ila

Seine spitze Feder wird fehlen

Abschied von Carlos Monsiváis (1938-2010)
Ulrich Mercker

Der allgegenwärtige begnadete Essayist und „impressionistische“ Chronist, das intellektuelle Gewissen der mexikanischen Intelligenzia, verstarb am 19. Juni 2010, einen Tag nach dem Tod des auch in Mexiko sehr populären portugiesischen Nobelpreisträgers José Saramago. Als ich die Nachricht las, ging ein kalter Schauer über meinen Rücken. Seit ich zum ersten Mal in Mexiko war – Ende der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts –, waren die Artikel von Monsiváis stets eine unverzichtbare Quelle, um auch bei späteren Aufenthalten ein Gespür für die gerade aktuellen politischen Debatten zu bekommen. Ob in dem Wochenmagazin Proceso, der Tageszeitung Uno más Uno und der späteren La Jornada oder in Monatszeitschriften wie Nexos, es gab kaum ein mexikanisches Printmedium, in dem Monsivaís nicht mit seinen provokanten Reportagen und tiefgründigen Analysen vertreten war. Er verkörperte auf unnachahmliche Weise das andere, das städtische México Profundo. Wann immer eine interessante Mesa Redonda (Roundtable-Gespräch) zu einem kontroversen Thema angeboten wurde, Monsiváis war fast immer dabei und wurde dennoch nie langweilig. Als scharfsinniger Kulturkritiker, Medienkritiker, Filmkritiker hatte er sich schon früh einen Namen erschrieben; seine Artikel, Vorträge oder Interviews waren immer mit einer ordentlichen Portion Ironie und Humor gewürzt.

Ich hatte ihn 1995 aus Anlass eines Gesprächs mit deutschen Journalisten, die sich ein Bild von der Lage in Mexiko nach dem zapatistischen Aufstand machen wollten, zum letzten Mal persönlich getroffen. Ich hatte ihn zu dem Termin in einem Hotel in der Innenstadt eingeladen, ohne jedoch eine Antwort von ihm zu erhalten. 20 Minuten nach dem angesetzten Termin erschien er plötzlich missmutig, setzte sich an den angebotenen Platz und schaute skeptisch über seine großen Brillengläser in die Runde erwartungsvoller deutschsprachiger Radio- und Zeitungsmacher. Nach ein paar genuschelten sarkastischen Bemerkungen über die desolate politische Verfasstheit des Landes unter dem neuen Präsidenten Zedillo antwortete er auf die Frage, ob die Zapatisten denn eine politische Option für das gesamte Land darstellten: „Quatsch, die sind in Chiapas entstanden und haben dort ihren wichtigen Stellenwert. Ich lebe hier in der Stadt und will doch nicht von Indígenas regiert werden. Bei allem Respekt, aber Mexiko ist größer als Chiapas.“
1938 in eine protestantische Familie geboren, hatte Carlos im katholischen Mexiko schon in frühen Jahren gespürt, was es heißt, einer Minderheit anzugehören. Die Lektüren über den Spanischen Bürgerkrieg und das Wirken der Internationalen Brigaden haben früh zu seiner Politisierung beigetragen. So trat er 1954 als 16-jähriger einem Solidaritätskomitee zur Verteidigung Guatemalas gegen den CIA-Putsch gegen den Reformpräsidenten Arbenz bei, wurde kurzfristig Mitglied der Kommunistischen Partei, nach zwei Jahren aber bereits wieder ausgeschlossen, weil er mit dem Vorgehen der Sowjets gegen die aufständischen Ungarn nicht einverstanden war.

Während der Studentenbewegung 1968 gehörte er zu den beißendsten Kritikern des korrupten PRI-Regimes. Kontinuierlich baute er seine Rolle als Sprachrohr für sämtliche unterdrückten Minderheiten aus, fehlte bei kaum einer Versammlung der städtischen Volksbewegung, schrieb gegen den Mummenschanz und den Autoritarismus der katholischen Kirche, nahm Partei für Schwule und Lesben und lieferte sich unermüdlich Gefechte mit der offiziellen Kultur- und Literaturschickeria. 
In den letzten beiden Jahrzehnten hatte er viele gemeinsame Auftritte mit der ebenfalls dem gleichen Geschlecht zugetanen Schauspielerin und Kabarettistin Jesusa Rodríguez. Auf der für ihn von Staats wegen organisierten Trauerfeier im „Palast der Schönen Künste“ sorgte Jesusa für ein bisschen Aufregung. Empört darüber, dass man die zahlreich zusammengeströmte Bevölkerung, die auch Abschied von ihrem „Monsi“ nehmen wollte, ausgesperrt hatte, zeterte sie sehr vernehmlich gegen die Anwesenheit des derzeitigen Bildungsministers Lujambio, der zu dem Verstorbenen nicht die geringste Beziehung hatte. 
Besonders aufmerksame Beobachter berichten, dass ein freudiges Zucken durch den starren Leib des bereits im Jenseits befindlichen Chronisten ging, als er inmitten der Trauerstille die zornige Stimme Jesusas vernahm und wenig später die Sprechchöre der draußen Versammelten: Monsi presente, en la lucha de la gente (in etwa „Monsi ist beim Kampf der Leute mit dabei“). Der Plan der Regierung, durch die Ausrichtung der Trauerfeier den populären Toten noch für sich zu instrumentalisieren, ist nicht aufgegangen. Seine spitze Feder wird dennoch fehlen.