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Lernprozesse eines Kirchenmannes

Helmut Frenz erinnert sich an seine Zeit in Chile (1965-75)
Gert Eisenbürger

Anfang der sechziger Jahre wurde es dem evangelischen Pfarrer Helmut Frenz im Wirtschaftswunder-Deutschland zu eng. Deshalb nahm er 1965 die Pfarrstelle in der deutschen Gemeinde von Concepción in Chile an. Es sollten zehn ereignisreiche Jahre werden, in denen er als Pfarrer und später Bischof seiner Kirche im Zentrum politischer und innerkirchlicher Auseinandersetzungen stand. Nun hat Helmut Frenz in dem Buch „...und ich weiche nicht zurück“ seine Erinnerungen an jene Jahre niedergeschrieben. Sie reflektieren nicht nur seine persönlichen Entscheidungen und Haltungen, sondern thematisieren auch die politischen Prozesse und Auseinandersetzungen der Jahre 1970 bis 1975 in Chile aus der Sicht eines darin immer stärker involvierten Christen.

Die kleine evangelisch-lutherische Kirche Chiles war die religiöse und soziale Heimat der deutschen EinwanderInnen. Die Gottesdienste und Gemeindeveranstaltungen fanden in deutscher Sprache statt, es wurde ein „Deutschtum“ gepflegt, das – vorsichtig ausgedrückt – obrigkeitsstaatlich geprägt war. Mit der chilenischen Gesellschaft hatte diese Kirche nichts zu tun. So war es auch kein Problem, dass der neue Pfarrer zunächst kein Spanisch sprach. Für seinen Wirkungskreis im deutschen Getto war das ohnehin nicht vonnöten. Doch Helmut Frenz behagte das nicht und er belegte einen dreimonatigen Sprachkurs an einer theologischen Hochschule in Buenos Aires, wo er nicht nur Vokabeln und Grammatik lernte, sondern auch etwas vom kirchlichen Aufbruch Lateinamerikas jener Tage mitbekam.

Ausgestattet mit den neuen Sprachkenntnissen begann er sich mit seiner chilenischen Umgebung zu beschäftigen. Eine Nachbarin, die als Jugendrichterin arbeitete, motivierte ihn und einige Gemeindemitglieder, sich um die Betreuung inhaftierter Jugendlicher zu kümmern. Langsam sprach es sich in Concepción herum, dass der evangelische Pfarrer aus Deutschland ein offenes Ohr für die gesellschaftlich Ausgegrenzten hatte. Als es 1970 zu einer von den Kommunisten initiierten Landbesetzung kam, war er erstmals politisch gefordert. Im Campamento Lenín lebten sechshundert Familien. Die Landbesetzung galt den bessergestellten BürgerInnen Concepcións, wozu auch die Mitglieder der evangelischen Gemeinde gehörten, als Skandal. Eines Tages stand eine Frau vor der Tür des Pfarrhauses. Sie kam aus dem Campamento Lenín und berichtete, in der Nacht zuvor seien zwei ihrer Kinder gestorben. Sie wünschte sich ein christliches Begräbnis und da kein katholischer Priester dazu bereit war, bat sie den evangelischen Pfarrer Frenz um diesen Christendienst. Als er ins Lager kam und sah, unter welch prekären Bedingungen die BesetzerInnen lebten, warb er in seiner Gemeinde um Unterstützung. Man einigte sich darauf, ein Gemeinschaftshaus im Campamento zu errichten, das Schutz bei Kälte und Regen bot, außerdem Räume für soziale Aktivitäten und medizinische Betreuung. Während sich einige Gemeindemitglieder dafür stark engagierten, kritisierten manche den „roten Pfarrer“, weil er die Kirche in politische Aktivitäten hineinzöge.

Im September 1970 gewannen Salvador Allende und die linke Unidad Popular (UP) die Präsidentschaftswahlen. Wenig später fand die Synode der evangelisch-lutherischen Kirche statt, auf der die Wahl eines neuen Oberhauptes anstand. Die nur einige Tausend Mitglieder und knapp zwanzig Pfarrer zählende Kirche hatte keinen hauptamtlichen Bischof, sondern ein Gemeindepriester übte gleichzeitig das Bischofsamt aus. Auf der Synode wurde der erst 37 Jahre alte Frenz zum neuen Bischof gewählt. Mit seiner Frau und den sechs gemeinsamen Kindern zog er nach Santiago, wo er Pfarrer der dortigen Erlösergemeinde wurde und sein Bischofsamt antrat. Während die meisten Kirchenmitglieder die Allende-Regierung zunehmend kritisch sahen, hatte ihr Bischof Sympathien für viele ihrer Maßnahmen, vor allem im sozialpolitischen Bereich. Als sich die Situation 1972/73 immer weiter zuspitzte und ein Bürgerkrieg im Bereich des Möglichen lag, sehnte ein Großteil der evangelischen Kirchenmitglieder einen Militärputsch regelrecht dabei.

In seinem Buch blickt Helmut Frenz nicht nur auf diese Zeit zurück, sondern dokumentiert auch Predigten, Texte und Dokumente aus den Monaten vor und nach dem Putsch. Sie zeigen, dass er 1973 zunächst keine klare politische Position hatte, aus heutiger Sicht bezeichnet er selbst seine damalige Haltung als politisch naiv. Unmittelbar nach dem Putsch vom 11. September 1973 schrieb er einen Brief an Freunde in den Gemeinden und in Deutschland, in denen er die Meinung vertrat, der Staatsstreich sei wahrscheinlich die einzige Möglichkeit gewesen, einen Bürgerkrieg zu verhindern. Das chilenische Militär mit seiner langen demokratischen Tradition würde sicher keine Diktatur errichten, sondern die Verfassung verteidigen, Wahlen abhalten und die Macht an eine gewählte Regierung abgeben. Zugleich warnte er vor Racheakten und forderte die Einhaltung der Menschenrechte. Doch recht schnell wurde ihm klar, dass die Junta um Augusto Pinochet keineswegs die Verfassung und die Menschenrechte respektieren, sondern sehr wohl eine Diktatur errichten und die Linke politisch und physisch vernichten wollte. Bereits in seinem zweiten Brief an seine Freunde wies Frenz auf Menschenrechtsverletzungen hin, wobei er immer noch schrieb, diese würden in den europäischen Medien übertrieben dargestellt.

Schon vor dem Putsch hatte sich Frenz in der Flüchtlingsarbeit engagiert. Nach den Machtübernahmen des Militärs in Brasilien, Bolivien und Uruguay hatten Tausende politischer AktivistInnen aus diesen Ländern in Chile Zuflucht gesucht. Die UP-Regierung nahm sie auf, es fehlte aber an der sozialen Infrastruktur, die vielen Flüchtlinge zu unterstützen. Neben der jüdischen Gemeinde, der katholischen und der orthodoxen Kirche beteiligte sich auch die evangelisch-lutherische Kirche an der Unterstützungsarbeit für die Flüchtlinge, die vom UN-Hochkommissariat UNHCR finanziert und koordiniert wurde. Nach dem Putsch waren die geflohenen LateinamerikanerInnen extrem gefährdet, da sie sofort ins Visier der Soldateska gerieten. Mehrere wurden festgenommen und gefoltert und gleich in den ersten Tagen des Putsches ermordet. Die chilenischen UnterstützerInnen der Exilierten waren extrem besorgt und wandten sich an die ausländischen Botschaften. Nachdem sich verschiedene europäische Länder bereiterklärt hatten, Kontingente dieser Flüchtlinge aufzunehmen, ließen die Verfolgungen nach und die Militärjunta sagte zu, die LateinamerikanerInnen unbehelligt ausreisen zu lassen. Doch es ging längst nicht mehr nur um die ausländischen Exilierten in Chile. 

Täglich wurden die in der Flüchtlingsarbeit tätigen kirchlichen Organisationen mit den Folgen des Terrors des Militärregimes konfrontiert. Neben dem Flüchtlingskomitee gründete man ein Comité Pro Paz (Komitee für den Frieden), das verfolgte ChilenInnen und deren Familien betreute. Das hieß zunächst vor allem, mit Botschaften zu verhandeln, um sie davon zu überzeugen, Verfolgten Zuflucht zu gewähren, und Angehörigen zu helfen, den Aufenthaltsort ihrer verhafteten und verschleppten Familienmitglieder zu ermitteln. Im Buch beschreibt Frenz sehr anschaulich die Lage in den ersten Wochen und Monaten nach dem Putsch, in denen er wiederholt seine Autorität und den Status seines Bischofsamtes nutzen musste, um Verfolgte durch Militärkontrollen zu schleusen und sie an sichere Orte, das waren vor allem Botschaften und diplomatische Vertretungen, zu bringen. Die täglichen Berichte jener, die Verhaftung und Folter erlebt hatten, und der verzweifelten Angehörigen raubten ihm die letzten Illusionen über den Charakter des Putschs und machten ihn zu einem entschiedenen Gegner des Pinochet-Regimes.

Das Engagement Frenz' im Comité pro Paz und seine in Predigten und Rundschreiben immer deutlicher artikulierte Kritik an der Militärjunta riefen die konservativen Kräfte innerhalb der evangelischen Kirche auf den Plan. Sie warfen Frenz linke Propaganda vor. Unterstützt wurden sie dabei von rechten deutschen Kreisen, die zuvor in der Kirche nie in Erscheinung getreten waren, nun aber auf Gemeindeversammlungen auftauchten, um Stimmung gegen die Menschenrechtsarbeit des Bischofs zu machen. Doch die Kritik vermochte Frenz nicht zu stoppen. Im Gegenteil, er verstärkte sein Engagement noch. Unterstützung fand er dafür beim Weltkirchenrat, bei lutherischen Institutionen in den USA, der Evangelischen Kirche in Deutschland, dem damaligen deutschen Bundespräsidenten Gustav Heinemann und dem US-Senator Edward Kennedy. Womöglich war es der Intervention Heinemanns zu verdanken, dass schließlich auch die bundesdeutsche Botschaft in Santiago, die Asylsuchende zunächst kategorisch abgewiesen hatte, Verfolgten ihre Türen öffnete, als andere europäische Botschaften das schon lange getan hatten.

Unterdessen intensivierten in Chile die innerkirchlichen GegnerInnen ihre Angriffe auf den „roten Bischof“. Als ein Versuch, Helmut Frenz als Bischof abzusetzen, auf der Synode im November 1974 keine Mehrheit fand, verließ ein Teil der Gemeinden die evangelisch-lutherische Kirche und gründete die „Lutherische Kirche in Chile“, die sich um ein gutes Verhältnis zur Diktatur bemühte. Die versuchte nun ihrerseits, Helmut Frenz mundtot zu machen. Als er im Oktober 1975 bei einer Konferenz des Weltkirchenrates in Genf weilte, verkündete das Militärregime seine Ausweisung. Er durfte nicht mehr nach Chile zurückkehren. Zum Schweigen brachte es Helmut Frenz damit freilich nicht. Im Jahr nach seiner Ausweisung wählte ihn die bundesdeutsche Sektion von amnesty international zu ihrem Generalsekretär. Und seine Stimme gegen die Verbrechen von Diktaturen und für die Verteidigung von deren Opfern wurde mehr denn je zur Kenntnis genommen.

Helmut Frenz: „...und ich weiche nicht zurück“. Chile zwischen Allende und Pinochet: Ein Pfarrer und Menschenrechtler erinnert sich, Verlag des Gustav-Adolf-Werks e.V., Leipzig 2010, 336 Seiten, 12,- Euro