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Die Kraft der informellen Netze

Raúl Zibechis Buch über die sozialen Bewegungen in El Alto
Gert Eisenbürger

Bei politischen Sachbüchern zu den Themen, die einen interessieren, gibt es solche, die man nicht unbedingt lesen muss, und solche, nach deren Lektüre man das Gefühl hat, etwas verstanden oder gelernt zu haben. Zu ersteren gehören natürlich die, die schlecht recherchiert sind oder die herrschende Ideologie wiederkäuen, aber auch solche, die politisch okay sind, aber nur wiederholen, was man ohnehin weiß. Zu den lohnenden Büchern zähle ich die, die mir neue Erkenntnisse und Einblicke bringen, und solche, an deren Inhalten ich mich reibe, weil mich ihre Argumentation teilweise überzeugt, ich teilweise aber auch Widersprüche habe und deshalb meine eigenen Sichtweisen kritisch hinterfragen muss. Zu den letztgenannten Büchern gehört eindeutig das Buch „Bolivien – Die Zersplitterung der Macht“ des uruguayischen Journalisten Raúl Zibechi.

Spätestens mit dem sogenannten Gaskrieg im Oktober 2003 wurde klar, dass in El Alto eine soziale Bewegung existiert, die mit den traditionellen politischen Kategorien kaum zu erfassen ist. Anders als bei anderen Aufständen hatte hier keine institutionalisierte Kraft (Partei, Gewerkschaft) eine politische Entscheidung gefällt und dann ihre Basis dafür mobilisiert. Die Revolte war aber auch nicht spontan: Die BewohnerInnen El Altos hatten in unzähligen Nachbarschaftsversammlungen darüber beraten und schließlich weitgehend im Konsens beschlossen, dass der Aufstand stattfinden sollte und wie man dabei vorgehen wollte. Die Führung der Kämpfe lag nicht bei einem Generalkommando, sondern die jeweiligen Stadtteilversammlungen entschieden in Absprachen mit anderen, wo Blockaden stattfinden oder Barrikaden errichtet werden sollten und wer welche Aufgaben übernehmen würde. Die gewählten RepräsentantInnen der Nachbarschaftsvereinigungen und ihr Dachverband FEJUVE hatten keine Führungsrolle, sondern mussten sich den Beschlüssen der regelmäßigen Versammlungen unterordnen.
Militär und Polizei reagierten zunächst extrem gewalttätig – mindestens 28 BewohnerInnen El Altos wurden getötet – waren aber letztlich nicht in der Lage, die Rebellion niederzuschlagen. Ihr dezentraler Charakter führte zum Sieg und zum Sturz des Präsidenten Sánchez de Lozada.

Die Grundlage der sozialen Bewegung in El Alto liegt für Zibechi in den kommunitären Organisationsformen der andinen Agrargemeinschaften und den gewerkschaftlichen Erfahrungen der Bergarbeiter. Die Bewegung bestehe auch nicht nur aus den sichtbaren Gruppen, sondern ihre Kraft liege in den unzähligen familiären und gemeinschaftlichen Netzwerken, ohne die das tägliche (Über-)Leben nicht funktionieren würde. Auch wenn die Bewegung eine große Kampfkraft und Autonomie erreicht habe, sei sie gegen die Umarmungsversuche der politischen Parteien nicht immun. Dazu zählt Zibechi ausdrücklich auch die regierende „Bewegung zum Sozialismus“ (MAS) von Präsident Evo Morales. Sie versuche, Führungskräfte der Bewegung zu kooptieren und von ihrer sozialen Basis zu trennen. Ein ähnliches Projekt verfolgten auch zahlreiche von der internationalen Entwicklungshilfe finanzierte Nichtregierungsorganisationen.

Soweit Zibechis Analyse, die sich wohltuend von den organisations- und staatsfixierten Sichtweisen vieler traditioneller Linker abgrenzt.1 Dennoch würde ich einige seiner Einschätzungen nicht unwidersprochen stehen lassen. Im Kampf für die Schaffung einer demokratischen und selbstverwalteten Gesellschaft sieht er politische Parteien – auch linke – als Teil des Problems, nicht seiner Lösung. Das ist mir zu undifferenziert. Es mag sein, dass viele Linksparteien soziale Bewegungen weiter nur als Transmissionsriemen ihrer Politik sehen. Aber die MAS ist keine traditionelle Linkspartei. Sie hat keinen nennenswerten Apparat und wurde von der Indígenabewegung als ihr politisches Instrument geschaffen (vgl. Beitrag von Waldo Acebey in der ila 318). Indigene AktivistInnen sprechen auch heute in der Regel nicht von der MAS, sondern vom politischen Instrument. Ob die MAS sich in Richtung traditioneller Partei bewegt oder ob sie längerfristig ein politisches Instrument der indigenen sozialen Bewegungen sein kann, wäre zumindest eine Analyse wert.

Wie viele Libertäre sieht Zibechi den zentralen Widerspruch zwischen Staat und sozialer Bewegung. Im Beitrag „Industriestandort El Alto“ in dierser ila, beschreibe ich die Herausbildung einer indigenen Bourgeoisie in El Alto. Möglichweise besteht in der verstärkten ökonomischen Differenzierung der Aymara in der Stadt ein weitaus größeres Problem für die Verteidigung und Vertiefung der kommunitären Strukturen als durch die Vereinnahmungsversuche des Staates. Zu diskutieren wäre sicher auch, wie sich die Organisationsformen agrarischer Gesellschaften in der Stadt verändern und was das für die längerfristige politische Praxis bedeutet. Jenseits dieser Einwände stellt Zibechi in dem Buch grundlegende Überlegungen darüber an, wie eine andere Organisation von Gesellschaften jenseits kapitalistischer Logik und bevormundender Staatsmodelle aussehen kann, und reflektiert die spannenden Erfahrungen, die diesbezüglich in El Alto gemacht wurden. Damit ist das Buch ein wichtiger Beitrag zur aktuellen linken Debatte, nicht nur zu Lateinamerika.

Raúl Zibechi: Bolivien – Die Zersplitterung der Macht, Übersetzung: Horst Rosenberger, Edition Nautilus, Hamburg 2009, 188 Seiten, 15,90 Euro

  • 1. In der ila 315 erschien ein längerer Beitrag von Alix Arnold über die spanische Ausgabe des Buches, der die Darstellung Zibechis sehr viel ausführlicher referiert.