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Lob der männlichen Schüchternheit

Interview mit dem argentinischen Filmemacher Adríán Biniez, Regisseur von Gigante

Der bundesweit am 1. Oktober angelaufene Spielfilm Gigante des 35jährigen Regisseurs Adrián Biniez sorgte schon Anfang des Jahres für Aufmerksamkeit, als er auf der Berlinale den Silbernen Bären sowie den Alfred-Bauer-Preis bekam. Die Geschichte des schüchternen Security-Mitarbeiters Jara, der sich via Überwachungskamera in die Putzfrau Julia verliebt, ist nicht etwa ein „modernes Märchen“, sondern eine sehr treffende Momentaufnahme einer Generation und der Stadt Montevideo. Als „lakonisch“ wurde der Film häufig bezeichnet, aber er ist vor allem unspektakulär witzig und sehr uruguayisch. „Ich hab' noch nicht mal Abitur“, bekennt der ins kinovernarrte Autodidakt Adrián Biniez, „ich habe eine Parallelausbildung gemacht, immer viel gelesen, auch theoretische Werke, und bin sehr viel ins Kino gegangen.“ Britt Weyde hatte die Gelegenheit, nach der Premiere in Köln mit Adrián Biniez über seinen Film und die uruguayische Filmszene zu sprechen.

Britt Weyde

Welches ist dein Lieblingsfilm aus Uruguay?

Whisky. Warum? Weil er gut fotografiert ist, hervorragende SchauspielerInnen mitwirken und bewegend ist. Mir gefällt auch sein Humor, seine Atmosphäre, sein Rhythmus. Und weil die Regisseure (Pablo Stoll und der verstorbene Juan Pablo Rebella, die Red.) Freunde von mir sind. 

Und welchen argentinische Film magst du am liebsten?

Uh, darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht. Ich werde immer nach den internationalen Filmemachern gefragt. Also, von den neuen Filmemachern gefallen mir Lisandro Alonso1 oder Adrián Caetano2. Viele aus meiner Generation, also die, die zwischen Anfang 30 und 40 Jahre alt sind, Pablo Trapero3 oder auch Lucrecia Martel4.

Deine Karriere als Filmemacher ist nicht unbedingt linear verlaufen, eigentlich kommst du aus der Rockmusik. 2003 bist du nach Uruguay gezogen – hast du das mit dem Plan gemacht, dort als Filmemacher tätig zu sein?

Nein, ich bin damals wegen meiner Freundin dahin gezogen. Ich wollte zwar schon als kleiner Junge Kino machen, doch da ich nichts Entsprechendes studiert hatte, dachte ich mir, das wird nichts mehr. In Buenos Aires kannte ich niemanden aus den Filmemacherkreisen, ich war mit anderen Sachen beschäftigt. Als ich dann in Montevideo lebte, habe ich mich mit den Leuten von Control Z, die Gigante produziert haben, angefreundet, ich fing an Drehbücher zu schreiben, hatte Blut geleckt und die Dinge nahmen ihren Lauf. In Uruguay hatten von Anfang an viele meiner Freunde etwas mit Kino zu tun und ich schätze ihre Arbeit sehr. 

Wie kam die Zusammenarbeit mit der deutschen Pandora-Filmproduktion zustande?

Christoph Friedel von Pandora-Film ist über die Bücher von Juan Carlos Onetti zum Uruguay-Fan geworden und hat bei einem seiner Aufenthalte Kontakt zur uruguayischen Produktionsgesellschaft Control Z aufgenommen. Die erste Co-Produktion war dann 2004 Whisky, 2005 bekam er von meinem Projekt Wind – wir brauchten ja so lange, um das Geld für die Produktion zusammenzubekommen –, und die Zusammenarbeit ergab sich fast von selbst. Das meiste Geld für die Filmproduktion stammt allerdings aus Uruguay. 

Welche uruguayischen Institutionen gibt es, die das Filmemachen unterstützen?

Die wichtigste Institution ist das ICAU (Instituto de Cine y Audiovisual del Uruguay), das die Politik im kinematografischen und audiovisuellen Bereich bestimmt. Und es gibt den FONA, einen Fonds zur Unterstützung von audiovisuellen Produktionen, sowie das von der Stadtverwaltung Montevideo getragene Programm Montevideo Socio Audiovisual. Und Anfang dieses Jahres wurde das neue Kinogesetz (ley de cine uruguaya) verabschiedet, das ziemlich gut ist. Vielleicht werden aufgrund dessen jetzt sechs Filme statt vier pro Jahr gedreht – viel mehr ist nicht drin, aber es geht voran.

Zu deinem Film: Videoüberwachung und Liebe – wie geht das zusammen? Wenn man sich eine Verbindung von Technologie und Gefühlen vorzustellen versucht, tauchen spontan beklemmende Bilder auf: Eifersüchtige Ehepartner, die sich ausspionieren, Internet-Kennenlern-Plattformen, die zur Sucht werden können etc. Umso mehr überrascht die leichte und positive Art und Weise, wie in deinem Film Videoüberwachung und Gefühle verknüpft werden – wie kommt das zustande?

Ich wollte zunächst eine Liebesgeschichte machen, dann wurde es zu einer „Sich-Verlieben-Geschichte“, die mit Hilfe einer Überwachungskamera erzählt wird. Die Kamera wird also zum narrativen Werkzeug. Andererseits denke ich im Hinblick auf Überwachungskameras, dass man nicht vergessen sollte, dass hinter jeder Kamera ein menschliches Wesen sitzt –, und von seinen Wertvorstellungen hängt ab, was passiert. Von ihm wird mitbestimmt, was gerade betrachtet wird, was fokussiert wird, wo die Kamera eindringt etc.

Mein Protagonist Jara ist auch ein sehr spezieller Typ. Er arbeitet als Wachmann. Als er beobachtet, wie eine Putzfrau eine Packung Polenta mitgehen lässt, lässt er es geschehen. Er kann sich in sie hineinversetzen, wie sie mit ihrem Niedriglohn über die Runden zu kommen versucht. Als er dann ein zweites Mal sieht, wie sie stiehlt, diesmal einen Discman – nichts Lebensnotwendiges also –, passt er sie ab und sagt ihr, dass das nicht geht. Somit kommen seine Wertvorstellungen mit ins Spiel. 

Willst du mit deinem Film die Stimmungen deiner Generation rüberbringen?

Am ehesten im Hinblick auf die männliche Schüchternheit gegenüber Frauen, wenn sie verliebt sind, die ich bei vielen meiner Freunde beobachtet habe –, Leute in meinem Alter also, keine Teenager. Aber viel weiter würde ich auch nicht gehen, denn schließlich ist es ja ein Spielfilm.

Abgesehen von den sexistischen Arbeitskollegen von Jara werden die gängigen Geschlechterstereotype in deinem Film etwas angekratzt – die Protagonistin Julia trinkt Bier (und ihr Partner Cola), sie macht Kampfsport etc. und Jara wirkt trotz seiner Statur und seines Berufs angenehm weich, über lange Strecken verhält er sich passiv zurückhaltend …

Für mich sind wir alle sehr komplexe Wesen und je nachdem, mit wem du gerade zusammen bist, kommt eine bestimmte Seite von dir mehr oder weniger zum Vorschein. Du spielst immer mehrere Rollen. Diese auch in den Filmfiguren angelegte Komplexität gefällt mir sehr gut. Von Jara werden natürlich die meisten Facetten gezeigt, während von Julia nur bestimmte Seiten zu sehen sind und sie insgesamt recht mysteriös bleibt.

Das Sujet von Gigante ist universell, gleichzeitig ist der Film durch und durch uruguayisch – hättest du dir jemals erträumt, dass dein Film so erfolgreich sein würde? 

Absolut nicht. Als wir den Film fertigstellten und ich mir den letzten Schnitt ansah, hatte ich überhaupt keine Vorstellung davon, was mit ihm passieren würde – ob er je gezeigt würde, ob wir noch etwas verändern müssten etc. Das war zwei Monate vor der Berlinale, über die ich zu diesem Zeitpunkt so gut wie nichts wusste. Über die argentinische Produktionsfirma, die auch einen Teil der Kosten getragen hat, hat jemand von der Berlinale den Film in Buenos Aires gesehen, war ganz begeistert und schlug ihn für das offizielle Programm vor. Wir haben den Film also gar nicht selber eingereicht und ich erwartete mir eigentlich gar nichts. Ich war natürlich zufrieden und sehr stolz darauf, einen Film fertiggestellt zu haben. Wenn du einen deutschen Co-Produzenten hast, erwartest du im besten Fall, dass der Film auch mal in Deutschland gezeigt werden wird, aber dass wir diesen Erfolg haben und diese Preise gewinnen würden, hatte ich mir niemals ausgemalt. Irgendwie kommt mir das alles immer noch sehr komisch vor. 

Und wie ist das für deine uruguayischen Freunde – viele UruguayerInnen leiden ja unter diesem Minderwertigkeitskomplex gegenüber Argentinien –, und jetzt heimst auch noch der Argentinier unter ihnen die Preise ein!

Nein, das Witzige dabei war ja, dass die uruguayischen Zeitungen titelten „Uruguayischer Film gewinnt den Silbernen Bären“, und die argentinischen schrieben „Argentinischer Regisseur gewinnt den Silbernen Bären“! Viele schrieben einfach „der Film vom Río de la Plata“ … Ich finde übrigens auch gar nicht, dass sich die Uruguayer so klein gegenüber den Argentiniern fühlen. Andersherum ist sehr weit verbreitet, dass die Argentinier die Uruguayer verehren, das Land wunderschön und alle Leute liebenswert finden etc. So ist es nun aber auch wieder nicht. Ich wohne jetzt da und es gibt Schönes und Schlechtes, beschissene Leute, super Leute – wie überall. 

Ein Nebenthema in Gigante sind die Arbeitsbedingungen des Supermarktpersonals, ihre Arbeitskonflikte und -kämpfe. Welchen Stellenwert haben solche politischen Themen für dich?

Ich komme aus einer Arbeiterfamilie und bis vor wenigen Jahren habe ich in allen möglichen Jobs gearbeitet, das meiste davon sauschlecht bezahlt. In einem Supermarkt habe ich auch mal gearbeitet – zweieinhalb Monate lang im Lager, dann haben sie mich rausgeworfen. Insofern ist es für mich ganz normal, über diese Leute und ihre Themen zu schreiben. Unsichere Arbeitsbedingungen, Streiks etc. – das habe ich schon als Kind von meinen Eltern mitbekommen. Meine beiden Kurzfilme handeln auch von diesen Dingen, der erste ist an die Lebensgeschichte meines Vaters angelehnt und geht über den letzten Arbeitstag eines Mannes, der zwölf Jahre lang in derselben Fabrik gearbeitet hat; in dem zweiten, Total Disponibilidad („Totale Verfügbarkeit“), spielt Leonor Svarcas, die in Gigante die Julia darstellt, eine junge Frau, die einen ganzen Tag lang Vorstellungsgespräche hat. Meine Filme spielen also alle in der Arbeitswelt. Ich schreibe über das, was ich kenne. 

Hast du schon Ideen für deinen nächsten Film?

Nein, noch nicht, manchmal hab ich zwar eine Idee, die mir aber am nächsten Tag doch nicht mehr so gut gefällt. Ich lasse mich aber auch nicht von den Erwartungen unter Druck setzen. 

Willst du weiter in Uruguay wohnen, auch wenn der Frente Amplio-Kandidat Pepe Mujica die Wahlen verlieren sollte?

Ja, obwohl ich nicht glaube, dass er verliert. Es wird zwar auf eine Stichwahl hinauslaufen und es wird nicht einfach sein, aber ich denke, er wird gewinnen.

  • 1. Regisseur von z.B. Los Muertos (2004), Fantasma (2006) und Liverpool (2008)
  • 2. Regisseur von z.B. Pizza, birra, faso (1997 ), Un oso rojo (2003), Crónica de una fuga (2006)
  • 3. Regisseur von z.B. Mundo Grúa (1999), Familia Rodante (2004), Leonera (2008)
  • 4. Regisseurin von z.B. La ciénaga (2001), La niña santa (2004), La mujer sin cabeza (2008)

Das Interview führte Britt Weyde im Oktober 2009 in Köln.