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Wir müssen die Städte überzeugen

Interview mit Maria Salete Campigotto von der brasilianischen Landlosenbewegung

Seit der ersten Landbesetzung auf der Fazenda Anoni ist Salete in der Landlosenbewegung als Lehrerin aktiv. Sie war lange in der Landeskoordination von Rio Grande do Sul tätig und leitet heute eine ihrer Berufsschulen. Im September war sie anlässlich der Feierlichkeiten zum 30-jährigen Jubiläum des Right Livelyhood Awards (Alternativer Nobelpreis) in Bonn zu Besuch in Deutschland. Im Gespräch schildert sie ihre persönliche Sicht auf 26 Jahre Landlosenbewegung, analysiert die Regierungszeit Lulas hinsichtlich der Agrarreform und gibt Einblick in die aktuellen Ideen und internen Debatten in der Landlosenbewegung.

Benjamin Bunk

Wie würdest du den Weg der MST als Bewegung in den letzten 26 Jahren bewerten? 

Ich persönlich habe in der Bewegung weit mehr gelernt als jemals an einer Universität. In der Bewegung habe ich tatsächlich erfahren, was Solidarität bedeutet. Ich habe gelernt, was es heißt, füreinander da zu sein, Erfahrungen auszutauschen und sich zu bilden. Für mich hat sich dadurch erst die Welt erschlossen. Meine Sicht auf die Dinge zuvor war sehr beschränkt, doch heute haben wir uns gemeinsam die Geschichte der lateinamerikanischen Völker angeeignet und uns eine eigene Sicht auf die Welt erarbeitet. Diesen Aspekt möchte ich besonders betonen. Für alle von uns war und ist es von extremer Bedeutung, an dieser Bewegung teilzuhaben, da wir durch sie unser Subjektsein, unser Selbstbewusstsein und unsere Würde wiedergewonnen haben. 

Wir zählen heute über 1,14 Millionen Mitglieder, 2000 Siedlungen, 1800 Schulen, 160 Agrargenossenschaften und 140 meist nach ökologischen Prinzipien organisierte landwirtschaftliche Betriebe. Wir produzieren wirtschaftlich, pflanzen gesunde Nahrungsmittel an und schaffen Arbeitsplätze. Und der Ruf nach mehr Land für Landlose ist angesichts weiterer 200 000 Familien in Zeltlagern in 24 Bundesstaaten nach wie vor laut. 

Das Besondere dieser Bewegung ist, dass sie diese Differenzen und die Vielfalt an Lebensentwürfen in den verschiedensten Regionen Brasilien respektiert und zugleich zu einem erweiterten Horizont vereint. Wir haben eine gemeinsame Grundlage, nämlich den Kampf für eine Agrarreform und die Entschlossenheit, keinen Schritt vor dem Großgrundbesitz zurückzuweichen. Die Solidarität und Unterstützung über Bundesgrenzen hinweg ist gewachsen und unsere Symbole einen uns in ganz Brasilien. 

Welches sind denn die aktuellen Herausforderungen auf dem Land und speziell für die Agrarreform? 

Der Weg, den wir bisher beschritten haben, hat uns zwar geholfen, Land zu erobern, aber er hat uns der Agrarreform nicht nähergebracht. Heute leben nur noch 15 Prozent der BrasilianerInnen auf dem Land. Vor 70 Jahren waren es noch 80 Prozent. Aufgrund dessen werden zum einen die sozialen und ökologischen Probleme der Städte immer größer, zum anderen wird es auf dem Land angesichts der ausblutenden Gemeinden und schwindenden lokalen Märkte immer schwieriger. Ein anderes Produktionsmodell und eine andere Idee von Fortschritt muss daher ein „Kampf aller“ sein – wir müssen die Städte überzeugen! Und wir müssen die Jugend für das politische Engagement und unseren Kampf gewinnen. In den nächsten 26 Jahren wird die Entwicklung in ihren Händen liegen.

Wir sind uns auch des Fortschritts bewusst, den wir bei der Bildung erreicht haben. Das Wissen war in Brasilien immer in der Hand weniger, die Armen wurden nur im Nötigsten unterwiesen. Bildung wurde immer nur als Mittel zum Zweck des Kapitals, der Industrie gedacht, nie als Recht des Menschen. Genauso wenig wie ländliche Entwicklung nie als Bildung der auf dem Land lebenden Menschen und deren Kultur gedacht wurde. Aber das Wissen muss sozialisiert werden, es ist nie zu den Armen gekommen. Der Kampf für eine Demokratisierung der Bildung ist eine unserer großen Aufgaben. 

Währenddessen treiben Agrarlobby und Agrarpolitik den Ausbau der industriellen Landwirtschaft weiter voran. Monokulturen von Eukalyptus, Zuckerrohr und Soja zerstören die Biodiversität und entziehen den angrenzenden Bauern die Lebensgrundlage. Nachhaltigkeit ist eine Herausforderung für die Agrarreform, besonders im Hinblick auf künftige Generationen. Wir müssen uns ernsthaft Gedanken über unsere Produktionsweise und unsere Verantwortung für das Leben machen! 

Noch glauben die Menschen an die durch die Medien propagierten Modernisierungsutopien. Aber es ist eine himmelschreiende Schande: Als Brasilianer treten wir heute das Erbe des höchsten Pestizidverbrauchs weltweit an. Jede Ernte ist mit sechs Litern pro EinwohnerIn mit Pestiziden und chemischen Stoffen belastet. Wir verpesten das Grundwasser und unsere tagtäglichen Lebensmittel. Wollen wir das? 

Wie bewertest du die Regierung Lula nach acht Jahren – allgemein und speziell in Hinsicht auf die Agrarreform? 

Als Lula 2002 Präsident wurde, wussten wir, dass es nicht einfach wird. Aber natürlich waren wir voller Hoffnung. Aber es ist nicht eine bestimmte Regierung oder eine Person, die Veränderung mit sich bringt. In einer Gesellschaft gibt es unterschiedliche Kräfte und Interessen, die zum Ausdruck kommen und miteinander ringen, so auch in Brasilien bei der Agrarfrage.

Die Agrarlobby pflegt beispielsweise sehr gute Kontakte zur Legislative und Judikative. Während Lulas Amtszeit haben wir daher drei parlamentarische Untersuchungskommissionen (CPI) gegen uns gehabt. Die letzte CPI war eine Konsequenz aus der Androhung Lulas, den Produktivitätsindex der landwirtschaftlichen Flächen neu zu bestimmen. Er hat viel Gegenwind bekommen und ist damit gescheitert. Immerhin wurde vor zwei Monaten ein Dekret erlassen, welches den Kauf von Land durch transnationale Firmen beschränkt. 

Andere Maßnahmen waren erfolgreicher. Besonders wichtig war die Einführung einer Quote bei der staatlichen Schulspeisung, die einen Anteil von 30 Prozent aus der kleinbäuerlichen Landwirtschaft festlegt. Ähnliches gilt für die staatlichen Nahrungsmittelkörbe. Diese Maßnahmen garantieren die Abnahme unserer Produkte, zumindest in der Nähe von Dörfern und Städten. Wir können nun eine größere Vielfalt an Lebensmitteln für den Markt anpflanzen, statt selbst immer mehr auf Monokulturen auf kleinen Ländereien setzen zu müssen. Dies mildert die harten Bedingungen auf dem Land. 

Die Regierung Lula ist von enormen Widersprüchlichkeiten geprägt. Aber die vorangehenden Regierungen waren noch viel schlimmer. Früher war Brasilien im Ausland nur durch Fußball und Karneval bekannt. Lula hat es geschafft, außenpolitische Anerkennung für Brasilien zu erreichen und die Auslandsschulden zu tilgen. Er hat das Problem des Hungers gelöst, das ist toll, aber nicht das Problem der Armut. 

Was die Erziehung und Bildung anbelangt, so gab es 2002 nur drei Prozent der brasilianischen Bevölkerung, die es an die Universität schafften. Heute sind es zehn Prozent. Die Universitäten des Bundes waren sehr heruntergekommen. Er hat sie saniert und 13 neue gegründet. Dafür ist die Rate der funktionalen Analphabeten gestiegen. Das wiederum weist auf einen Widerspruch in der Bildungspolitik hin, den es zu lösen gilt.

Wegen der vielen Widersprüche fällt es schwer, die Regierung Lula als „besser“ zu bezeichnen. Es gab Maßnahmen, die uns halfen, sowie es auch Maßnahmen zur Unterstützung der Agrarlobby gab, seien es die Subventionen, Kreditmöglichkeiten oder Infrastrukturprojekte. Allerdings muss man auch berücksichtigen, dass Lulas Regierung eine Koalition war und nur bedingt Einfluss auf die Bundesländer ausüben konnte. 

Bei der letzten Wahl rief die MST erst zur Stichwahl zum Boykott von Alckmin und zur Unterstützung Lulas auf. Vor einigen Tagen hat MST-Führer Stédile nun dazu aufgerufen „Serra zu schlagen“. Wie lässt sich die die Haltung der MST vor den Wahlen erklären? 

Niemand, nicht einmal die Eliten, wünscht sich die Rückkehr des Neoliberalismus. Wir glauben, dass wir in eine neue Phase der Debatten und des politischen Bewusstseins eintreten. Unter Dilma haben wir einen größeren Freiraum, uns für unsere Anliegen in der Gesellschaft starkzumachen. Serra dagegen hat bereits klargestellt, dass er weder mit Cuba noch mit Venezuela, Bolivien oder Paraguay oder gar der Landlosenbewegung zusammenarbeiten wird. Einen solchen antidemokratischen Imperialismus wollen wir natürlich nicht unterstützen. 

Wir wählen heute niemanden, der Wunder bewerkstelligen und uns die dringend notwendigen Veränderungen als Geschenk machen wird. Aber wir brauchen Raum, um weiter für unsere Sache kämpfen zu können. In einer Koalitionsregierung wird dieser Kampf weiterhin erforderlich sein. Aber auch außerhalb des politischen Systems artikulieren sich die Interessen der Zivilgesellschaft. Es wird entweder mehr oder weniger Konflikte geben.

In Brasilien wächst die Mittelschicht überproportional, doch auch der Unterschied zwischen Arm und Reich nimmt weiter zu. 37 Prozent der Landbevölkerung besitzen weiterhin nur Prozent der Fläche, der Rest gehört dem Großgrundbesitz. Haben Lulas politisch erfolgreiche Strategie, möglichst alle Interessen dieser heterogenen Gesellschaft zu berücksichtigen, sowie die sich nur zum Teil wandelnde Gesellschaftsstruktur eure Bewegung dazu veranlasst, ihr Modell der Agrarreform zu überdenken? 

Tatsächlich haben wir darüber schon diskutiert und eine Neubewertung vorgenommen. Wir müssen an einer „Agrarreform für alle“ arbeiten. Es gibt verschiedene Konzepte ländlicher Entwicklung und diese werden darin vereint. Bei uns heißt es Agrarreform, der Kleinbauernverband nennt es „Lebensfähiges Land“ und die Bewegung gegen Staudammprojekte (MAB) fordert einen Energiemix. Die „Agrarreform für alle“ will unterschiedliche Lebensformen fördern, sei es der Fischer oder der Ribeirinhos. Es gilt nicht, diese unterschiedlichen Lebensentwürfe einfach zu bewahren, aber statt sie zu vernichten, sollte diese Vielfalt weiterentwickelt und als Alternative zur Stadt gefördert werden. 

Wir arbeiten bereits an einer Alternative. Die Bewegung sollte von allen politischen Institutionen respektiert werden, erfüllt sie doch eine wichtige soziale Funktion, indem sie Arbeit schafft, Sozialarbeit leistet und ausbildet – eigentlich Aufgaben des Staates. Die Bewegung geht auf die Leute zu, nimmt sie auf, damit sie zu Subjekten werden und befähigt sie, in Würde ihr eigenes Leben auf dem Lande zu gestalten.

Das Gespräch führte Benjamin Bunk am 22. September 2010 in Jena.