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Paradox, aber recht erfolgreich

Interview mit Veriano Terto von der „Interdisziplinären AIDS Assoziation Brasilien“ ABIA

Der Psychologe Veriano Terto ist seit den 80er-Jahren in der Schwulen- sowie der Studentenbewegung Brasiliens aktiv, seit 1989 arbeitet er bei der Nichtregierungsorganisation ABIA mit. ABIA zählt zu den ältesten NRO Brasiliens. Sie wurde 1986 von Herbert de Souza „Bertinho“ gegründet, der in den 80er-Jahren bei der Rückkehr zur Demokratie eine wichtige Rolle beim Wiedererstarken der sozialen Bewegungen gespielt hatte. Insgesamt 25 Personen arbeiten bei der ABIA in Rio de Janeiro mit. Veriano Terto berichtet im Gespräch mit der ila von seiner Arbeit und den Besonderheiten des brasilianischen Gesundheitssystems. 

Britt Weyde

Wie arbeitet die Interdisziplinäre AIDS Assoziation Brasilien ABIA?

Wir sind in drei Bereichen aktiv. Da sind zunächst unsere Sozialforschungen zu HIV/AIDS. Wir haben Untersuchungen u.a. zu Prostitution, Homosexualität und zu Behandlungsmöglichkeiten von HIV/AIDS gemacht. Der zweite Bereich ist unsere Präventionsarbeit, wo wir mit einigen Beispielprojekten versuchen, originellere und effizientere Methoden zu finden, um die am meisten verletzbaren Bevölkerungsgruppen zu erreichen: die Ärmsten, die Jugend, die Homosexuellen, die afrobrasilianischen Gemeinden. Der dritte Bereich ist unsere Lobby- und Öffentlichkeitsarbeit. Dabei vertreten wir den Standpunkt, dass Gesundheit ein Recht ist und dass wir das Sistema Único de Saúde (SUS), das Einheits-Gesundheitssystem Brasilien verteidigen. Zurzeit haben wir ein wichtiges Programm im Hinblick auf den Zugang zu Behandlung, also die Frage nach Patenten und dem internationalen Handel mit der Gesundheit. Des Weiteren arbeiten wir zu Fragen der reproduktiven und sexuellen Gesundheit. 

Wie funktioniert Brasiliens Sístema Único de Saúde (SUS)?

Dieses System definiert die Handlungen und politischen Maßnahmen für das Öffentliche Gesundheitssystem in Brasilien. Das System enthält also sowohl das, was wir den „öffentlichen“ Bereich nennen würden, als auch das ergänzende, also das private System. Dieses Gesundheitssystem wurde 1988/89 geschaffen und ist Ergebnis eines Kampfes von verschiedenen AktivistInnen der Gesundheitsbewegung Brasiliens, die eine Gesundheitsreform forderten. Daran beteiligten sich Berufstätige aus dem Gesundheitssektor, WissenschaftlerInnen, AktivistInnen und PatientInnen. Dieses System basiert auf drei Grundprinzipien. Es soll universell sein, einen gleichberechtigten Zugang sowie soziale Kontrolle des Systems selbst gewährleisten. Es spiegelt auch ganz gut den demokratischen Geist der Verfassung von 1988 wider. Eine Neuheit dieser Verfassung und gleichzeitig eine der wichtigsten Voraussetzungen für das SUS ist die Überzeugung, dass Gesundheit in Brasilien ein kollektives Recht ist und dass der Staat dafür Sorge zu tragen hat. 

Alle Personen, die in Brasilien leben, können das SUS in Anspruch nehmen, ganz gleich unter welchen ökonomischen, sozialen oder kulturellen Bedingungen sie leben. Dabei müssen sie für die beanspruchte Dienstleistung nicht zahlen. Das System finanziert sich zum Großteil aus Steuergeldern. Viele zahlen zwar keine Steuern, aber sie haben dennoch den gleichen Zugang. Das Gesundheitssystem funktioniert also auch in Richtung Umverteilung – in einem Land, in dem immense soziale und wirtschaftliche Ungleichheit herrscht. 

Die ganz Reichen werden aber sicher weiterhin ihre private Zusatzversicherung haben…

Natürlich, sie finanzieren zwar mit ihren Steuern das SUS, haben aber auch zusätzliche private Krankenversicherungen. Man kann das SUS am besten vergleichen mit dem National Health Service in England oder dem Öffentlichen Gesundheitssystem in Kanada oder Cuba. 

Wer sorgt für die „soziale Kontrolle“ des Sistema Único de Saúde? 

Die soziale Beteiligung der Bevölkerung am Öffentlichen Gesundheitssystem findet in den Gesundheitsräten (conferências de saúde) statt, die alle zwei Jahre einberufen werden. Diese Versammlungen werden auf Gemeinde-, bundesstaatlicher und föderaler Ebene abgehalten. Jede Stadt organisiert ihren Gesundheitsrat, bei dem sich die BürgerInnen, die als RatsvertreterInnen gewählt worden sind, mit den Fachleuten aus dem Gesundheitssystem treffen. Die VertreterInnen des Gesundheitssystems legen Rechenschaft ab über das, was sie in den letzten zwei Jahren gemacht haben, und die Ratsmitglieder berichten über ihre Aktivitäten im Bereich der sozialen Kontrolle. Dort werden auch die politischen Leitlinien und Maßnahmen für die nächsten zwei Jahre bestimmt. 

Außerdem wird berichtet, was in den letzten zwei Jahren wofür ausgeben worden ist, und der Haushalt für die nächsten zwei Jahre wird festgelegt. Natürlich funktioniert das nicht überall gleich gut. Der Nationale Gesundheitsrat stellt die oberste Struktur dar und steht sogar laut Verfassung über dem Gesundheitsminister. An diesem Nationalen Gesundheitsrat beteiligen sich die NutzerInnen des Systems, also die PatientInnen, die VerwalterInnen sowie die Fachleute und WissenschaftlerInnen. Er kommt in gewissen Abständen zusammen, um Umsetzung und Funktionsweise des Systems zu begleiten. Die PatientenvertreterInnen werden in diesen Versammlungen gewählt. Alle, die wollen, können sich also an dieser Struktur beteiligen und zur Wahl stellen – auf lokaler, bundesstaatlicher oder landesweiter Ebene. 

Hat es in den letzten Jahren unter der Lula-Regierung irgendwelche Veränderungen gegeben? Gibt es auch im Gesundheitsbereich Vereinnahmungsversuche?

Ja, denn diese Art der Beteiligung – obwohl sie im Prinzip sehr basisdemokratisch ist, da sie die Beteiligung einer aktiven Bevölkerung vorsieht – ist natürlich sehr anfällig für parteipolitische Vereinnahmungsversuche und Kungeleien mit dem Verwaltungspersonal oder der Arzneimittelindustrie, welche die Entscheidungen auf den Versammlungen beeinflussen können. Unter der Linksregierung hat es nun die Kritik gegeben, dass viele der RatsvertreterInnen zu sehr der politischen Agenda der Regierungspartei PT verpflichtet sind. So gibt es parteipolitische Auseinandersetzungen in den Räten – auf Kosten der eigentlichen Fragen, die dort behandelt werden sollten. 

Darüber hinaus gibt es aber auch noch eine andere Form von Beteiligung, die sich nicht notwendigerweise innerhalb dieser formalen Beteiligungsstruktur abspielt: Auch soziale Bewegungen oder bestimmte Gemeinschaften können ihren Einfluss über die Gesundheitsräte geltend machen, in Arbeitsgruppen oder anderen Vertretungsgremien, die auch Auswirkungen auf die Entscheidungen haben. Die AIDS-Bewegung beteiligt sich zum Beispiel auf beiden Ebenen.

Brasilien erhält weltweite Anerkennung für seine Gesundheitspolitik im Hinblick auf HIV/AIDS. Sehr viele Erkrankte können sich behandeln lassen. Wie sind diesbezüglich die aktuellen Zahlen?

Zurzeit haben wir etwas mehr als 200 000 HIV-Infizierte, die antiretrovirale Medikamente1 erhalten, die ihnen das öffentliche Gesundheitssystem kostenfrei zur Verfügung stellt. Laut Schätzungen gibt es insgesamt 600 000 HIV-Infizierte im Land. Brasilien registriert aber nur die AIDS-Fälle – also wenn die Krankheit schon ausgebrochen ist – und nicht die HIV-Infektionen; insofern bekommen diejenigen Medikamente, die sie dann auch schon benötigen. Es handelt sich also nicht nur um einen universellen Zugang, sondern auch um eine universelle Verteilung: Menschen, bei denen das Krankheitsbild AIDS ausgebrochen ist, bekommen fast alle medikamentöse Behandlung.

Wie ist diese weitgehende Versorgung mit den doch recht kostspieligen antiretroviralen Medikamenten in Brasilien möglich?

Lulas Regierung hat 2007 eine Zwangslizenz für ein AIDS-Medikament vergeben2, das damals von 70 Prozent der PatientInnen genommen wurde: Efavirenz von dem Pharmaunternehmen Merck, das nicht mit dem Preis für das Medikament heruntergehen wollte. Oft ist die Rede von „Patentbruch“, was nicht richtig ist, denn Brasilien hat einen keineswegs illegalen Mechanismus angewandt, der innerhalb seiner eigenen Gesetzgebung zu Patenten vorgesehen ist und der auch nicht dem internationalen TRIPS-Abkommen zu geistigem Eigentum entgegensteht. Brasilien hat eine Lizenz für dieses Medikament erteilt und zahlt auch die Lizenzgebühren an die Firma, die dieses Patent innehatte. So ist die Regierung allerdings nur bei einem einzigen Medikament vorgegangen, nachdem es sehr viel Druck von den AIDS-AktivistInnen gegeben hatte.

Wo seht ihr im Moment eure wichtigste Aufgabe?

Dass das Recht auf Gesundheit für alle HIV-Infizierten – und auch alle anderen Menschen mit Krankheiten in Brasilien – in die Wirklichkeit umgesetzt wird. Obwohl beispielsweise der Zugang zu antiretroviralen Medikamenten verwirklicht worden ist, haben wir paradoxerweise in anderen, grundlegenderen Versorgungsfragen noch Schwierigkeiten: bei der Versorgung mit Antibiotika, bei Analysen und Untersuchungen wie Endoskopien, Bronchoskopien etc. Das zeigt, dass wir noch einen weiten Weg vor uns haben. Das Gesundheitssystem funktioniert sehr gut bei den komplexen Krankheiten, z.B. bei Personen, die schwere Probleme mit dem Herzen haben, bei komplexen chirurgischen Eingriffen, bei Nierenerkrankungen etc. Auch unser Krebsprogramm ist sehr effektiv. Aber die einfacheren Programmen gegen Epidemien oder endemische Krankheiten funktionieren immer noch sehr schlecht, ebenso die medizinische Grundversorgung. 

Das Gesundheitssystem ist sehr stark auf die Behandlung ausgerichtet, konzentriert sich auf die Betreuung anstatt auf die Prävention. Vor allem dort, wo die Prävention mit Aufklärungsarbeit einhergeht, z.B. beim Dengue-Fieber, haben wir noch starke Defizite. Vielen dieser Krankheiten wie Dengue, Malaria oder Tuberkulose könnte vorgebeugt werden. Außerdem ist es auch eine Frage der Mittelverteilung. Die Regierung sieht z.B. bestimmte Finanzmittel für ein Krankenhaus vor und orientiert sich dafür an den Ausgaben des Krankenhauses. Wenn dieses Krankenhaus nun kostenintensive Operationen durchführt, bekommt es folglich mehr Mittel als ein Krankenhaus, das Dengue-PatientInnen behandelt. Eine paradoxe Situation, die zeigt, dass wir noch viel vor uns haben und noch viel mehr Druck auf die Regierung ausüben müssen.

  • 1. Zum einen wird bei der medikamentösen Therapie die Viruslast gedrückt, zum anderen das Immunsystem gegen opportunistische Erkrankungen gestärkt.
  • 2. Brasiliens Patentgesetz trat 1997 in Kraft. Für später patentierte Medikamente kann das Land Zwangslizenzen erteilen, weil es sich auf einen „nationalen Notstand“ oder den „wirtschaftlichen Missbrauch von Patentrechten“ beruft.

Das Interview führte Britt Weyde am 22. September 2010 in Köln.