ila

Von Entwicklung überschwemmt

Chiapas: Mit Retortenstädten sollen Leute „produktiv“ gemacht werden

Anlässlich der katastrophalen Regenfälle in Tabasco und Chiapas im November 2007 überraschte eine Schlammlawine das chiapanekische Dorf San Juan del Grijalva und riss 32 Personen in den Tod. Nur drei Tage nach der Katastrophe – die Leute suchten noch verzweifelt nach ihren im Schlamm begrabenen Angehörigen – gab der Gouverneur Juan Sabines bereits einen Plan zum Wiederaufbau der besonderen Art bekannt: Die Betroffenen sollten in eine Modellstadt umgesiedelt werden, um sie aus der Armut direkt in Modernität und Wohlstand zu katapultieren. Der Zeitpunkt war günstig, um das Modellprojekt der wortwörtlich entwurzelten Bevölkerung im Schockzustand überzustülpen. Seit Herbst 2009 ist die erste ciudad rural sustentable, die nachhaltige Landstadt Nuevo Juan del Grijalva bewohnt. Ein Besuch vor Ort zeigte die Problematik dieses von der UNO geförderten Entwicklungsprojekts auf.

Philipp Gerber

Willkommen in Nuevo Juan del Grijalva!“ kündigt ein Spruchband die Siedlung an, die von der Regierung als das Zukunftsmodell zur Überwindung der Armut gefeiert wird. Ein in die Hügellandschaft hinein gepflanztes Dorf mit rund 400 Backsteinhäuschen, alle wie aus einem Guss, wird von einem Turm auf einer Anhöhe überragt. Für die kleine Ladenpassage bringt ein Lastwagen von Pepsi-Cola Nachschub. Etwas Fleisch und Gemüse wird feilgeboten. Alles wirkt gespenstisch leer, kein Vergleich zum bunten Treiben auf lateinamerikanischen Märkten. Es gibt zwar auch eine Bäckerei, eine Schreinerei, einen Bankschalter, einen Handyshop und einen Schönheitssalon. Die meisten dieser kleinen Geschäfte werden von Frauen betrieben, die sich zu diesem Zweck in Kooperativen organisieren mussten. Zwei Beamtinnen des staatlichen „Sekretariats für soziale Entwicklung“ (Sedesol) halten den LadenbesitzerInnen gerade eine Rede über Verkaufsstrategien – und kontrollieren auch die Arbeit in den kleinen Kooperativen. 

Nahe der verlassenen Busstation gibt es einen weiteren Kooperativenbetrieb von sechs Frauen: das Hotel namens „Gelobtes Land“ (Tierra prometida). Wer denn hier, weitab von touristischen Attraktionen, in den Zimmern übernachtet, die teurer sind als in der Hauptstadt, wollen wir wissen. „Ab und zu ein Regierungsfunktionär oder VertreterInnen von Sponsorenfirmen“, ist die Antwort an der Rezeption. Wer wird wohl in zwei oder drei Jahren, wenn der Propagandaspuk vorbei ist, im „Gelobten Land“ noch absteigen?

Auf einer Anhöhe am Dorfrand thront ein Turm. Er heisst „Azteca Turm“, da er von der gleichnamigen TV-Kette gesponsert wird. „Nuevo Juan del Grijalva hat einen Azteca–Turm und dies mitten im Maya-Land“, wird gespöttelt. In diesem Turm, der in seiner Wuchtigkeit unweigerlich an einen Wachturm eines Gefängnisses erinnert, befindet sich ein Internet-Zentrum (finanziert durch den privatisierten Telefonanbieter Telmex) und ein hochmodern eingerichteter Versammlungsraum – „für Besuche des Gouverneurs“, so der Jugendliche aus dem Computerzentrum, der uns stolz die Anlage zeigt. Auf die Frage, ob denn alle Häuser bewohnt seien, wir hätten anderes gehört, meint er, ja, das stimme schon, er sei gerade mit einer Zählung beschäftigt, der Gouverneur sei darüber informiert…

Die Leute im Dorf sehen sich in ihrem neuen Leben mit vielen Unwägbarkeiten konfrontiert. Erzürnt erzählt Eloísa Ríos Ramírez, die im Markt ein bescheidenes Restaurant führt, wie es ihr in der „urbanen“ Umgebung geht: „Früher konnten wir von unserem Land leben, bauten für den Eigenkonsum an und verkauften den geernteten Kaffee. Geld brauchten wir nur für Reis, Salz, Zucker, Öl und Seife. Heute müssen wir für alles bezahlen. Sogar das öffentliche WC kostet Eintritt. Wer hier kein Geld hat, muss verhungern.“ Eloísa Ríos verlor durch die Schlammlawine ihre Eltern und ihre sechs Hektar Land. Sie berichtet, dass sie von der Regierung einen Kredit in der Höhe von 125 000 Pesos (etwa 7200 Euro) erhielt. Dafür wurde die Analphabetin von einem Beamten gezwungen, die Kücheneinrichtung zum dreifachen Preis einzukaufen – für exakt 125 000 Pesos. Seither ward der Funktionär nicht mehr gesehen. „Jetzt sind die ersten Kreditrückzahlungen fällig, die ich aber mit dem Erlös aus zwei bis fünf verkauften Essen pro Tag nicht aufbringen kann.“ Hinzu kommt die horrende Stromrechnung von 4000 Pesos (230 Euro) für die ersten zwei Monate Betrieb, die eben eingetroffen ist. 

Eine spontane Umfrage bei anderen LadenbesitzerInnen ergab ähnlich hohe Rechnungen der staatlichen Stromgesellschaft, die unweit der Modellstadt drei große Wasserkraftwerke betreibt. Der junge Mann in der Metzgerei „Der glückliche Stier“ macht dem Namen seines Ladens alle Ehre und streckt uns mit Galgenhumor seine Rechnung über 5100 Pesos (293 Euro!) entgegen. Seine Kühlvitrine funktioniert, ist aber leer. Gleich davor hängt das Fleisch ganz traditionell an der frischen Luft ab. Niemand scheint annähernd in der Lage zu sein, die Stromrechnungen für die unnützen oder überproportionalen Geräte bezahlen zu können. 

Auf einem Rundgang beobachten wir, dass tatsächlich eine stattliche Anzahl der insgesamt gut 400 Häuser leer stehen. Denn nicht nur direkt Betroffene wie Eloísa bekamen ein Häuschen, sondern die Familien von insgesamt elf Weilern. Viele Familien, die noch den alten Hof besitzen, nahmen den geschenkten Fortschritt erst einmal an, scheinen es aber vorzuziehen, in ihrer alten Umgebung zu leben. Es ist allgemein bekannt, dass Häuser vermietet oder gar verkauft werden, obwohl die Regierung dies den BesitzerInnen vertraglich verboten hatte. Andere leer stehende Häuser wurden gar besetzt.

Die Bauweise der Häuschen gibt ebenfalls Anlass zu Klagen der Überschwemmungsopfer. Bei starken Regenfällen fliesst Wasser, durchmischt mit Schlamm, direkt in die Häuser hinein, weil sowohl Türen als auch Fensterglas fehlen. Das führt zu der absurden Situation, dass die Überschwemmungsopfer am neuen, „sicheren“ Ort nächtelang das Wasser aus ihren Wohnungen schöpfen müssen. Aber ein piso firme, also einen Zementboden, haben sie ja nun, somit ist ein wichtiger Indikator für die Armutsstatistiker korrigiert.
Eine Frau mit vier Kindern zeigt uns ihr Haus, in dessen Hinterhof eine Tonne mit Plastikdach steht – eine improvisierte Feuerstelle, weil die Holzfeuerküche im Zweizimmerhäuschen unerträglich viel Rauch verbreitet. Ihr Mann fand einen Job als Gemeindepolizist, er verdient 3400 Pesos im Monat (195 Euro). Damit kann die sechsköpfige Familie in der urbanen Umgebung nicht überleben. Sie ist heute ärmer dran als früher. Allgemein beklagen die DorfbewohnerInnen die schlechte Lage auf dem lokalen Arbeitsmarkt. Viele Arbeiten sind temporär beschränkt für den Aufbau der Infrastruktur. Der auf Werbeflächen überall präsente Slogan Vivir mejor der Regierung haben sie für ihre Situation umgemünzt: Vivir peor! - schlechter Leben.

„Hier versucht der paternalistische, korrupte Staat, im alten Stil die Menschen aus der Armut zu befreien, und schafft damit nur neue, sogar schlimmere Abhängigkeiten.“ So zieht Isaín Mandujano Bilanz. Er ist Mitarbeiter der bekannten Zeitschrift Proceso und hat uns beim Besuch begleitet. Typisch sei, so der Journalist, wie sich auch an diesem Vorzeigeprojekt der Regierung einige schamlos bereichern. Aber ebenso schockierend ist die Kontrolle, welche die Regierung über die zu entwickelnde Bevölkerung ausübt: Noch gibt es keine Dorfregierung, die Beamten aus der Hauptstadt Tuxtla Gutiérrez haben das Sagen. So muss die Restaurantbesitzerin eine Umsatzliste führen und diese regelmäßig den Beamtinnen von Sedesol vorlegen. Und die Frauen der Schneiderei wurden, als sie intern Streit bekamen, von einer Funktionärin kurzerhand mit dem zwischenzeitlichen Entzug der Nähmaschinen diszipliniert.

Ursprünglich waren 29 „Landstädte“ geplant, aktuell ist noch von deren neun die Rede. Die Grundsteinlegung einer zweiten Landstadt wurde eben inszeniert, wo der chiapanekische Finanzminister Carlos Jair Jiménez betonte: „Die neue nachhaltige Stadt Santiago el Pinar wird es uns ermöglichen, innerhalb eines Jahres Verbesserungen zu erreichen, die sonst Jahrzehnte gedauert hätten.“ Auch werde, so der ganzseitige Werbeartikel in La Jornada, „die Bevölkerung mit der Anbindung ans Handynetz in die Modernität integriert.“ Unverändert bleibt die Absicht, auf welche die Soziologen Mariela Zunino und Miguel Pickard von der chiapanekischen NGO Ciepac aufmerksam machen. Die kleinbäuerliche, meist indigene Bevölkerung von Chiapas lebt in ressourcenreichen Gebieten, die ins Visier transnationaler Unternehmen der Agroindustrie, von Bergwerksunternehmen und Tourismus geraten sind. Die indigene Bevölkerung steht ihnen im Weg und muss zwangsumgesiedelt werden, wo sie konzentriert und kontrolliert als billige Arbeitskräfte für die genannten Großprojekte zur Verfügung stehen.

Auffallend ist die massive internationale Unterstützung der modellhaften Entwicklung. Zuerst machte der Repräsentant vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) in Mexiko, Magdy Martínez Soliman, seine Aufwartung in der „Landstadt“, wo er im Juli 2009 erklärte, hier würden die Milleniumsziele der UNO im Kampf gegen die Armut beispielhaft umgesetzt. Die Milleniumsziele wurden gar von der Administration Sabines in die lokale Verfassung integriert, sehr zur Freude der UNO. Zur offiziellen Einweihung kam im September Mexikos Präsident Felipe Calderón, im Oktober wurden VertreterInnen von über 60 Botschaften in die neue Stadt gebracht. Und im November pries Gouverneur Sabines an der Harvard-Universität die Vorzüge des neuen Entwicklungsmodells: Versprengt liegende Dörfer sollen zu größeren Einheiten zusammengefasst werden. So können die EinwohnerInnen leichter Zugang zu Elektrizität, Trinkwasser, Gesundheitsdienst, Schulen und Arbeitsplätzen erhalten und damit in die Marktwirtschaft integriert werden. 

Die Weltbank, die das Konzept der „Landstadt“ ursprünglich angestoßen hat, spricht von einer „Neuen Wirtschaftsgeografie“ für die Entwicklung: „Die maßgebende Herausforderung ist, die adäquate Bevölkerungsdichte zu erreichen, damit man die Marktwirtschaft so lenken kann, dass zur Bevölkerungskonzentration ermutigt wird und der Lebensstandard und Lebensstil im Dorf, in der Stadt und in der Großstadt übereinstimmend gefördert werden können.“ Das von der Weltbank entworfene Wirtschaftsmodell macht eine „territoriale Neuordnung“ notwendig. Im Klartext heißt das: Die indigene Bevölkerung entwurzeln, sie ihrer Ernährungssouveränität, ihres Territoriums, ihrer Kultur und damit auch ihrer Widerstandskraft berauben. 

Hinter dem altruistischen Ziel der Armutsbekämpfung stecken demnach handfeste Interessen. Das zeigt auch das Vorhaben der Regierung, die Leute der „Landstädte“, die noch eigenes Land besitzen, mit – rechtlich ungültigen – Verträgen zu verpflichten, es der so genannten „produktiven Umwandlung“ zur Verfügung zu stellen: Nicht mehr Mais für den Eigenkonsum sollen in kleinbäuerlicher Eigenproduktion angebaut werden, denn der subventionierte Gentechmais aus den USA überschwemmt zu Billigpreisen den mexikanischen Markt. Vielmehr müssen sie das Land für Agrarprodukte „mit hohem kommerziellem Wert“ zur Verfügung stellen, z.B. für Ölpalmen oder Zitrusfrüchte. Von dieser „Entwicklung“ werden letztlich nicht die zwangsproletarisierten Bauernfamilien, sondern die Großbetriebe und multinationalen Unternehmen profitieren. Nicht zuletzt deshalb sind prominente Sponsoren von Nuevo Juan del Grijalva IBM, Bancomer oder der Tortilla-Monopolist Maseca. Die genauen Zahlen werden geheim gehalten, aber rund 60 Prozent der Kosten für den Bau der ersten Landstadt sollen von der Privatwirtschaft bezahlt worden sein, die ihre wohltätigen „Spenden“ von den Steuern abziehen kann.

Diese Sabinschen Dörfer, mit denen Gouverneur Sabines als Bezwinger der Armut in die Geschichte der Menschheit einzugehen träumt, entstehen nicht unabhängig vom konfliktiven sozialen Kontext in Chiapas. Sie sind Teil des „Projekts Mesoamerika“, wie der Plan Puebla-Panamá umgetauft wurde. Doch die Großprojekte scheinen auf großen Widerstand der lokalen Bevölkerung zu stoßen. So musste der Bau der privaten Autobahn San Cristóbal – Palenque schon auf den ersten Kilometern gestoppt werden. Und einer kanadischen Minenfirma wurde die Lizenz zumindest vorübergehend entzogen, nachdem Auftragsmörder den Anführer des lokalen Protests im Dezember ermordeten. Deshalb, so die Einschätzung von Ciepac, werden die Modellstädte nun verstärkt vorangetrieben. Erst sollen die Leute umgesiedelt werden, und danach ist Platz für die Großprojekte.

Der Zufall wollte es, dass 2007, wenige Tage nach der Katastrophe von San Juan del Grijalva, die Autorin Naomi Klein in Chiapas an einem Kolloquium über antisystemische Bewegungen zusammen mit Subcomandante Marcos über ihr eben erschienenes Buch „Schock-Strategie“ diskutierte. Ihre Kernthesen über den Katastrophen-Kapitalismus und dessen zynisches Ausnützen von Schockzuständen für die Implementierung von Strukturanpassungsmaßnahmen zwecks Zurichtung „rückständiger“, sprich nicht marktförmiger Lebensweisen wurden in der „nachhaltigen Landstadt“ Nuevo Juan del Grijalva bestätigt. Aber ob das Wörtchen „nachhaltig“ im Projektnamen auch für den Erfolg des Modells gilt, darf bezweifelt werden.