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Wo sollen wir denn hin?

Port-au-Prince nach dem Erdbeben

Hans Ulrich-Dillmann, der für die ila regelmäßig aus der Dominikanischen Republik und Haiti berichtet, ist unmittelbar nach dem Erdbeben aus seinem Wohnort Santo Domingo nach Port-au-Prince gereist. Den nachfolgenden Beitrag haben wir aus verschiedenen Berichten zusammengestellt, die er in den beiden Wochen nach dem Erdbeben geschrieben hat.

Hans-Ulrich Dillmann

Durch das Zentrum von Port-au-Prince zieht sich eine staubige Schneise der Zerstörung – vom Meer bis zu den kühleren Bergen im Vorort Pétionville. Rund um den normalerweise in leuchtendem Weiß in der Sonne strahlenden Sitz des haitianischen Staatspräsidenten sind zahlreiche Gebäude eingestürzt. Das Finanzamt: eine Schutthalde. Der Finanzminister wurde tot geborgen. Das Außenministerium: ein Abrissgelände. Das Justizministerium: auf einen Steinhaufen reduziert. Im Ministerbüro starben der Chef der Behörde, Paul Denis, und der bekannte Universitätsprofessor und führende Sozialdemokrat Micha Gaillard. Von der berühmten Hauptkathedrale an der Rue Pétion stehen nur noch die Grundmauern. Joseph-Serge Miot, der Erzbischof von Port-au-Prince, starb in seinem Büro. Aus dem teilzerstörten Gefängnis sind die rund 5000 Gefangenen geflohen – einige sind für die vereinzelten Plünderungen verantwortlich, die sich im Stadtzentrum ereignen.
Der dem Capitol in Washington nachempfundene Präsidentenpalast ist unter den Schockwellen der Erschütterung zusammengebrochen. Nur die schusssicheren Fenster haben die linke Kuppel davon abgehalten, auch das Amtszimmer von Staatspräsident René Préval zu zermalmen. Er konnte sich retten.
Der Regierungssitz ist über die ganze Länge eingestürzt. Die mächtige Mittelkuppel, auf der jeden Tag stolz die blau-rote Fahne der ersten unabhängigen Republik in Lateinamerika aufgezogen worden ist, knickte einfach nach unten – und jeden Tag rutscht sie weiter ab auf den Rasen vor dem Gebäude, der mit Schutt überladen ist. Der Regierungspalast wird den Staatschef wohl über Jahre nicht mehr beherbergen können – die dieses Jahr anstehenden Wahlen werden vermutlich verschoben.
Die seit 2004 in Haiti stationierte UN-Friedenstruppe ist ebenfalls kaum noch präsent. Das Hauptquartier der Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen in Haiti (MINUSTAH) wurde völlig zerstört. Mindestens 83 MitarbeiterInnen, darunter der Leiter der UN-Mission, Hédi Annabi, kamen dabei ums Leben. So blieb nach dem Beben die erste und wichtigste Hilfe aus, weil die internationalen HelferInnen selbst zu Opfern der Katastrophe wurden.

Während die staatliche Autorität zusammengebrochen und die MINUSTAH ebenfalls kaum handlungsfähig ist, versuchen sich die Opfer selbst zu organisieren und fast manisch Ordnung in das Chaos und Elend zu bringen. Eine Frau kehrt mit einem Strohbesen in der Straßenrinne Schmutz und Plastiktüten zusammen. Frauen zerkleinern Yamswurzeln und Maniok und über einem offenen Feuer brodelt eine Sauce aus Tomatenmark, in dem Hähnchenknochen schwimmen. Es ist kaum vorstellbar, dass sich Haiti von der Erschütterung, die sich auch im sozialen, politischen, kulturellen und finanziellen Bereich fortsetzen wird, in kurzer Zeit erholen kann. „Die Situation war schon vorher katastrophal“, sagt Michael Kühn, der Leiter der Deutschen Welthungerhilfe. „Ich hatte mir nicht vorstellen können, dass sich das noch steigern ließe.“
Haiti ist schon seit Jahrzehnten das Armenhaus Lateinamerikas. Nach wie vor müssen achtzig Prozent der neun Millionen HaitianerInnen mit einem Euro oder weniger am Tag auskommen. Die wenigen Fabriken in Port-au-Prince, in denen BilliglohnarbeiterInnen Kleidung herstellten, sind zerstört. Nur einzelne Maquiladoras, die in der Nähe von Cité Soleil liegen, beginnen wieder mit der Produktion. Das restliche Wirtschaftsleben ist auf Jahre paralysiert.
Vor den Büros der Hilfsorganisationen und den Hotels, in denen ausländische JournalistInnen wohnen, lungern Männer herum, ausgerüstet mit winzigen Digitalkameras, die ihre Dienste als Fotografen anbieten. Andere, die ein paar Bro-cken holpriges Englisch sprechen, wollen sich als Dolmetscher verdingen. Jeder und jede versucht in der aktuellen Situation über die Runden zu kommen.
Der Champs de Mars, der große Platz vor dem haitianischen Capitol, hat sich in eine Zeltstadt verwandelt. Die wenigen Grünanlagen und Plätze, die nicht direkt in der Nähe des Meeres liegen, beherbergen Tausende von Menschen, die die Unterkunft verloren haben. Obdachlose Familien haben provisorisch Planen an die Fahnenstangen gespannt, um sich vor der sengenden Sonne zu schützen. Bella Beldom ist außer sich: „Keiner kommt und hilft uns. So müssen wir leben“, sagt sie und zeigt auf die dünne Matte, auf der sie seit dem Unglückstag schläft.
Auch Marie-Claude Joseph campiert vor dem Präsidentenpalast – bereits seit den frühen Abendstunden nach dem Erdbeben. Ihr Haus war innerhalb Sekunden eingestürzt. „Ich habe vergeblich gehofft, dass es hier was zu essen gibt“, sagt Marie-Claude Joseph bitter. „Aber die Regierung hat ja auch schon vorher nichts für uns getan.“ Neben ihr putzt sich eine Frau die Zähne, eine andere ist dabei, ihrer kleinen Tochter Zöpfe zu flechten.
Umso wichtiger ist die Solidarität unter den Betroffenen. Die rund 6000 Menschen, die sich vor dem Regierungspalast niedergelassen haben, teilen sich die wenigen Lebensmittel, die sie zur Verfügung haben – die Armen stehen in der Not zusammen wie selten zuvor in der Geschichte des Landes.
Oberhalb von Port-au-Prince auf der belebten Place Saint-Pierre in Pétionville wird gebetet. Die melodischen Gesänge beginnen noch vor Sonnenaufgang. Und auch nach Einbruch der Dunkelheit wird Gott lauthals angefleht, dass er die Erde nicht wieder so erbeben lasse wie an dem Tag, als selbst massive Betongebäude wie Kartenhäuser in sich zusammenfielen. Mutmachen ist angesagt inmitten des Chaos, in dem Haiti zu versinken droht.
„Wo sollen wir denn hin“, fragt Jean-Bernard Tata verzweifelt, der mit seinen Kindern auf einer Decke kauert. Der Fuß des Jüngsten ist dick geschwollen, vielleicht gebrochen, als ein Steinbrocken darauf fiel. Neben Tata steht ein Paar, das sich umarmt. Ein Finger des jungen Mannes ist dick, bläulich und aufgeschnitten – doch es gibt hier Leute, die schlimmer verletzt sind.
Nur langsam verbessert sich die medizinische Versorgung der haitianischen Bevölkerung. In der Nähe des Flughafens sind inzwischen riesige Feldkrankenhäuser entstanden, aber noch immer können nur die schwersten Fälle betreut werden. Vor allem schwere Knochen- und sehr viele Beckenbrüche müssen behandelt werden. Viele Menschen werden mit verstümmelten Gliedmaßen leben müssen.
Die ÄrztInnen operieren rund um die Uhr, manche Behandlungen und kleinere Operationen werden ohne Betäubung durchgeführt, um Medikamente zu sparen. „Wundbrand und Infektionen vor allem bei jenen, die länger verschüttet waren, zwingen uns zu vielen Amputationen“, sagt die haitianische Ärztin Florence Burr-Reynaud. Sie arbeitet in der Klinik des bevölkerungsreichen Stadtteils Canapé Vert. Hier sind ganze Berghänge, an denen einfach gebaute Häuser standen, in den Abgrund gerutscht und haben unzählige Menschen in den Tod gerissen.
Benoit Leduc und Loris de Filipi, beides Notfallkoordinatoren der Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ (MSF) in Haiti, kritisierten die Restriktionen von Seiten der USA, die den Flughafen kontrollieren. So sei bisher mehreren Flugzeugen von MSF mit Hilfslieferungen die Landung in Port-au-Prince verweigert worden.

Die Erde bebt weiter in Haiti. Seit dem 10. Januar entladen sich tektonische Verwerfungen in der unterirdischen Grenzregion zwischen der Karibischen und der Nordamerikanischen Platte in harten Erdstößen. Auch am Sonntag, den 24. Januar, wackelten in Port-au-Prince erneut die Gebäude. Am frühen Abend registrierte die US-Erdbebenwarte United States Geological Survey (USGS) seismische Schockwellen der Stärke 4,7 auf der Momenten-Magnituden-Skala. Wieder flohen die Menschen in Panik aus den Häusern. Das dritte schwere Beben, nach dem ersten Erdstoß am 12. (7.0) und dem zweiten am 20. Januar mit einer Stärke von 6.1, forderte erneut rund zwei Dutzend Todesopfer. Daneben versetzen kleinere Nachbeben die Menschen immer wieder in Angst.
Vierzehn Tage nach der größten Katastrophe in der Geschichte des Landes seit 200 Jahren wird die Situation immer schlimmer. Die Erschütterung, die Zerstörungen wie nach der Explosion zweier Atombomben hinterließ, hat das Land in seiner Substanz getroffen.
Sargmacher haben derzeit Hochkonjunktur, auch wenn inzwischen viele Leichen mit Schaufelbaggern von der Straße entfernt und im Norden der Stadt in Massengräbern beerdigt werden. 115 000 Tote seien bisher beigesetzt worden, teilte Verkehrsministerin Marie-Laurence Jocelyn Lassegue mit. „Aber es ist sehr schwer zu schätzen, ob nicht noch viel mehr Menschen gestorben sind“, sagte sie. Noch immer werden Hunderte Leichen aus den Trümmern geborgen. Und in manchen Vierteln haben die Aufräumarbeiten noch gar nicht begonnen. Ausländische Mitarbeiter von Hilfsorganisationen sprechen inszwischen von mehr als 200 000 Toten, zumal aus den ländlichen Regionen, die betroffen waren, überhaupt keine Zahlen über die Opfer vorliegen und viele Leichen von den Familien direkt beigesetzt wurden, ohne sich um Sterberegister und staatliche Formularien zu kümmern.
Zwar sind inzwischen sowohl über eine Luftbrücke als auch über einen „humanitären Korridor“ von der Dominikanischen Republik aus Zehntausende Tonnen Hilfsgüter ins Land gekommen, die Verteilung an die Bedürftigen in den Obdachlosenlagern gestaltet sich jedoch schwierig. Die rund 8000 UN-Blauhelmsoldaten stehen oft teilnahmslos dabei, während junge kräftige Männer Frauen, Kinder und Schwächere aus den Reihen drängen und sich der Lebensmittelpakete mit Reis, Öl, Bohnen, Salz bemächtigen.
Hungersnot oder Mangel an Lebensmitteln herrschen allerdings in Haiti nicht. Rund um das historische Zentrum von Port-au-Prince pulsiert inzwischen das Marktleben wie eh und je. Fliegende Händler bieten auf der Rue Delmas 2 wieder Kohle und Körperpflegemittel an, als ob nichts gewesen wäre. In Pétionville ist Marktstimmung wie vor 14 Tagen, als die Erde nach nicht gebebt hatte. Marchants, Marktfrauen, preisen lauthals Porreestangen und Karotten an, auch Fleisch gibt es. Junge Männer verkaufen „dlo, dlo“ rufend Wasser. Nur hat sich der Preis für Wasser von rund zwei Cent in nur wenigen Tagen vervierfacht. Die Preise für fast alle Lebensmittel haben sich verdoppelt „Aber viele haben kein Geld“, bedauert eine Händlerin, die Spaghetti und Tomatenmark verkauft, Öl auch tropfenweise.
Mit Transparenten „Wir haben Hunger!“ und „Wir brauchen Hilfe!“ versuchen Menschen rechts und links der Verbindungsstraßen zwischen Port-au-Prince und Pétionville auf ihre Notlage aufmerksam zu machen. Das Rote Kreuz spricht von etwa drei Millionen Betroffenen. Sie haben Häuser und ihren gesamten Besitz verloren und oft nur das nackte Leben retten könnten. Die Menschen haben kein Geld mehr. Lange Schlangen bilden sich jeden Tag vor allen offenen Filialen von Western Union, über die die im Ausland lebenden MigrantInnen jetzt Geld an ihre Familienangehörigen schicken. Die nicht beschädigten Filialen – und das sind wenige – haben nur stundenweise offen. Auch wohlsituierte Haitianer müssen inzwischen eingestehen, dass sie schlicht und einfach pleite sind, weil sie nicht an ihre Konten kommen.
Während der Übergangschef der UN-Mission, Edmond Mulet, nach wie vor eine Verstärkung des Hilfseinsatzes und der Blauhelmsoldaten fordert, fliegen die USA immer neue Truppen ins Land, die sich aber vornehmlich um ihren eigenen Schutz kümmern. Inzwischen werden im großen Maßstab die Bewohner der betroffenen Regionen evakuiert, um zu verhindern, dass bei Nachbeben erneut Gebäude einstürzen und Menschenleben fordern.