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Ein Gigant verschwindet

Abschied von Edouard Glissant (1928-2011)

Am 3. Februar 2011 starb der martinikanische Schriftsteller Edouard Glissant in einem Pariser Krankenhaus. Obwohl er mit seinen Büchern kein Massenpublikum erreicht hat, war Glissant einer der ganz Großen der karibischen und der französischen Literatur. Im folgenden Beitrag erinnert der jüdisch-palästinensische Autor Ilan Halevi an Edouard Glissant und stellt ihn in eine Reihe mit den beiden anderen großen Intellektuellen aus Martinique: Frantz Fanon (1925-1961) und Aimé Césaire (1913-2008). Obwohl es von keinem so formuliert wurde, hatten die drei ein gemeinsames Lebensprojekt, an dem sie mit unterschiedlichen Zugängen konsequent arbeiteten: Die Entkolonisierung des Denkens.

Ilan Halevi

Er war ein unglaublich wortreicher Romanschriftsteller, Dichter, Essayist und Philosoph, aber auch von Beginn seiner Jugend an ein unermüdlich engagierter Bürger, der in vielerlei Kämpfen an unterschiedlichen Fronten aktiv war, und er hinterlässt neben der Trauer seiner Angehörigen ein unermessliches Werk, das zwar anerkannt, aber nicht sehr bekannt ist. Dessen Wichtigkeit und Relevanz für den Versuch, die Welt – unsere Chaos-Welt – verständlich zu machen, wird zweifellos eines Tages erkannt werden. Martinique, die kleine Insel der südlichen Antillen, deren UreinwohnerInnen, die indigenen Kariben, im ersten Jahrhundert der kolonialen Eroberung bis auf den letzten Mann umgekommen sind, ist zu 80 Prozent mit Nachkommen afrikanischer SklavInnen bevölkert, die sich in unterschiedlichem Maße mit ihren „Besitzern“ (Herren und Vorarbeiter, die aus Frankreich gekommen waren) vermischt haben. Die Sklaverei wurde zwar während der Französischen Revolution infrage gestellt, jedoch erst 1848 abgeschafft. Das Gebiet wurde erst 1946 zum französischen Überseedepartement. Heutzutage erreicht die Bevölkerung der Insel knapp 400.000 EinwohnerInnen.

Die Insellage hätte dieses Schnipselchen des französischen Imperiums zur Provinzialität verdammen können. Trotzdem hat es eine Reihe von beeindruckenden KünstlerInnen und originellen SchöpferInnen hervorgebracht, sowohl DichterInnen und RomanschriftstellerInnen als auch DenkerInnen, darunter drei weltweit bedeutende Giganten, die alle drei auch mehr oder minder derselben Generation angehören: Aimé Césaire, Frantz Fanon und Edouard Glissant.

Der erste, Gymnasiallehrer und Autor von „Notizen von einer Rückkehr in die Heimat“, verkündete darin 1939: „Es ist schön und gut, Neger zu sein“, und schuf damit das Konzept der Négritude, das den Atlantik wieder zurücküberqueren sollte, in umgekehrter Richtung zur Sklavenverschleppung. Dieses Konzept wurde von seinem Kollegen und Freund Léopold Sedar Senghor, dem senegalesischen Dichter und späteren Präsidenten seines Landes, aufgegriffen und wiederangeeignet. 1948 schreibt Césaire den Essay „Über den Kolonialismus“, den die Jugend in den französischen Kolonien Afrikas später auswendig lernt. Für André Breton war er der größte französischsprachige Dichter des 20. Jahrhunderts. Als Bürgermeister der Hauptstadt Fort-de-France, als Abgeordneter und politischer Führer der „Autonomie“-Bewegung wurde er von seinen Landsleuten mehr als vier Jahrzehnte lang immer wieder gewählt.

Der Zweite ist zweifellos der Bekannteste, vor allem wegen seines Werks „Die Verdammten dieser Erde“ (der Begriff ist bewusst vom Text der „Internationalen“ hergeleitet). Tatsächlich wird dieser Spross Martiniques zum jugendlichen Überläufer in einem aufrührerischen Akt gegen die Marine des Vichy-Regimes, dieser brillante und zutiefst innovative Psychiater, der in französischen und später algerischen Kliniken „die Einheit des kolonialen Traumas“ entdeckt, schließt sich der algerischen Unabhängigkeitsbewegung FLN an und wird zum Chefredakteur ihres offiziellen Organs, El Moujahid. Fanon wird zu Recht oder zu Unrecht, als Theoretiker der Befreiungskämpfe der Völker der „Dritten Welt“ bezeichnet, und sogar als Apologet des bewaffneten Kampfes, der er sich er nicht war, weil er kurz nach Veröffentlichung dieses letzten Werks und kurze Zeit vor der Unabhängigkeit Algeriens stirbt. Er ist außerdem Autor des 1952 erschienenen „Schwarze Haut, weiße Masken“, eines einzigartigen und hellsichtigen Buches über das Verhältnis zwischen den „Rassen“ und hat unzählige Essays und Artikel veröffentlicht.

Im Jahr 1958 gewinnt der junge Dichter Edouard Glissant für seinen Roman „La Lézarde“ (dt. „Die Sturzflut“) den angesehenen Literaturpreis Renaudot und wird auf Anhieb berühmt. Er wandelt auf den Spuren Fanons in Algerien, kehrt zu den Antillen zurück, ist politisch aktiv auf Guadeloupe und wird in Frankreich unter Hausarrest gestellt; während dieser ganzen Zeit schreibt er Romane, Essays und Gedichte. Er lehrt an verschiedenen Universitäten auf der ganzen Welt, hält Vorträge und moderiert internationale Kulturevents, ist als Präsident des Schriftstellerparlaments tätig und verfolgt vor allem die Suche nach einer anthropologischen und philosophischen Ordnung, die in den 1980er Jahren mit den Konzepten der Tout-Monde („All-Welt“) und der „Kreolisierung“ ihren Höhepunkt erreicht (die hier darzustellen den Rahmen sprengen würden). Beeinflusst vom Dekonstruktivismus eines Gilles Deleuze und Félix Guattari, die das Bild des Rhizoms1 vertreten, erschafft Glissant – in einer noch herrlicheren Sprache – eine Theorie der Beziehung von universeller Reichweite. Nebenbei entledigt er sich ein wenig der quasi-väterlichen Erbschaft von Césaire: Die créolité, das Kreolische, Kreolisierte, das offen zur Welt ist, ist nicht die négritude. Sie ist auf eine gewisse Art deren Negierung. „Das Kreolische“, schreibt nun Glissant, „ist eine Spur, die sich in die französischen Wörter reingejazzt hat“. Aber er erzählt später davon, wie ihn einer seiner sizilianischen Freunde darauf hinweist, wie die Erzählweise seines Dialekts dem Italienischen ähnelt. Und an anderer Stelle bekräftigt er, dass er von nun an „in Anwesenheit aller Sprachen der Welt“ schreiben wird.

Edouard Glissant hinterlässt ein gewaltiges Erbe, das seine Erben, angefangen bei seinem Freund Patrick Chamoiseau, Preisträger des Prix Goncourt für seinen Roman Texaco und Ko-Autor zusammen mit Glissant von zahlreichen Texten und Manifesten in den letzten Jahren, in den nächsten Jahren entschlüsseln werden, während sie darauf warten, dass der unverwechselbare Platz, den er im Abenteuer der Intelligenz der Lebewesen und der Dinge eingenommen hat, vor den Augen aller explodiert.

  • 1. Die Bonner Kulturinitiative Rhizom definiert Rhizom folgenderrmaßen: „Ein Rhizom ist ein Wurzelgeflecht, das sich scheinbar chaotisch ausbreitet, das ständig neue Verästelungen und Verknüpfungen bilden kann und an unvorhergesehenen Stellen austreibt und an die Oberfläche drängt.“ vgl. http://rhizom-bonn.de