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Africa calling

Stimmen und Stimmungen auf dem Weltsozialforum in Dakar

Gerade einmal zehn Jahre ist es her. Ein „Weltsozialforum“ (WSF) in Porto Alegre im globalen Süden schickte sich an, dem „Weltwirtschaftsforum“ (WEF) in Davos im globalen Norden die Stirn zu bieten. Der trotzige Ruf „Eine andere Welt ist möglich“ lockte ungeahnte 16 000 TeilnehmerInnen an. In den folgenden Januaren wuchs das Ereignis locker auf das Acht- und Neunfache an Einschreibungen an. Während in Davos Führungskräfte aus Industrie, Banken und Politik bei Sekt und Fingerfood unbrauchbare Rezepte gegen das globale Krisenkasino entwarfen, diskutierte das WSF in Porto Alegre, Mumbai, Bamako, Karachi, Caracas und Belém Alternativen. Die Medien fanden die KritikerInnen der neoliberalen Globalisierung alsbald interessanter als deren ideenlose VerfechterInnen zeitgleich im Schweizer Nobelskiort. In diesem Jahr nicht einmal mehr das. Das WSF emanzipiert sich vom WEF auch im Datum: Das Weltsozialforum begann in Dakar erst, als in Davos schon längst die Lichter wieder aus waren. Ein Bericht über die andere Welt in Afrika. Und wie es weitergehen könnte.

Gaby Küppers

Freitagabend in Dakar. Ein einsamer junger Mensch in gelbem Weltsozialforums-T-Shirt vertritt sich am Flughafen die Beine. Stumm. Niemand wendet sich an ihn. Stände mit Infos und Stadtplänen, Schildern und Musik, wie in Porto Alegre oder Belém, hätten die übermüdeten Passagiere aufgeweckt, neugierig gemacht. Aber so zerren sie nur ihre Rollkoffer vom Band und huschen von dannen. Auch in der Stadt ist 36 Stunden vor dem Eröffnungsmarsch keine Spur von WSF. Am Samstag herrscht auf dem für das Forum vorgesehenen Uni-Campus Sheik Anta Diop (UCAD) normales Unileben. Niemand weiß, wo man sich einschreiben kann, Unterlagen erhält. Vielleicht sogar ein Programm, obwohl die WSF-Agenda erfahrungsgemäß immer erst im allerletzten Moment in gedruckter Form vorliegt. Eine Anlaufstelle wenigstens? Ein Infotisch? Fehlanzeige. Ratlosigkeit steht auf den Gesichtern geschrieben. Meena aus Indien sagt nur ein Wort: „Chaos“. Das haben weder sie noch die anderen Mitglieder des Internationalen Rats des WSF erwartet.

Dabei sollte nach der gemischten Erfahrung im kenianischen Naroibi 2007 im westafrikanischen Senegal diesmal alles besser werden. Von 50 000 erwarteten TeilnehmerInnen hatte Taoufik Ben Abdallah vom senegalesischen Organisationskomitee gerade noch auf einer Pressekonferenz gesprochen. Allerdings auch eingeräumt, dass ein Großteil der zugesagten Gelder nicht eingetroffen sei. Zudem spielt der im Januar angetretene neue Rektor der UCAD nicht mit. Nichts da mit Unterbrechung des Unterrichts, lässt er verlauten. Durch Streik ausgefallene Vorlesungen, ja Examen müssten nachgeholt werden. So verteilen AktivistInnen Flugblätter, auf denen ihre Workshops mit Datum und Uhrzeit, aber ohne Raum aufgeführt sind. Oder mit Angaben von Räumen, in denen zu angegebener Zeit dann in den kommenden Tagen Studierende sitzen und sich neugierig umdrehen, wenn die Tür geöffnet wird.

Verwirrung. Aber da sitzt Jean Rossiaud, ein Grüner aus Genf, am nächsten Morgen beim Frühstück und strahlt. Während es deutsche Gruppen nicht wie in den Vorjahren geschafft haben, zu mobilisieren und einen durchaus beeindruckenden Leitfaden durch Veranstaltungen mit deutscher Beteiligung zusammenzustellen, sind 55 SchweizerInnen aus Hilfswerken und Parlamenten schon eine Woche vor WSF-Start angereist, um sich umzusehen und in die Vorbereitungen einzuklinken. Jean Rossiaud kommt gerade von der Insel La Gorée, von wo Tausende Sklavenschiffe über Jahrhunderte nach Lateinamerika gestartet sind. An symbolischem Ort fand das Forum der MigrantInnen statt und hat eine Charta der MigrantInnen verabschiedet (http://fsm2011.org/fr/charte-mondiale-des-migrants). „Es war ein wunderbar ermutigendes Ereignis“, sagt Jean Rossiaud. „Diese Charta wird zweifellos das Forum prägen.“

In der Tat, der Eindruck von organisatorischem Chaos und fehlender inhaltlicher Struktur relativiert sich am Sonntag, als die Auftaktdemo losmarschiert. „Bis gestern hatte ich Zweifel, aber seit heute morgen redet jedeR in Dakar vom Weltsozialforum. Selbst die Taxifahrer haben die Preise verdoppelt“, lächelt Francine Mestrum, Belgierin im Internationalen Rat. Es wird die größte Demonstration, die Dakar erlebt hat. Mehrere Zehntausend Menschen machen sich auf den Weg vom senegalesischen Radio und Fernsehen bis zu einem Podium auf dem Unicampus.

Mindestens zwölf Karawanen aus afrikanischen Ländern haben an diesem Wochenende die letzte Station ihrer Reise erreicht. Die Karawanen sollten das WSF in Afrika bekannt machen und TeilnehmerInnen anziehen. Anders als zum WSF in Nairobi 2007 spielten die christlichen Kirchen offenbar kaum eine oder keine Rolle bei der Mobilisierung nach Dakar. Auch beim Marsch oder auf dem Campus fallen sie nicht ins Auge. Eine Konfrontation über Reizthemen wie Abtreibung und reproduktive Rechte, die nach Nairobi eine Debatte um die Frage entfacht hatte, ob die WSF-Charta geändert werden müsse, um solche Entwicklungen in Zukunft auszuschließen, fehlt zum Glück auf dem Forum. Im überwiegend von einem mystischen Islam geprägten Senegal scheint aber auch der Islam keine sozialpolitische Funktion zu übernehmen. Unter den acht- bis neunhundert angekündigten Veranstaltungen habe ich gerade mal eine entdeckt, die sich mit der Rolle des Islam in der nordafrikanischen Gesellschaft befasst. 

AfrikanerInnen stellen die größte Gruppe der Marschierenden. Zum ersten Mal auf einem WSF wehen kaum Parteifahnen. Auf den Transparenten geht es um Migration, Landraub, Überfischung durch Fabrikschiffe aus Europa und Asien, Klimawandel, Steuerflucht und Schulden. Damit sind die großen Linien des beginnenden WSF vorgegeben. Globale Themen mit einer sehr afrikanischen Dimension. Und selbstverständlich die politischen Erdbeben in der Region und die Frage Who's next? TunesierInnen und ÄgypterInnen selbst sind, wen wundert's, nur wenige gekommen. MarokkanerInnen dagegen laufen massiv auf. Einige wohl auch mit einem Auftrag der anderen Art: In den kommenden Tagen wird eine Gruppe von (offiziellen?) Marokkanern sogar eine Veranstaltung zur Westsahara1 verhindern. Eine Spontandemo dagegen ist die Antwort.

TeilnehmerInnen aus anderen Kontinenten machen höchstens 30 Prozent aus. Dass eine Gruppe französischer SozialistInnen um ihre Wunschpräsidentschaftskandidatin Martine Aubry sich zum mit der Presse abgesprochenen Zeitpunkt in die Demo einreiht, sich ablichten lässt und gleich darauf wieder ausschwenkt, ist eher peinlich. Oder ein Zeichen dafür, dass manche Parteien das WSF inzwischen für wahlkampfrelevant halten. Von einem interessanten Sinneswandel im Europäischen Parlament zeugt die Entscheidung seines Beschäftigungs- und Sozialausschusses, eine Delegation von Abgeordneten verschiedener Parteien zum WSF zu entsenden. Die eine oder der andere von ihnen ist bereits bei der Demo dabei. Christophe Aguiton von Attac France versucht vom Zugrand aus, sich einen Überblick zu verschaffen: „Die Demo ist gelungen“, sagt er, „doch der Rest ist noch nicht gewonnen.“ Emir Sader, bekannter Soziologe aus Rio de Janeiro, der das WSF seit seinen Anfängen kritisch begleitet, ist ebenfalls skeptisch: „Eine globale Politik, die Afrika ignoriert, macht einen Fehler. Aber das afrikanische Forum muss vom lateinamerikanischen noch viel lernen.“ Er steht auf dem Platz der Abschlusskundgebung, hinter ihm spricht der Überraschungsgast Evo Morales und eröffnet das WSF – nach den heftigen Debatten um das Erscheinen von Lula und Chávez auf früheren Foren ist das forumspolitisch unkorrekt, aber nett ist es doch.

Irgendwann am nächsten Vormittag werden die ersten Programme an Uniwände geklebt, einige WSFlerInnen haben sogar eigene Exemplare ergattert. Den meisten ist nur eines klar: Heute ist Afrikatag. Dieser wie auch die folgenden beiden Tage besteht aus selbstorganisierten Seminaren. Diese alle sollen dann zusammenfließen in 39 Konvergenzversammlungen an den beiden letzten Tagen. Der komplette Verzicht auf zentrale Großkonferenzen sorgte anfangs für Verunsicherung bei denjenigen, die sich vom WSF Orientierung versprachen. Doch am Ende wurde die Struktur allgemein begrüßt. Sehr produktiv seien die Sitzungen gewesen, im Hinblick auf Inhalte wie auf Aktionspläne sei man weitergekommen, hieß es beim Tax Justice Netzwerk. Bei der Konvergenzversammlung aller vorausgegangenen Workshops gegen Land and Sea Grabbing2 konnten Ergebnisse diskutiert und ein Aufruf verabschiedet werden (http://farmlandgrab.org/post/view/18159).

Die Rio+20-Veranstaltungen versuchten, die Beschlüsse der Klimakonferenz der sozialen Bewegungen von Cochabamba im April letzten Jahres in die Vorbereitungen zur Klimakonferenz im Juni 2012 in Rio de Janeiro, zum 20. Jahrestag des Erdgipfels von 1992, aufgehen zu lassen. Pablo Solón, der als Verhandlungsführer Boliviens im Dezember 2010 in Cancún als Einziger gegen den faulen Klimakompromiss der Abschlusserklärung gestimmt hatte (vgl. ila 342), versprach, die Beschlüsse von Dakar weiter in den Prozess der Weltklimakonferenzen einzubringen. Nachdem Umwelt und Klima in den ersten Jahren des WSF eine eher untergeordnete Rolle spielten, ist das Thema jetzt mitten im Zentrum des WSF angekommen und verbindet ein sehr breites Panorama von Organisationen. Die nächsten Rendezvous sind die COP 17 im südafrikanischen Durban im Herbst, ein Treffen in Porto Alegre im Januar und der Klimagipfel in Rio selbst.

Wichtig dürften in diesem Jahr auch die Aktionen gegen den G8 und den G20 werden. Frankreich hat für beide Gipfel dieses Jahr den Vorsitz. Man wird sich also im Mai gegen den G20 in Deauville und im November in Cannes gegen de G8 wiedersehen (www.gruenlink.de/54). Die sozialen Bewegungen verabschiedeten ihrerseits eine Erklärung, die die genannten Termine enthält sowie zu einem interntationalen Solidaritätstag mit Tunesien und Ägypten am 20. März und zu einem weltweiten Aktionstag gegen den Kapitalismus am 12. Oktober aufruft (http://alainet.org/active/44325&lang=es).

Gerade die im Laufe des WSF-Prozesses aufgebauten Netzwerke waren somit zufrieden. Sie hatten auch die wenigsten Schwierigkeiten mit dem organisatorischen Nichtfunktionieren auf dem Campus, konnten schneller in die vom einen auf den anderen Tag aufgebauten Großzelte zusammenrufen, die die von StudentInnen besetzten Uni-Räume ersetzten, während Neulinge abends entnervt berichteten, keine einzige der angekündigten Veranstaltungen überhaupt gefunden zu haben.

Sind in den Netzwerken jedoch noch diejenigen vertreten, die 2001 nach der anderen möglichen Welt suchten? Übernehmen die großen NRO das Ruder, oder haben sich neue Strukturen entwickelt, die tragen? Wie weit wird die aktuelle Mobilisierung in Afrika reichen? Wird sie sich auf das WSF beziehen oder in diversen Demokratiebewegungen aufgehen? Wer sind die europäischen sozialen Bewegungen? Waren sie je wirklich im WSF-Prozess vertreten? Die vorläufigen Antworten auf diese Frage sind durchaus kontrovers. 

Was ist inhaltlich der Hauptunterschied zum WSF 2007 in Nairobi und 2009 in Belém? Auch in Nairobi war Afrika sehr präsent. Allerdings kaum in den meist ziemlich leeren Veranstaltungsräumen rund um ein Fußballstadion. Das WSF war eher ein permanenter Demonstrationszug von Gruppen, deren Hauptanliegen oft darin bestand, ihre Existenz und damit ihre Rechte überhaupt erst einzuklagen. Das WSF in Belém fand auf dem Höhepunkt der weltweiten Finanzkrise statt. Die TeilnehmerInnen aus der Amazonasregion analysierten sie als Zivilisationskrise, die als solche viel mehr brauche als Finanzregulierung, Beschäftigungsprogramme oder eine Weltwirtschaftsregierung. Vielmehr müsse das ganze System, die gesamte Kultur neu gedacht werden. Das von den indigenen Bewegungen in Bolivien und Ecuador entwickelte und heute in ganz Südamerika diskutierte Konzept des Buen Vivir (Gutes Leben) war in diesem Ansatz mit einbegriffen.

Davon war in Dakar so gut wie nichts zu hören. Visionen bezogen sich zumeist auf die Umbrüche im Norden Afrikas, auf einen grundsätzlichen Politik-, aber nicht auf einen fundamentalen Zivilisationswandel. Es wurde konkret gearbeitet und wenig gefeiert. Das Jugendcamp, sonst meist Ort nächtelanger Auftritte, war unsichtbar. Außer über eine Kinoagenda in einem der Teilprogramme blieben kulturelle Veranstaltungen unangekündigt. Vom Konzert mit Youssuf N'Dour, dem Star der senegalesischen Musikszene, erfuhr ich am nächsten Tag aus der Zeitung. Auf der Abschlussveranstaltung standen nach drei Stunden immer noch RednerInnen in Warteschlange auf der Bühne. Keine Ahnung, ob das Schlagzeug im Hintergrund irgendwann noch zum Einsatz kam. Die Ausharrenden würde etwas Bewegung gefreut haben. Im Februar wird es frisch abends am Meer in Dakar.

  • 1. Ehemals spanische Kolonie, die seit 1976 bzw. 1979 von marokkanischen Truppen besetzt ist. Dagegen kämpft die Frente Polisario für die Befreiung und Anerkennung der „Demokratisch Arabischen Republik Sahara“. Ein Teil der Bevölkerung wurde von den marokkanischen Besatztungstruppen aus ihren Dörfern vertrieben und lebt seit Jahrzehnten in Flüchtlingslagern in Algerien.
  • 2. Überfischung von Küstengewässern durch internationale Fangflotten und Landraub durch multinationale Agrarunternehmen auf Kosten der KleinfischerInnen und Kleinbauern/-bäuerinnen.