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Jüdischsein zwischen Buenos Aires und Barcelona

Ein Gespräch über jüdische Identität und jüdisches Leben in der alten und der neuen Heimat

Gabriel Amdur wurde 1975 in Mar del Plata geboren. Nach Abschluss seines Filmstudiums an der Universidad del Cine in Buenos Aires gewann er ein Stipendium für das Volunteers' Odysee Projekt der Europäischen Union, mit dem er 2002 nach Europa kam. Seither lebt er in Barcelona. 2009 gründete er mit seinem Partner die Filmproduktionsfirma TALATALA. Laura Banchik kam vor zwei Jahren der Liebe wegen nach Barcelona. Sie hat an der Universidad de Palermo in Buenos Aires Grafikdesign studiert. Nach einem Aufbaustudium an der ELISAVA Escola Superior de Disseny in Barcelona ist die heute 29-Jährige auf der Suche nach einer neuen Herausforderung.

Christine Schmelzle

Was könnt ihr uns über eure Vorfahren erzählen? 

Gabriel: Meine Vorfahren väterlicherseits waren Aschkenasim aus Weißrussland und Polen, meine Vorfahren mütterlicherseits Sephardim aus Norditalien und Smyrna, dem heutigen Izmir in der Türkei. Sie alle emigrierten bereits vor dem Ersten Weltkrieg. Lediglich meine polnische Großmutter floh erst im Zuge der Pogrome der 30er Jahre. 

Laura: Viel weiß ich nicht über die Herkunft meiner Großeltern. Ich weiß nur, dass meine Vorfahren mütterlicher- wie väterlicherseits noch vor dem Ersten Weltkrieg aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion auswanderten in der Hoffnung auf ein besseres Leben.

Was bedeutet das Judentum für euch?

Laura: Für mich persönlich ist das Judentum nicht nur eine Religion, sondern auch eine Frage der Identität. Einer allgemeinen Identität, die auf einer gemeinsamen Geschichte, gemeinsamen Traditionen und dem Gedanken an ein Volk einerseits basiert und einer persönlichen Identität andererseits, die sich im Laufe meines bisherigen Lebens aufgrund meiner Erfahrungen mit dem Judentum herausgebildet hat. 

Gabriel: Dem kann ich nur zustimmen. Es ist eine Art Prägung, die Generation um Generation weitergegeben wird und all das beinhaltet, was Laura bereits gesagt hat. Ich würde unter den Identitätsbegriff vielleicht auch noch die Erinnerung an die Geschichten meiner Großeltern, bestimmte Gerüche und Geschmäcker fassen. 

Was zeichnet euer „Jüdischsein” aus und wie habt ihr es in Argentinien gelebt?

Laura: Wir sind zwar seit ich denken kann an den wichtigsten jüdischen Festtagen wie Rosh ha-Schana, Jom Kippur und Pessach in die Synagoge gegangen, meine eigentliche jüdische Erziehung begann aber erst mit meinem zehnten Lebensjahr. Als mein Bruder seine Bar Mizwa feierte, war ich so fasziniert vom Klang des Hebräischen, dass bei mir der Wunsch entstand, auf eine jüdische Schule zu wechseln. Ich wollte Hebräisch lernen und in Vorbereitung auf meine eigene Bat-Mitzwa-Feier mehr über die Geschichte und die Traditionen erfahren. In meiner kindlichen Begeisterung steckte ich meine ganze Familie an. Wir besuchten regelmäßig die Synagoge, hielten den Sabbat ein, und als Mitglied verschiedener jüdischer Clubs nahm ich an vielen Aktivitäten teil. 

Irgendwann ließ mein Interesse nach. Das Feiern der jüdischen Feste im Kreise der Familie und Gemeinde, das gemeinsame Singen und Essen haben ihre Wichtigkeit allerdings nie verloren. Klar schwingt da nach wie vor auch ein gewisser Glaube mit. Der Kern meines „Jüdischseins“ ist aber mittlerweile überwiegend auf das Leben und Erleben liebgewonnener Traditionen beschränkt. 

Gabriel: Als kleiner Junge verband ich mit meinem „Jüdisch-sein“ vor allem ein Gefühl der Andersartigkeit und der Isolation. Meine Familie suchte den Kontakt zur jüdischen Gemeinde und schickte mich in den Kinder, den jüdischen Kindergarten. Da die Gemeinde in Mar del Plata aber sehr klein war und es kaum Kinder in meinem Alter gab, kam ich auf eine laizistische Schule, in der ich der einzige jüdische Junge war. Unangenehmen Situationen war ich öfter ausgesetzt. Sei es, weil sich die anderen Kinder Judenwitze erzählten und hinter vorgehaltener Hand flüsterten: „Der da ist übrigens Jude“, oder aber weil gesagt wurde, dass die Juden „Jesus getötet haben“. Mehr als einmal kam bei mir da der Gedanke auf: „Oh je, ich gehöre wohl nicht gerade zu den Guten“. Meine Eltern bemühten sich sehr, diese gefühlte Kluft zu verringern, indem wir beispielsweise an Weihnachten auch einen Baum bekamen oder Geschenke am Dreikönigstag. 

Laura: Den Dreikönigstag haben wir auch „gefeiert“. Meinen ersten Baum habe ich mir dann letztes Jahr hier in Barcelona gegönnt. 

Gabriel: Mein Verhältnis zu meinem „Jüdischsein“ änderte sich grundlegend mit meiner Bar Mizwa. Während der monatelangen Vorbereitungszeit ging ich regelmäßig in die Synagoge, lernte Hebräisch und übte fleißig das Lesen in der Tora. Als einzigen Anwärter meines Jahrgangs behandelten mich die Gemeindeältesten wie einen König. Samstags durfte ich sogar mit ihnen auf einen Milchkaffee bleiben und ihren Geschichten lauschen. In dieser Zeit lebte ich mein „Jüdisch-sein“ sehr intensiv und voller Stolz. Mit den Jugendjahren verblasste der religiöse Aspekt zunehmend, andere Interessen traten in den Vordergrund. Meine Verbundenheit gegenüber bestimmten Traditionen und Festen blieb allerdings stets erhalten.
 
Während meines Studiums in Buenos Aires erlebte ich eine neue Art, meine jüdische Identität zu leben. In meiner Klasse war ich plötzlich nicht mehr der Einzige, sondern umgeben von anderen Juden, die ihr „Jüdischsein“ völlig ungezwungen und offen lebten. Plötzlich war es nichts Außergewöhnliches mehr, Jude zu sein. Es war Alltag, es war Normalität. Auch die Festtage bekamen einen neuen Beigeschmack. Statt in kleiner Runde saß ich nun in großer Runde, umgeben von Tanten und Onkeln, Cousins und Cousinen. Es wurde gegessen, gesungen und viel gelacht. Es war eine schöne Zeit, in der ich eine sehr ausgelassene, fröhliche und irgendwie auch natürliche Art, mein Judentum zu leben, erfuhr. 

Welche Rolle spielt das Judentum für euch hier in Barcelona? Wie lebt ihr es? Seid ihr z.B. Mitglied in einer der jüdischen Gemeinde?

Gabriel: Üblicherweise sagt man: „Wenn du an einem Ort fremd bist, dann geh' in eine Synagoge“. Anfangs habe ich versucht mich in eine der Gemeinden hier einzubringen, es gibt vielleicht vier oder fünf verschiedene. Bald aber wurden mir die engstirnigen Ansichten, die stetig brodelnde Gerüchteküche und die internen Zankereien zu viel und ich zog mich zurück. Seither beschränkt sich mein gelebtes Judentum darauf, an den wichtigsten Festtagen mit ein paar Freunden – jüdischen wie nicht-jüdischen – bei mir zu Hause zu feiern, traditionelle Gerichte zu kochen und Lieder zu singen. 

Laura: 2009 verbrachte ich die Feiertage erstmals in Barcelona. Es war schrecklich. Die Familie, die Gemeinde, ja selbst diejenigen Gemeindemitglieder, die mir früher auf die Nerven gefallen waren, weil sie immer so laut gackerten oder alle anderen in ihrer Parfumwolke erstickten, vermisste ich. In der Hoffnung, auch hier Anschluss zu finden, bin ich dann an Jom Kippur in eine der jüdischen Gemeinden gegangen. Die Erfahrung war ernüchternd. Was ich vorfand, hatte wenig mit der offenen und herzlichen Atmosphäre zu tun, die ich von Buenos Aires gewohnt war. 

Gabriel: Mein Eindruck fällt ähnlich negativ aus. Solche Dinge wie die strikte Trennung von Aschkenasen und Sepharden, der latente Rassismus gegenüber Muslimen oder die völlig unkritische Verbundenheit mit Israel waren mir von Argentinien her völlig fremd. 

Gibt es Unterschiede im Hinblick auf den Antisemitismus?

Gabriel: Antisemitismus hat es immer gegeben. Entscheidend ist, wieviel Aufmerksamkeit dem Thema gerade in der Öffentlichkeit zuteil wird, oder ob man vielleicht gar persönlich betroffen ist. Obwohl Argentinien eigentlich immer ein offenes Land war, existiert dieses Problem auch dort schon lange. Mein Großvater beispielsweise zog in der Reichskris-tallnacht mit anderen Gemeindemitgliedern los, um mit bloßen Stöcken die Synagoge zu verteidigen. Grabschändungen, festgefahrene Vorurteile, Judenwitze – sowohl in Argentinien als auch in Spanien findet man die ganze Palette. Einen Unterschied gibt es allerdings. Während die Juden in Argentinien – zumindest bis zum AMIA-Attentat 1994 – sichtbarer Bestandteil der Gesellschaft waren, gehören in Barcelona Synagogen, jüdische Geschäfte, orthodoxe Juden etc. nicht gerade zum Stadtbild. 

Der Antisemitismus in Spanien hat im Grunde keine sichtbare Projektionsfläche. Eine Mischung aus Ansichten bzw. Aussprüchen, die Jahrhunderte zuvor während der Judenvertreibung geprägt worden waren – wie die negative Verwendung des Wortes marrano1 oder der Ausspruch no seas judío (im Sinne von „sei nicht geizig“ oder „mach deine Sache anständig“ – die Red.) – und andererseits einem selbstkreierten Bild vom antipalästinensischen Israelfreund füllt das Vakuum des nicht sichtbaren Juden. 

Laura: Da Barcelona eine multikulturelle Stadt ist, bleibt man als Jude ziemlich unbehelligt. Hier werden andere Gruppen zur Zielscheibe, wie z.B. MarokkanerInnen, PakistanerInnen, Menschen aus dem subsaharischen Afrika. Vielleicht hat es wirklich etwas mit der Sichtbarkeit zu tun. 

Habt ihr jemals darüber nachgedacht, nach Israel zu emigrieren?

Gabriel: Der Großteil der Familie meines Vaters ist schon vor langer Zeit nach Israel ausgewandert. Während der argentinischen Wirtschaftskrise zogen auch meine Eltern diese Möglichkeit zeitweilig in Erwägung. 

Laura: Auch in meinem Umfeld dachten in diesem Moment viele darüber nach. Die Chancen, die sich in Israel aufgrund des Rückkehrgesetzes ergeben hätten, waren nicht von der Hand zu weisen. Für mich stand diese Option aber von vorneherein nicht zur Debatte. Israel ist ein schönes Land, aber ich möchte weder den Militärdienst antreten, noch bin ich mit vielem, was dort geschieht, einverstanden.

  • 1. Zwangsgetaufte Juden, die ihre Religion im Geheimen ausübten. Marrano war eine herabwürdigende Bezeichnung der damaligen katholischen Mehrheitsgesellschaft. Es bedeutet auf Altspanisch Schwein.

Das Interview führte Christine Schmelzle im März 2010 in Barcelona.