ila

Roman einer Metamorphose

„Fado“ von Kettly Mars
Klaus Jetz

Aus Anaïse wird Frida. Manchmal zumindest. Sie selbst wird daraus nicht ganz schlau, weiß nur, dass sie begann in Fridas Haut zu schlüpfen, als sie Bony, den „Zuhälter mit Engelsgesicht“, kennen lernt, kurz nach ihrer Scheidung von Léo. Wirklich traurig ist sie über die Trennung nicht. Sie hat Trost gefunden im Fado, dem Schluchzen der omnipräsenten Amália Rodrigues und eben in Bony. Sie wird eine von seinen Geliebten. Zwei Wochen teilt sie mit ihm das Bett, sie wohnt jetzt in Bonys Freudenhaus und so wird aus der angesehenen Ehefrau Anaïse nach und nach die Prostituierte Frida.

Das ist in wenigen Worten der Plot von „Fado“, dem ersten Roman der haitianischen Autorin Kettly Mars, der 2010 in deutscher Übersetzung erschienen ist. Kettly Mars wurde 1958 in Port-au-Prince geboren. Zunächst schrieb sie Lyrik, 2003 wurde sie mit dem Roman „Kasalé“ über die Grenzen des Landes hinaus bekannt. Sie spielt eine wichtige Rolle im Kulturbetrieb ihrer Heimat. Zurzeit arbeitet sie an einer Anthologie haitianischer Erzählerinnen. Im kommenden Jahr erscheint bei litradukt ihr Roman „Wilde Zeiten“, ein Politthriller, der in den 1960er Jahren spielt und die Diktatur des älteren Duvalier (Papa Doc) thematisiert.

Der Triumph der Lebensfreude über die Verzweiflung hingegen ist das Thema des poetischen Romans „Fado“. Die Erzählerin Anaïse berichtet über Frida in der dritten Person: „Sie ist nicht mehr die Jüngste. Ihre Brüste sind noch straff, aber ihr Bauch erschlafft, die Haut ihres Gesäßes wird welk.“ Anaïse bekommt keine Kinder. Deshalb wird sie von Léo verlassen, der mit der jüngeren Babeth einen Sohn hat. Wir erfahren auch den Grund von Anaïses Unfruchtbarkeit, die „Geschichte ihres Bauches“, ihren beiden Abtreibungen, die sie als junges Mädchen über sich ergehen lassen musste, weil sie immer wieder vom Schuldirektor vergewaltigt wurde. 

Die Verwandlung der Erzählerin bringt auch einen seltsamen Beziehungswandel mit sich: „Léo musste sich von mir scheiden lassen, um wirklich mein Geliebter zu werden“, sagt Anaïse-Frida. Jetzt frisst er ihr aus der Hand, erfüllt ihr alle Wünsche. „Ich bin seine Geliebte, wir leben eine Art legalen Ehebruch, weil ich zuvor seine Ehefrau war.“ Anaïse fühlt sich nun frei, sie ist eine andere, weil Frida von ihr Besitz ergriffen hat. Léo ist eifersüchtig, weil seine Exfrau – was er ahnt – ein neues Leben führt, das er aber nicht kennt: in Bonys Freudenhaus, mit Bony, Prostituierten, Kunden. 

Anaïse sagt, Frida komme bei den Männern auf ihre Kosten. „Er gehört mir, weil ich über seine Begierde herrsche“, sagt sie etwa über ihren Geliebten und Zuhälter Bony. Regelrecht besessen aber ist Anaïse von der Angst, Léo könne sie für immer verlassen und mit Babeth und seinem Sohn in die USA emigrieren. Als er ihr schließlich genau dies eröffnet, gerät die heile Welt aus den Fugen und die Dinge nehmen ihren Lauf.
Außer diesem Beziehungsgeflecht erfahren wir nebenbei auch einiges über Land und Leute, den täglichen Stress der Straßen von Port-au-Prince. „Dieser Straßen, die töten, ohne zu diskriminieren. Dieser Straßen voller menschlich-tierischer Zwitterwesen. Männer wie Chamäleons, Frauen wie Nattern, Kinder wie Eidechsen.“ Und wie ergeht es einer verlassenen, geschiedenen Frau? „Ich werde von verheirateten Frauen gefürchtet, weil ich zur Beutefängerin werde, die es nach dem Geschlecht ihrer Ehemänner dürstet. Auch bin ich in den Augen der Männer eine leichte Beute, die sie begehren, weil ohne Mann und deshalb notwendigerweise schutzlos.“

Leitmotiv ist der Fado, vor allem Amália Rodrigues wird beinahe zu einer weiteren Romanfigur. Sie ist die Lieblingssängerin der Protagonistin und wohl auch von Kettly Mars. Ihre Musik hilft Anaïse-Frida bei der Überwindung von Schmerz und Trauer, bei der Erfüllung ihrer Sehnsüchte.

Das originelle Buch, dieser Roman einer Metamorphose macht neugierig auf weitere Romane von Kettly Mars. Das dünne Bändchen ist voller Poesie, Bilder und Metaphern, gut lesbar und hervorragend übersetzt, wirklich ein Lesegenuss. Es empfiehlt sich eine schnelle Lektüre ohne Unterbrechung, damit das Werk etwa an einem verregneten Sonntagnachmittag seine maximale Wirkung entfalten kann.

Kettly Mars, Fado, litradukt, Kehl 2010, 85 Seiten, 11,90 Euro