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Die Erfindung der „halben Verjährung“

Chiles Umgang mit der Vergangenheit

Anders als in Argentinien oder Uruguay, wo die Initiativen zur Aufklärung der Diktaturverbrechen und Bestrafung der Verantwortlichen Massenbewegungen sind und inzwischen auch von den Regierungen unterstützt werden, heften die der rechtslastigen Medien und das politische Establishment der kleinen, aber sehr aktiven chilenischen Menschenrechtsbewegung das Etikett der ewig Gestrigen an. Andererseits gibt es im Bereich der juristischen Aufarbeitung des Staatsterrorismus der Jahre 1973-89 durchaus Fortschritte, die Zahl der verurteilten Täter ist höher als in Argentinien oder Uruguay. Allerdings ist die chilenische Justiz sehr einfallsreich, wenn es darum geht, verhängte Haftstrafen zu reduzieren oder verurteilte Täter auf freien Fuß zu setzen. Die Deutsch-Chilenin Beatriz Brinkmann, die selbst 1986/87 politische Gefangene war und seit 1989 kontinuierlich in der Menschenrechtsarbeit aktiv ist (vgl. ein Lebenswege-Interview mit ihr in ila 194), stellt im folgenden Beitrag dar, wie schwer sich die chilenische Gesellschaft mit der Aufarbeitung der Diktaturverbrechen tut.

Beatriz Brinkmann

Die Aufarbeitung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit – wie Folter, gewaltsames Verschwindenlassen und willkürliche oder außergerichtliche Hinrichtungen – beinhaltet eine Problematik, die nicht nur auf die juristische und politische Dimension zu beschränken ist. Es müssen zum Beispiel auch soziale und ethische Aspekte berücksicht werden, da es sich um Verbrechen handelt, die gegen die menschliche Würde gerichtet sind. Und eben weil ein wesentlicher Aspekt des Menschen verletzt wird, seine Würde, werden sie als Verbrechen gegen die Menschlichkeit betrachtet, die nicht nur das direkte Opfer, sondern die gesamte Gesellschaft betreffen.

Aus demselben Grund hat die internationale Gemeinschaft über besondere Konventionen für diese Verbrechen jede Möglichkeit einer Rechtfertigung derselben ausgeschlossen und Wiedergutmachungsmaßnahmen vom dafür verantwortlichen Staat gefordert. Zu diesen gehört sowohl die gerichtliche Bestrafung der für die Verbrechen Verantwortlichen als auch die Wiederherstellung der menschlichen Würde der Opfer, eine Verantwortung, die von den drei Staatsgewalten erfüllt werden muss. Mit anderen Worten, es ist eine gesellschaftliche Aufarbeitung der verbrecherischen Vergangenheit notwendig, was bisher in Chile in keiner Weise geschehen ist.

Im Gegensatz zu Argentinien oder Uruguay, wo heute allgemein von Staatsterrorismus gesprochen wird, wenn man sich auf die Zeit der jeweiligen Diktaturen bezieht, benutzt man in Chile weiterhin Euphemismen wie „Autoritarismus“ oder „die Ereignisse zwischen 1973 und 1989“.
Alles was bisher im Bereich der gerichtlichen Verfolgung der Menschenrechtsverletzer erreicht werden konnte, ist den unermüdlichen Bemühungen der Verbände der Angehörigen von Verschwundenen und der Angehörigen von aus politischen Gründen Hingerichteten zu verdanken sowie jenen RechtsanwältInnen, die seit Jahrzehnten darum bemüht sind, die Fälle nicht nur vor Gericht zu bringen, sondern möglichst auch eine Verurteilung der Täter zu erreichen.

Alle staatlichen Bemühungen sind bisher in die entgegengesetzte Richtung gelaufen, will sagen, eine möglichst weitgehende Straffreiheit für die Verantwortlichen der Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu gewährleisten. Erinnert sei nur an die Ankündigung einer Gerechtigkeit „im Rahmen des Möglichen“ des ersten Post-Diktatur-Präsidenten Patricio Aylwin oder an die Bemühungen seines Nachfolgers Eduardo Frei, die Auslieferung Pinochets aus England nach Spanien zu verhindern und ihn nach Chile zurückzubringen, sowie danach von Ricardo Lagos, um die versprochene gerichtliche Verfolgung des ehemaligen Diktators in Chile zu behindern, mit dem Erfolg, dass dieser keinen einzigen Tag im Gefängnis verbringen musste.

Nichtsdestotrotz sind einige wenige staatliche Maßnahmen zu verzeichnen, die dazu beitrugen, jahrelang stagnierende Prozesse voranzutreiben, manche Fälle aufzuklären und eine nicht geringe Anzahl von Menschenrechtsverletzern hinter Gitter zu bringen, selbst wenn es sich für die meisten von ihnen um einen besonderen „goldenen Käfig“ handelt.1 Zu diesen wichtigen Maßnahmen – möglicherweise mit weitreichenderen Folgen als beabsichtigt – gehört die Ernennung von Sonderrichtern zur Untersuchung der Fälle von Verschwundenen, was sich mit der Zeit auch auf Ermordete ausweitete. Manche dieser ab 2001 ernannten, meist jungen RichterInnen leisteten eine hervorragende Arbeit, bei der sie von einer besonderen Abteilung der Kriminalpolizei, der 2004 gegründeten „Brigade zur Untersuchung von Delikten gegen die Menschenrechte“ (Brigada Investigadora de Delitos contra los Derechos Humanos) entscheidend unterstützt wurden.

So konnte im Jahr 2007 unter anderem ermittelt werden, dass die 1976 verhafteten und seitdem als verschwunden geltenden Mitglieder der Leitung der Kommunistischen Partei in ein Haus im Stadtteil La Reina in Santiago verbracht worden waren, wo sie gefoltert und getötet wurden, um sie anschließend von Hubschraubern aus ins Meer zu werfen. Die Existenz dieses Folter- und Vernichtungslagers, das keiner der dort Gefangenen lebend verlassen konnte, war bis dahin unbekannt gewesen.

Gleichzeitig erhielten die RechtsanwältInnen, die die Prozesse jahrelang in Erwartung günstigerer Bedingungen offen gehalten hatten, die Unterstützung der RechtsanwältInnen vom Menschenrechtsprogramm des Innenministeriums, wo sich ein von der Regierung weitgehend unabhängiges Juristenteam bildete, das sich voll und ganz für die Aufklärung der Fälle einsetzte und dabei eng mit den Verbänden der Angehörigen der Opfer zusammenarbeitete. Diese günstigen Faktoren führten dazu, dass zwischen 2001 und 2006/2007 manche Fälle aufgeklärt und gegen über 770 ehemalige Agenten der Sicherheits- und Streitkräfte Prozesse eingeleitet werden konnten.

Nach Ermittlungen vom Observatorio de Derechos Humanos der Universidad Diego Portales, das über ein monatliches Bulletin2 die zurzeit vollständigste und zugleich zuverlässigste Information über die juristische Behandlung der Menschenrechtsverletzungen liefert, gab es Ende Februar 2011 ca. 1400 offene Prozesse, mehrheitlich Fälle von Ermordungen oder gewaltsamem Verschwindenlassen.

Hierzu muss bemerkt werden, dass innerhalb eines Jahres die Zahl der laufenden Prozesse abrupt angestiegen ist, nachdem sich der Verband der Angehörigen von aus Politischen Gründen Hingerichteten (Agrupación de Familiares de Ejecutados Políticos) im Jahr 2010 begonnen hat, alle bekannten und offiziell anerkannten Fälle (ca. 1800) vor Gericht zu bringen, da bis dahin nur für einen Bruchteil von ihnen ein Verfahren eingeleitet worden war. So sind im Laufe der Monate über 740 Klagen eingereicht worden, einschließlich für den noch immer ungeklärten Tod Salvador Allendes3, die alle vom dafür zuständigen Richter angenommen wurden.

Nach Angaben des Observatorio de Derechos Humanos, das von 3195 von der Nationalen Kommission für Wahrheit und Versöhnung anerkannten Fällen von Menschenrechtsverletzungen mit Todesfolge ausgeht, sind zurzeit 66,7 Prozent laufende Prozesse, in 8 Prozent der Fälle ist der gerichtliche Weg bereits abgeschlossen, aber weitere 25,3 Prozent haben bis jetzt keinerlei Verfahren. Es sind Zahlen, die noch nicht eindeutig fest stehen, doch selbst wenn sie etwas berichtigt werden müssten, hat das Observatorio mit seiner Behauptung sicher Recht, dass wohl Chile weltweit mit der gerichtlichen Behandlung von Menschenrechtsverletzungen prozentual an erster Stelle steht.

Doch ebenso wahr ist, dass es nicht damit getan ist, die Fälle vor Gericht zu bringen. Die Internationale Gemeinschaft fordert für diese Art von Verbrechen Strafen, die der Schwere der begangenen Tat angemessen sind. Eine Forderung, die in Chile von den Gerichten in keiner Weise erfüllt wird oder nur in Bezug auf ein paar Symbolfiguren des Bösen wie dem ehemalige Chef der Geheimpolizei DINA Manuel Contreras (in über 20 Prozessen zu insgesamt mehr als 200 Jahren Haft verurteilt), die gezwungenermaßen die Rolle des Sündenbocks übernehmen mussten.

Ich erwähnte oben, dass bisher gegen über 770 ehemalige Agenten des Repressionsapparates Prozesse eingeleitet wurden. Insgesamt 230 Urteile sind bereits rechtskräftig, d.h. die Täter sind in letzter Instanz verurteilt worden. Doch weniger als ein Drittel der Verurteilten befindet sich heute in Haft. 162 von 230 Tätern sind auf freiem Fuß. Die wenigsten, weil sie ihre Strafe bereits abgesessen haben, die meisten, weil die auferlegte Haftstrafe so gering war, dass sie gar nicht erst ins Gefängnis mussten.

Obwohl in vielen Fällen die Untersuchungsrichter Verbrechen gegen die Menschlichkeit, auch Massenmorde, nachweisen konnten und den dafür Verantwortlichen Haftstrafen bis zu 15 Jahren auferlegten, die im Revisionsverfahren zumeist bestätigt wurden, hat der Oberste Gerichtshof in den letzten Jahren in praktisch allen Fällen das Strafmaß drastisch herabgesetzt, meist unter fünf Jahre, so dass überführte und verurteilte Mörder nicht ins Gefängnis mussten, sondern sich nur regelmäßig bei den Behörden zu melden brauchen.

Um nicht mit den internationalen Menschenrechtsnormen offen in Konflikt zu geraten, greift der Oberste Gerichtshof in den letzten Jahren weder auf das Amnestiegesetz noch auf das Argument der Verjährung zurück – beides wäre für Verbrechen gegen die Menschlichkeit ausdrücklich untersagt. Doch er hat eine andere, nicht ausdrücklich verbotene, juristische Figur entdeckt, die „halbe Verjährung“ (media prescripción), die ihm erlaubt, damit zu argumentieren, dass allein die seit dem Begehen der Tat bis zum Moment des Prozesses vergangene Zeit einen Strafminderungsgrund darstellt. 

So können zum Beispiel die Mörder von 15 jungen Landarbeitern in Liquiñe oder die Verantwortlichen für das gewaltsame Verschwindenlassen von 22 jungen Männern in Parral, die meisten von ihnen gleichfalls Landarbeiter, sowie der Mörder des spanischen Priesters Joan Alsina weiterhin ein Leben in Freiheit genießen.

Doch dies ist nicht der einzige Weg, um hinter einer Fassade der Gerechtigkeit das ethische Anliegen der internationalen Menschenrechtsnormen zu hintergehen. In seinem Bemühen, ein vollständiges Bild der Prozesse in Sachen Menschenrechte sowie der dabei verurteilten Verbrecher zu erhalten, konnte das Observatorio de Derechos Humanos feststellen, dass sich nicht alle, die mit höheren Haftstrafen belegt wurden, diese auch tatsächlich absitzen. Ohne dass dies an die Öffentlichkeit gekommen wäre, haben bereits mehrere von ihnen „wegen guter Führung“ Vergünstigungen erhalten, die ihnen erlauben, sonntags oder öfter auch ganz nach Hause zu gehen. Fälle dieser Art sind besonders seit dem Regierungsantritt von Sebastián Piñera häufiger aufgetreten.

Insgesamt sieht das Panorama in Sachen Gerechtigkeit für die Opfer der Diktatur heute noch düsterer aus als unter den vorangegangenen Regierungen. Es ist nicht nur weiterhin mit unangemessen niedrigen Urteilen zu rechnen, sondern auch eine effektive Untersuchung der Fälle in Frage gestellt. Eine der ersten Maßnahmen von Piñeras Innenminister war, die Leiterin des Menschenrechtsprogramms, das die RechtsanwältInnen für zahlreiche Prozesse stellte, auszuwechseln. Das Juristenteam hat nun keine freie Hand mehr, sondern muss zuerst jeden geplanten Schritt mit der neuen Leiterin absprechen und absegnen lassen. Das veranlasste einige – darunter den Leiter des Teams – zu kündigen, andere wurden, sobald sie nicht mehr genehm waren, entlassen.

Zum anderen hat Piñera den langjährigen und allseits geachteten Leiter der kriminalpolizeilichen Brigade zur Untersuchung von Delikten gegen die Menschenrechte, der über eine Fülle von für die Aufklärung neuer Fälle wichtiger Information verfügt, im Januar dieses Jahres seines Amtes enthoben und ihn als Leiter einer Umweltschutzbrigade nach Aysén, in den äußersten Süden des Landes, versetzt.

Es ist offensichtlich, dass der Umgang mit der Vergangenheit in Chile und was bisher an „Gerechtigkeit“ erreicht werden konnte in keiner Weise dem entspricht, was die internationale Gemeinschaft für Verbrechen gegen die Menschlichkeit fordert. Ebensowenig könnte man sagen, dass es für die Angehörigen der Opfer und für die Folterüberlebenden eine wiedergutmachende Wirkung gehabt hätte. 
Die Tatsache, dass die Bemühungen um Aufklärung und Gerechtigkeit nicht vom Staat ausgingen noch von diesem getragen, sondern eher torpediert wurden, hatte als Nebeneffekt, dass die Gerichtsurteile weder durch soziale noch durch Maßnahmen moralischen Inhalts seitens des Staates und seiner Organe begleitet und bekräftigt wurden. Sie wurden vielmehr fast schamhaft verschwiegen. Sie passen nicht in das offiziell verbreitete und von der chilenischen Gesellschaft weitgehend (zumindest dem Schein nach) verinnerlichte Bild einer jüngsten Vergangenheit, in der zwei Dämonen – jener, der die Gewalt heraufbeschwor, und jener, der sie ausübte – die Verantwortung für die zwischen 1973 und 1990 begangenen Verbrechen tragen. Oder wie es in einem Leitartikel von El Mercurio hieß: „Wir sind alle schuld am Tod von Víctor Jara“.

Wenn wir alle schuld sind, dann gehört es sich einfach nicht, dass einige bestraft werden. Es gehört sich erst recht nicht dann, wenn das Opfer auch ein „Gewalttäter“ war. So der offizielle Gedankengang. Wo bleibt da die Wiederherstellung der menschlichen Würde der Opfer, die von der UNO gefordert wird? 

In dieser Gesellschaft, die unter dem Zeichen eines politischen und moralischen Patt steht, die die Vergangenheit möglichst vergessen möchte, sich in der Gegenwart nur an Kriterien der „Regierbarkeit“ und des „sozialen Friedens“ orientiert und einen möglichst guten Platz innerhalb der globalisierten Welt anstrebt, stellen die Verbände der Angehörigen der Opfer einen Störfaktor dar, der möglichst an den Rand gedrückt wird.

Das Ausbleiben einer sozialen Legitimierung ihres Rechts auf Wahrheit und Gerechtigkeit hat sie einer erneuten Stigmatisierung ausgesetzt, dem Image von ewig unzufriedenen Menschen, die an der Vergangenheit kleben, unfähig sind, in die Zukunft zu blicken, sich nur auf ihren eigenen Schmerz konzentrieren und von Rachegedanken getrieben werden.

Doch das Rad der Geschichte dreht sich langsam weiter und als Lichtblick ist zu verzeichnen, dass im Kampf um das soziale Gedächtnis (batallas por la memoria, wie es die Historikerin M. A. Illanes bezeichnete) nicht mehr allein die Stimmen der „Sieger“ zu hören sind, sondern auch die Stimmen der „Geschlagenen“ nach und nach an Raum gewinnen. Dies wird deutlich anhand von Büchern, Dokumentarfilmen, Seminaren an manchen Universitäten, aber auch daran, dass die Zahl der StudentInnen, die für ihre Diplomarbeit Themen der jüngsten Vergangenheit wählen und sich dabei nicht mit dem offiziellen Diskurs zufriedengeben, ständig zunimmt.

Allerdings ist es für uns weiterhin nur ein Wunschtraum, dass zur Gedenkdemonstration für die Opfer der Diktatur am 11. September offiziell über sämtliche Fernsehprogramme aufgerufen wird und der Staatspräsident sich selber daran beteiligt, wie es am 20. Mai 2010 in Uruguay mit der Marcha del Silencio geschah. Zuerst müssen wir erreichen, dass der Staatsterrorismus wirklich als Staatsterrorismus anerkannt und auch so genannt wird.

  • 1. Sie befinden sich in den eigens für sie eingerichteten Haftanstalten „Punta Peuco“ und „Cordillera“, wo sie Privilegien genießen, die sonst kein Strafgefangener hat.
  • 2. http://www.icso.cl/observatorio-derechos-humanos
  • 3. Es gibt glaubwürdige Stimmen, die versichern, Allende habe nicht Selbstmord begangen, sondern sei ermordet worden.