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Subcomandante Marcos hat weiterhin viel zu sagen
Gert Eisenbürger

In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre war er ein Medienereignis: Vermummt, attraktiv, wortgewaltig, humorvoll – der gute Mensch aus Chiapas. Doch dann wollte er nicht mehr: „Wir hätten tatsächlich so weitermachen können, Laura. Ein Augenzwinkern von uns hätte genügt und sie hätten die Kommuniqués abgedruckt, um Interviews gebeten und die Leier: ‚Wie romantisch und schön und sexy ist doch der Sub!' wäre weitergegangen, ohne dass für uns etwas herausgekommen wäre.“ 

So äußert sich Subcomandante Marcos von der zapatistischen EZLN 2008 in einem langen Interview mit der mexikanischen Journalistin Laura Castellanos, das im Januar in der Edition Nautilus als Buch erschienen ist. „Kassensturz“ ist der auf den ersten Blick überraschende Titel, aber er passt, denn Marcos zieht eine Bilanz der 14 Jahre öffentlichen Präsenz der EZLN, seit ihrer spektakulären Besetzung der Stadt San Cristóbal de Las Casas am 1. Januar 1994. Mit dieser Aktion wurden die ZapatistInnen schlagartig bekannt und Marcos zum internationalen Medienstar. Doch irgendwann wollte er nicht mehr.

Im Jahr 2001 war eine Delegation der EZLN im „Marsch der Farbe der Erde“ durch Mexiko gereist und hatte überall im Land an Veranstaltungen teilgenommen. Im März erreichte die Karawane Mexiko-Stadt: Marcos sprach vor einer riesigen Menschenmenge auf dem Hauptplatz Zócalo, Kommandantin Esther vor dem Kongress. Bei den Gesprächen in der Hauptstadt sagten PolitikerInnen aller Partei den zapatistischen Indígenas zu, die 1996 mit ihnen ausgehandelten Abkommen über die Autonomie der indigenen Völker Mexikos endlich zu ratifizieren. Doch das vier Wochen später im Parlament verabschiedete „Autonomiegesetz“ hatte mit dem ursprünglich ausgehandelten nichts zu tun und erkennt die Rechte der Indígenas nicht an. Die ZapatistInnen fühlten sich von den Parteien verraten, auch von der damals noch als links geltenden Oppositionspartei PRD. Nach ausführlichen Beratungen kamen sie zu dem Ergebnis, dass ihre in den Jahren zuvor verfolgte Strategie des Dialogs mit der Regierung und den Parteien gescheitert war und man sich zunächst auf den Aufbau basisdemokratischer Strukturen in Chiapas konzentrieren wollte.

Da die Medienpräsenz von Marcos nie Selbstzweck war, sondern dazu dienen sollte, die Forderungen und Ziele der ZapatistInnen bekannt zu machen, entschied man, vorerst auf öffentliche Auftritte zu verzichten. Viele Intellektuelle und Nichtregierungsorganisationen, die die EZLN zu ihrer Verhandlungsstrategie ermuntert und sie dabei unterstützt hatten, konnten diesen Schritt nicht nachvollziehen. 2003 meldeten sich die EZLN und Marcos in der Öffentlichkeit zurück und erläuterten die ins Leben gerufenen Strukturen indigener Selbstverwaltung.

Zum endgültigen Bruch der EZLN mit dem Großteil ihrer einstigen intellektuellen Verbündeten kam es 2005, als Marcos alle drei aussichtsreichen Präsidentschaftskandidaten scharf kritisierte, allen voran Andrés Manuel Lopéz Obrador von der PRD. Die meisten Intellektuellen und Linken unterstützten dagegen Lopéz Obrador, weil sie von ihm einen Bruch mit dem Autoritarismus und dem Neoliberalismus erwarten. Als er dann bei den Wahlen knapp dem rechten Kandidaten Calderón von der PAN unterlag (wobei wahrscheinlich Wahlbetrug im Spiel war), gaben nicht wenige der EZLN eine Mitschuld am verhinderten Machtwechsel. Viele, die die ZapatistInnen einst unterstützt hatten, warfen ihnen nun Sektierertum vor. Die Medien verloren das Interesse, auch die kritischeren, wie die linksliberale Tageszeitung La Jornada, die bis dahin die Kommuniqués der EZLN veröffentlicht hatte. Die ZapatistInnen hörten endgültig auf, eine „Medienguerilla“ zu sein.

Damit konnten sie leben, weil sie den Glauben, mit ihrer Medienpräsenz etwas bewegen zu können, längst aufgegeben hatten. 2006 startete die EZLN die „Andere Kampagne“, die zum Aufbau einer breiten, parteiunabhängigen Basisbewegung gegen Kapitalismus und ökologische Zerstörung führen soll. Bedrohlich finden sie allerdings die zunehmende Militarisierung und die Ausweitung der paramilitärischen Aktivitäten in Chiapas. Es deutet einiges darauf hin, dass die Regierung die Entfremdung zwischen den ZapatistInnen und ihren früheren städtischen UnterstützerInnen nutzen will, um die EZLN und die Selbstverwaltungsstrukturen in Chiapas zu zerstören.

In dem Buch legt Marcos die bisherige Strategie der EZLN dar und begründet die verschiedenen Strategiewechsel. Man versteht, dass die zapatistischen Bekundungen einer anderen politischen Ethik nicht nur Rhetorik sind, sondern fest in den indigenen Traditionen und Moralvorstellungen verwurzelt sind. Wobei man mit Marcos keineswegs immer einer Meinung sein muss, etwa wenn er über die städtische Linke in Mexiko sagt: „Außerdem befinden sich all diese Gruppen in diesem Dilemma zwischen ‚unten' und ‚oben'. Das heißt, sie haben, wenn auch kritisch, López Obrador unterstützt, während wir gesagt haben, dass er nicht einmal diese kritische Unterstützung verdient hat. Sie meinen, dass man gleichzeitig ,oben' und ,unten' sein kann, dass es auch in den Machtsphären aufrichtige Menschen gibt. Wir sind der Ansicht, dass dies nicht stimmt.“ Dass Indígenas gute Gründe hatten, einen Politiker wie López Obrador nicht zu unterstützen, ist nachvollziehbar, man braucht sich nur die Erfahrungen der Indígenas in Ecuador mit Rafael Correa anzuschauen. Das ist aber eine Frage des politischen Projektes, für das diese Politiker stehen, und welche Allianzen sie dafür eingegangen sind, und nicht eine Frage ihrer „Aufrichtigkeit“. PolitikerInnen vertreten Interessen und sind daran zu messen, welche sie vertreten. So gibt es bei Marcos vieles, worüber sich streiten lässt. Aber genau das macht das Buch so interessant. Marcos hat etwas zu sagen, ihn zu lesen lohnt nach wie vor – gerade heute, wo er in den Medien weniger präsent ist. 

Subcomandante Marcos: Kassensturz. Interviews und Vorwort: Laura Castellanos, Fotos: Ricardo Trabulsi, Übersetzung: Horst Rosenberger, Edition Nautilus, Hamburg 2009, 158 S., 13,90 Euro