmöglichkeiten in die USA der Regierung die Schuld geben und ebenfalls in die Opposition gehen?

Auf dem Weg vom Flughafen in El Alto hinunter nach La Paz ist in der Nacht zum Sonntag indessen alles ruhig. Der regionale Sicherheitsdienst der EU-Vertretung hatte den Abgeordneten von der Reise abgeraten. Selbst die Angestellten der Vertretung sollten vorerst La Paz nicht verlassen und zu Hause genügend Lebensmittel und Trinkwasser horten. Doch am Sonntag ist in La Paz das Leben wie immer. Der Prado ist für Autoverkehr gesperrt. Man flaniert an Ständen entlang, auf Bühnen wird Musik und Theater gespielt.

Hier tobt kein Bürgerkrieg. Ich würde eher von einzelnen Konfliktzonen reden“, nickt Coco, Geschäftsführer von Inti Watama, einem Jugendprojekt, als wir einigermaßen überrascht von soviel „Normalität“ zu unserer ersten Gesprächsrunde in La Paz aus dem Auto steigen. Von der Opposition erwähne niemand, dass die ökonomischen Indikatoren so gut seien wie in den letzten 40 Jahren nicht, sagt Coco. Obwohl diese positive wirtschaftliche Entwicklung bei den kleinen Leuten noch nicht angekommen sei, hielten sie zu Evo. Auch die Leute aus den sozialen Bewegungen sähen sich als Teil des Prozesses. Es seien ihre Vorstellungen, die in die neue Verfassung Eingang gefunden hätten. Es sei daher ein von den Medien kolportierter Mythos, dass der Verfassungsprozess von der Regierungspartei MAS dominiert würde. Aber niemand glaube heute mehr an die Medien, außer Teilen der Mittelschichen. Coco verweist auf das andine Prinzip der Harmonie, ein Widerspruch zur in Oppositionskreisen gern wiederholten Behauptung, die Indígenas Boliviens, allen voran Evo, wollten den Gegner zerstören. „Im Gegenteil“, sagt Coco, „erinnert euch an den Marsch von 20 000 Indígenas Mitte September auf das aufständische Santa Cruz. Im Vorfeld hieß es, sie rückten schwer bewaffnet vor, um ein Blutbad anzurichten. Aber nichts davon geschah. Vor Santa Cruz blieben sie stehen, unbewaffnet, ein riesiger warnender Block, und kehrten dann um.“

Coco hat unseren ersten Termin mit VertreterInnen sozialer Bewegungen organisiert. Fast alle in der Runde sind sich einig: Die Gewalt geht von der Media-Luna-Opposition aus. Nur Tania von der Öko-Gruppe Ceeisa hält beide Seiten für intolerant. Nach der Ausweisung des US-Botschafters und dem Aus für USAID-Projekte hätten die Indigenas alle USAID-Schilder zerstört, blinde Wut habe sie gesehen und selbst Angst bekommen. „Aber es waren doch nur Schilder“, meint Coco. „In Pando haben die comités cívicos mindestens 16 Indígenas umgebracht. Unzählige Menschen sind seither verschwunden, ob untergetaucht oder ebenfalls umgebracht, wissen wir noch nicht.“ Tania bleibt bei ihrer Meinung, legt aber Wert darauf zu betonen, dass in Sachen Ökologie die Regierung vollkommen klar einen Anti-Pestizid- und Anti-Gentechnik-Kurs fährt. Tania, blond und aus der Mittelschicht, ist kein Einzelfall: im Herzen pro Evo, hat sie ein bisschen Angst vor einem Staat, in dem die Indigenen das Sagen haben.

Paula, ehemalige Abgeordnete des bolivianischen Kinderparlaments, beruhigt Tania: „Unsere Kulturen sind im Prinzip friedlich“, sagt sie. Rassismus habe es immer gegeben, er käme allerdings erst jetzt zum Vorschein, wo die Indígenas nicht mehr stumm duldeten. Juan Carlos sekundiert: „Wir sind keine umgekehrten Rassisten, wir wollen nur Gleichheit. Die von der Media Luna haben schamlos übertrieben. Jemand wie Branko Marinkovic besitzt 100 000 Hektar, fünfmal soviel Land wie die Fläche von La Paz. Soviel Reichtum, wo andere nichts haben, ist ungerecht. Dennoch unterstützt die Presse die Forderung dieser Oligarchen, daran nichts zu ändern.“ José Luis, Journalist beim Basisradio Pachamama in El Alto, weiß warum: Die Medien sind in der Hand von GroßgrundbesitzerInnen, die nach den Buchstaben der Verfassung Land abgeben müssen. Ob künftig die Obergrenze 5000 oder 10 000 Hektar sein würden, soll noch in einem Referendum geklärt werden. José Luis wettert auch gegen die internationale Presse. Kein Korrespondent hielte es für nötig, selbst zu recherchieren. „Die kaufen sich morgens eine Zeitung, übersetzen einen Artikel und schicken ihn mehr oder weniger in den gleichen Worten an ihre Redaktionen. Mit einem Tag Verspätung erscheint dann dort, was hier schon kalter Kaffee ist.“

Wie rabiat die Presse ist, bekommen wir selbst zu spüren. Nach einem Mittagessen mit VertreterInnen der bolivianischen und internationalen Presse steht am nächsten Morgen in der Zeitung, die EuropäerInnen seien voreingenommen und von der Regierung bezahlt. Es hatte ihnen nicht gefallen, dass die Delegation 10 000 Hektar für durchaus reichlich Land hielt und dass die Verhaftung des Gouverneurs von Pando als Drahtzieher der Morde an mehr als einem Dutzend Indígenas keine „Jagd auf Cívicos“, wie in der Presse stand, sondern Pflicht der Justizbehörden sei. Tuto Quiroga zieht ebenfalls vor der Presse gegen die EP-Delegation vom Leder. Der gegen Evo Morales unterlegene Präsidentschaftskandidat empfängt die EuropäerInnen in seiner von der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung unterstützten Fundemos-Stiftung. Tuto Quiroga lobt die gestiegenen Rohstoffpreise, beklagt aber ein angebliches Ausbleiben von Investoren, weil die Regierung unter dem Diktat des venezolanischen Präsidenten Chávez die schöne liberale Verfassung durch ein Machwerk ersetzen wolle, das die Indígenas einseitig bevorzuge und die Republik durch einen „totalitären sozialistischen Staat“ ersetze. „Wir wollen keine Supersowjets“, insistiert er und behauptet, die Hälfte der in Oruro im Dezember letzten Jahres („illegal“) angenommenen Verfassungsartikel sei nachträglich verändert worden und die so nochmals degenerierte Konstitution solle nun mithilfe von bewaffneten Stoßtrupps, die Senatoren einschüchterten, durchgesetzt werden. Da die Delegation so einiges aus seinen Darstellungen nicht teilt, liest sie am nächsten Morgen in der Zeitung, sie sei unausgewogen. Man solle, hatte Tuto Dutzenden Mikrofonen empfohlen, die EuroparlamentarierInnen nicht ernst nehmen. 

Anders als der Hardliner, dessen Podemos-Partei den Senatspräsidenten stellt und damit für die legislative Totalblockade verantwortlich ist, zeigt sich Samuel Doria Medina, Zementgroßunternehmer, Dritter bei den Präsidentschaftswahlen und Chef der Oppositionspartei Unión Nacional („Wir sind sozialdemokratisch“) auf Vermittlungskurs. Die Abstimmung in Oruro sei rechtmäßig gewesen, widerspricht er Tuto Quiroga. Aber auch er will nicht, dass die Indígenas mit der neuen Verfassung privilegiert würden. Die Rohstofffrage („Nationalisierungen“) müsse neu verhandelt werden, um Investoren nicht abzuschrecken, und selbstverständlich müsse der Wiederwahl Evos ein Riegel vorgeschoben werden. Kurz: 80 Prozent des Textes seien okay, aber 20 Prozent müssten noch verändert werden. Ach ja, was die Obergrenze für Landbesitz betrifft: 100 000 Hektar seien in Wirklichkeit gar nicht so viel Land, denn bei Überschwemmungen müssten Kühe auf andere Weideplätze ausweichen können.

Ob mit dieser „gemäßigten“ Opposition etwas mehr Staat zu machen ist? Waldo Albarracín, Boliviens Ombudsmann, ist skeptisch. Früher kämpfte der Staat gegen die Zivilgesellschaft, antwortet er auf unsere Frage, heute steht Staat gegen Staat, einige Präfekten (Regierungschefs der Bundesstaaten – die Red.) proben den Aufstand gegen den Präsidenten. Vorgeblich gehe es dabei um Autonomie, aber der allem zugrunde liegende Konflikt sei die Landfrage und die IDH, die Steuer auf das nationalisierte Gas, die zum Teil in die neu geschaffene Altersrente für alle fließt. Die Präfekten derjenigen Departements, in denen die Öl- und Gasfirmen ihren Sitz haben, beanspruchen die Einnahmen aus den Bodenschätzen dagegen vollständig für sich. Dafür lassen sie sogar auf Menschen schießen. Leonardo Fernández, Präfekt von Pando, steht unter dringendem Verdacht, am 11. September Rädelsführer des Mordes an mindestens 16 wehrlosen Indígenas gewesen zu sein. Der Ombudsmann zeigt aus dem Fenster seines Amtssitzes: „Da hinten sitzt er in Untersuchungshaft. Vor der Tür schieben Dutzende von Ponchos Rojos, Indígenas vom Altiplano, Wache. Denn sie haben kein Vertrauen in die Justiz. Mit ihrer Anwesenheit wollen sie verhindern, dass der Präfekt freikommt.“

José Luis Exeni kann diese institutionelle Schwäche nur bestätigen. Er ist Vorsitzender des Obersten Wahlgerichts, das eigentlich aus fünf RichterInnen bestehen müsste. Doch nur drei sind im Amt, davon einer nur bis nächsten Dezember. Neue RichterInnen müssten vom Senat bestätigt werden. Der MAS hat dort die Mehrheit, verfügt aber nicht über die notwenigen zwei Drittel der Stimmen. Die Opposition nutzt dies zur institutionellen Generalblockade. Selbst das Oberste Verfassungsgericht besteht nur noch aus einer allein beschlussunfähigen Richterin. Dennoch sieht Exeni die Lage positiv: „Der Prozess ist irreversibel. Wir befinden uns in einer Art zweitem Übergang zur Demokratie.“ Der Vorsitzende strahlt Hoffnung aus: „Das Referendum letzten August hatte eine Beteiligung von 84 Prozent, so hoch wie noch nie bei einem Referendum.“ Aber trotz verstärkter Anstrengungen zur Ausstellung von Ausweisen durch die jetzige Regierung hätten immer noch rund acht Prozent der Bevölkerung keinen Wahlausweis. Sie seien keine BolivianerInnen, weil die Eltern eine Geburtsurkunde nicht hätten bezahlen können. Ein Gesetzentwurf zur systematischen nachträglichen Registrierung liege vor, werde aber ebenfalls vom Senat blockiert, genauso wie ein Gesetz zur Wahlbeteiligung von im Ausland lebenden BolivianerInnen. Den Grund gibt der konservative Senatspräsident Oscar Ortiz sogar selbst zu: „Aus praktischen und Kostengründen würde das Gesetz erst mal dort umgesetzt, wo viele BolivianerInnen leben, also etwa in Argentinien. Dort arbeiten aber vor allem arme BolivianerInnen, die die MAS-Basis stellen.“

Als wir zwei Tage später in Santa Cruz VertreterInnen der regionalen Wahlgerichte, damit Exenis Untergebene, hören, fragen wir uns, ob der Optimismus des Obersten Wahlrichters nicht nur das Pfeifen im Walde war. Als erstes zweifelten sie die Rechtmäßigkeit von knapp 300 000 Wahlausweisen an, die seit Evos Wahlantritt an BolivianerInnen ohne Geburtsurkunde ausgegeben waren. Dann beklagten sie sich über mangelnde politische Neutralität ihres Chefs in La Paz. Der Büroleiter aus Santa Cruz hatte offenbar nur GesinnungsgenossInnen aus den neun Departements eingeladen, und die nutzten die Gelegenheit, die vergangenen rechtlich äußerst problematischen Abstimmungen über die departamentale Autonomie zu verteidigen: „Es gilt die Rechtmäßigkeitsvermutung, solange das Oberste Verfassungsgericht keinen Einspruch einlegt.“ Diesen konnte es freilich nicht einlegen, da es nicht beschlussfähig ist. Trick siebzehn.

Wahrscheinlich sind es solche Trickser zum eigenen Vorteil, die Außenminister David Choquehuanca meint, als er sagt, er wolle noch auf einem Dorffest tanzen können, ohne dass man ihn anspucke, wenn er irgendwann einmal abgetreten sei. Gauner seien die früheren Regierungen gewesen: „Die erste Amtshandlung vieler Minister war, sich selbst Hunderttausende von Hektar Land zu überschreiben. Der Regierungspalast war ein Ort, wo man hinging, um Geschäfte zu machen.“ Die Zahlen belegen das: Die 1953 beschlossene Agrarreform hat bis 1992 36 Millionen Hektar verteilt, davon 32 Millionen an GroßgrundbesitzerInnen. Der Minister gehört zu den anderen: Die Eltern besaßen gerade einmal einen Hektar Land. Nicht genug für sieben Geschwister, die folglich in die Stadt abwanderten, zwei Brüder sogar illegal nach Europa.

„Auch unter der neuen Regierung“, sagt Choquehuanca, „ist die Mentalität noch längst nicht überwunden, dass der Staat nur zum Schröpfen da ist.“ Und er beschreibt, wie er in seinem Ministerium unversehens auf Beamte trifft, die außer ihr Gehalt zu kassieren gar nichts machen. Choquehuanca träumt davon, das Land zu industrialisieren. Lithium zum Beispiel, sagt er. Im Gebiet des Uyuni-Salzsees liegen riesigen Reserven. Wir könnten Batterien herstellen und damit das Land aus der Rolle des Rohstofflieferanten herausholen.
Industrialisierung sieht die Regierung Evo Morales als Weg in die Zukunft, auch bei der Coca-Politik. „Wir machen große Fortschritte weg von der Produktion von Kokain, daher sind die letzten Schritte der USA gegen uns völlig unverhältnismäßig und rein politisch begründet“, sagt Choquehuanca. „Kolumbien hat seine Drogenproduktion um 27 Prozent erhöht und wird von den USA verhätschelt. Wir führen ein erfolgreiches Reduktionsprogramm durch und werden bestraft. 

Die einseitige Aufkündigung der Zollbefreiung (ATPDEA) und die Aufnahme Boliviens auf die schwarze Liste der kooperationsunwilligen Drogenproduzenten ist eine Reaktion auf die Ausweisung des US-Botschafters Philipp Goldberg, weil er mit der Opposition konspirierte.“ „Früher“, fährt der Außenminister fort, „saß ein CIA-Vertreter im Regierungspalast. Minister rühmten sich damit, dass ihre Programme von den USA abgesegnet seien.“ Choquehuanca organisiert uns auf die Schnelle ein Treffen mit dem Vizeminister für Soziale Verteidigung und Kontrollierte Substanzen Felipe Cáceres, also dem Vizecocaminister. Auch er beschreibt die Überheblichkeit der US-AmerikanerInnen, die die BolivianerInnen von ihren Cocabekämpfungsprogrammen nicht einmal in Kenntnis setzten, wohl aber die bolivianische Armee befehligten. „Im letzten Jahr wollen die USA 26 Millionen Dollar in den Antidrogenkampf in Bolivien gesteckt haben, aber sie sagen nicht wohinein.“

Cáceres spricht nicht von Ausreißen, sondern vom Rationalisieren der Cocapflanzen. Damit ist die Vernichtung der überschüssigen Cocapflanzen in den Yungas gemeint. „Reine Zerstörung ohne Alternativen bringt nichts. In achtmonatigen Gesprächen haben wir die BäuerInnen davon überzeugt, dass die nicht zum traditionellen Genuss benötigte Coca weg muss. Wir reißen sie gemeinsam aus und bauen auf soziale Kontrolle. Wer zum ersten Mal mit mehr als einem Cato (errechneter Einzelbedarf) erwischt wird, bekommt ein rotes Kreuz in seine Akte. Beim zweiten Mal verliert er sein Recht auf einen Cato. Beim dritten Mal verliert er sein Land und wird der Justiz übergeben.“ Cáceres ist überzeugt, dass das funktioniert, sofern in den Yungas ein integrales Entwicklungsprojekt durchgeführt wird. Aber nicht wie früher, wo den BäuerInnen Tomaten- oder Ananasanbau aufgenötigt wurde, obwohl weder Straßen noch Vermarktungsmöglichkeiten existierten. Er spricht von Ausbildung, von Aufbau von Handwerk und Industrie. „Die Kinder der CocaproduzentInnen brauchen keine BäuerInnen mehr zu sein“, sagt er. Mit alternativen Cocaprodukten wie Cocalikör oder Cocazahnpasta ist es allerdings noch nicht so weit wie erhofft. Um auf ausländische Märkte zu exportieren, muss der Coca eins der 13 Alkaloide entzogen werden, das den Suchtstoff in einem chemischen Prozess entwickelt. Aber da hapert es bei Entwicklung und Umsetzung noch.

Um Coca und Cato geht es auch Evo Morales bei seinem Gespräch mit den EP-Abgeordneten. „Wenn wir von erradicación (Ausreißen) reden, denken wir nicht an Coca, sondern an Armut“, sagt er und beschreibt seine Nachbarn in Cochabamba, die heute vier Stützen in Anspruch nehmen, die beiden Großeltern bekommen die sogenannte „Rente der Würde“, die beiden Kinder einen Schulbonus, solange sie das Schuljahr zu Ende bringen. Der Präsident, der aus der Armut kam, rechnet das vor den staunenden EuropäerInnen gleich in die Anzahl der Schafböcke um, die sich die Familie seither leisten kann. „Die IDH (Gassteuer), womit Rente und Schulgeld bezahlt werden, ist kein konfisziertes Geld, sondern Geld, das der Bevölkerung gehört und ihr zurückgegeben wird.“ Und dann kommt er auf die zu sprechen, die dieses Projekt gerade mit Gewalt zu Fall bringen wollen: „Als ich noch Gewerkschaftsführer war, haben wir auch Besetzungen durchgeführt. Aber immer mit dem Ziel, auf Missstände aufmerksam zu machen, nicht um staatliche Sender, Agrarreforminstitute und deren Archive zu zerstören, Pipelines in die Luft zu sprengen und Menschen umzubringen. Das ist Terrorismus, Sabotage und Mord.“ Evo Morales' Vizepräsident Alvaro García Linera spricht von einem zivilen Putschversuch, dem nur die militärische Komponente fehlte. Er dankt der UNASUR (Union der Südamerikanischen Staaten, die unter der amtierenden Präsidentin Bachelet die bolivianische Regierung unterstützte) und setzt auf einen Dialog, um die Krise zu überwinden. „Aber nicht auf Augenhöhe. Wenn die Aufwiegler eine andere Verfassung wollen, dann sollen sie erstmal in demokratischen Wahlen die Mehrheit gewinnen. Mit Branko (Marinkovic, Chef des Comité Cívico in Santa Cruz –die Red.) allerdings ist keine Übereinkunft möglich.“

Man ahnt ein wenig, dass der Dialog, der in La Paz mehrheitlich beschworen wird, durchaus noch holpern und stolpern kann. In der Tat weht in Santa Cruz ein anderer Wind. Zwar ist der Präfekt abgereist nach Cochabamba, um mit der Regierung zu dialogisieren. Doch seine meist junge Mannschaft empfängt die EuropäerInnen mit eindeutigen Schuldzuweisungen. Die Angreifer gerieren sich als Angegriffene. Nicht nur die neue Verfassung gefährde die Demokratie, offenbar habe Chávez auch reichlich Bomben und Waffen in der Gegend verteilen lassen und die Regierung führe die gewalttätigen Schocktrupps der Indígenas an. Kardinal Terrazas ist zwar überzeugt, dass die historisch Ausgeschlossenen integriert werden müssten, aber auch er sagt vergiftete Sätze wie: „Wir leben hier nicht in einem Rechtsstaat“ und „Es gibt heute keine Gerechtigkeit mehr in Bolivien.“ Mit „heute“ meint er „mit der neuen Regierung“.

Nachmittags fahren wir in das andere Santa Cruz. Die Sandstraßen in den äußeren Stadtteilen sind nach den ersten Regengüssen der in diesem Jahr offenbar zu früh einsetzenden Regenzeit beinahe unbefahrbar. Hier und da steckt ein Kleinbus in einem unvorhergesehenen Wasserloch, Passagiere retten sich durch die Fensterchen. Als wir im CIDOB, dem Zentrum der TieflandindianerInnen, ankommen, wird gerade ein Film über die Verwüstungen gezeigt, die die Juventud Cruzenista Anfang September hier anrichtete. (Das siebenminütige Video, engl./span., gibt es unterhttp://www.greens-efa-service.eu/bolivia/) Sechs Tage lang hielten Schläger die Räumlichkeiten besetzt, bedrohten und schlugen BewohnerInnen, zerstörten die Einrichtung und vor allem die Archive. Der gleiche Vandalismus widerfuhr dem CEJIS, dem Zentrum für Studien zu sozialen und Indígenarechten. Das von der EU geförderte CEJIS widmet sich der juristischen Begleitung des Kampfes der Indígenas um Land. Gezielt wurden dort Landtitel, Prozessakten und Katastereintragungen verbrannt, die vielfach unwiederbringlich sind.

Rund 25 VerteterInnen von NRO und sozialen Bewegungen sind zu dem Gespräch mit der europäischen Delegation gekommen. Eine seltsame Atmosphäre: Gesplittertes Glas, einige Fenster sind mit Kartons abgedichtet. Im Hof Säcke mit Resten verbrannter Bücher. Die meisten berichten von Angst, davon, dass dringend Schlafplätze gesucht werden für FreundInnen, die sich weiterhin verstecken. Wer auf den im Stadtzentrum ausgehängten Listen der Unión Cruzeñista, der Jugendorganisation des Comité Cívico, auftaucht, muss schleunigst untertauchen. Die Schläger selbst sind meistens arme Jugendliche, die die Drecksarbeit für ein Mittagessen und das Gefühl, zu den Starken und Mächtigen zu gehören, erledigen. „Für die Unionistas rekrutiert das Comité Cívico Jugendbanden. Wir kennen die Kids zum Teil“, sagt Soledad, die wir bei einem zweiten Termin im CIDOB mit 30 weiteren Jugendlichen treffen. Und: „Bei uns kommen die nicht rein. Unser Radio haben sie nicht zu besetzen geschafft.“ Soledad stammt aus „Plan 3000“, einem MigrantInnenstadteil, der mit seinem Gemisch von BolivianerInnen aus allen Landesteilen so etwas wie Bolivien im Kleinen ist. Plan 3000 macht den „cambas“, wie sich die BewohnerInnen von Santa Cruz selbst stolz nennen, Angst. Es ist für sie die Invasion, oder besser noch die allmähliche Umzingelung durch die Armen des indianischen Hochlands wie des Tieflandes, die ihnen ihren Reichtum streitig machen.

Die meisten haben inzwischen Personalausweise. Fast alle haben MAS gewählt. Wegen solcher BolivianerInnen blockiert die Opposition im Senat das Gesetz zur nachträglichen Registrierung von Menschen im Geburtenregister wie auch ein Gesetz, die Registrierung grundsätzlich gebührenfrei zu machen. Dabei haben sie alle Träume, die man kaum revolutionär nennen kann: „Wir wollen eine gute Schulausbildung“, sagen sie. „Und eine Uni im Plan 3000. Wenn ich in ein paar Jahren Kinder habe, will ich, dass sie friedlich aufwachsen.“ Aber auch das gönnen die cambas ihnen nicht. „Tja, die Turbulenzen werden wohl noch ein Weilchen weitergehen“, sagt Botschafter Christián Inchauste, als ich ihn nach meiner Rückkehr in Brüssel wiedertreffe.