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Die untergegangenen Wandbilder von Port-au-Prince

Fotoband zu Politik und Straßenkunst in Haiti
Britt Weyde

Als der der haitianische Diktator Jean-Claude Duvalier („Baby Doc“) 1986 gestürzt wurde und sich ins französische Exil absetzte, gab es auf den Straßen der Hauptstadt Port-au-Prince eine überbordende Freudenfeier. Der Londoner Antiquar und Fotograf Pablo Butcher, der Land und Leute schon von vorherigen Reisen kannte, begab sich aus diesem Anlass erneut nach Port-au-Prince. Er kam nachts an und nahm trotz seines jetlagbenebelten Kopfes Fragmente von frisch gemalten Wandbildern wahr. Einige Tage später beteiligte er sich an einer Demonstration von ehemaligen politischen Gefangenen, die plötzlich von Duvalier-Anhängern beschossen wurde. Um sich zu schützen, flüchtete der Fotograf in eine Seitenstraße und blickte unverwandt ins Antlitz des großen haitianischen Freiheitskämpfers Jean-Jacques Dessalines, der 1804 die Unabhängigkeit Haitis verkündet hatte. „Nie zuvor hatte ich auf den Straßen der Stadt ein Bild gesehen, das so viel Stärke und intensive Schönheit ausstrahlte“, erinnert sich Pablo Butcher in der Einleitung seines Fotobandes.

Von da an nahm er sich vor, die Wandbilder von Port-au-Prince zu dokumentieren – ein „Kampf gegen die Zeit“, denn die Malereien, die häufig scheinbar aus dem Nichts heraus entstanden waren, verschwanden oft genauso plötzlich – aufgrund von Renovierungsarbeiten, Zensur, privaten Interessen oder auch witterungsbedingt durch tropische Regengüsse.

Die Umwelt war es denn auch, die diese wunderbaren Wandmalereien fast sämtlich vernichtet hat: Das Erdbeben vom 12. Januar 2010 hat neben Menschenleben, neben Bausubstanz und Infrastruktur auch diese Kunstwerke zugrunde gerichtet. Die in dem Bildband versammelten 146 Farbfotografien von haitianischen Wandbildern, die zwischen 1986 und 1995 aufgenommen wurden, stellen somit ein einzigartiges zeitgeschichtliches Dokument dar.

Geschichtsunterricht, politischer Kommentar, religiöse Beschwörung – haitianische Wandmalereien übernehmen all diese Funktionen, vor allem senden sie eine „großartige Botschaft von Freiheit und Gerechtigkeit“, so der Fotograf, der den Grund für den Erfolg der Wandbilder darin sieht, dass die Bevölkerung die Symbolik der Bilder lesen und den Gehalt der Botschaften verstehen kann. 

Die erste Welle von Wandbildern entstand aus dem Kampf gegen die Duvalier-Diktatur und fand ihren Höhepunkt im Jahr 1986. Nachbarschaftskomitees brachten Farbe oder Geld auf, um die Arbeit von Künstlerkollektiven zu ermöglichen; einzelne Künstler hinterließen unter ihren Werken Name und Telefonnummer für eventuelle zukünftige AuftraggeberInnen. Der Kampf gegen die Tontons Macoutes, die Todesschwadronen des Duvalier-Regimes ist ein häufig wiederkehrendes Motiv aus dieser Phase der Wandkunst. Von „Baby Docs“ Sturz erhofften sich viele einen Neuanfang. Dabei stehen die großen Unabhängigkeitskämpfer der haitianischen Geschichte Pate und blicken Ehrfurcht gebietend von den Wänden herab. Die Farben der haitianischen Flagge, rot und blau, die gleichzeitig Symbolfarben für nationale Selbstbestimmung und Freiheit sind, dominieren auf vielen Bildern. 

In den Jahren 1990/1991, nachdem der Hoffnungsträger Jean-Bertrand Aristide gewählt worden war, bekamen die Wandbildkünstler erneut Auftrieb und verbreiteten dezidierte politische Statements. Auch Aristide selbst, seines Zeichens befreiungstheologisch inspirierter Führer der Lavalas-Partei, wird auf zahlreichen Porträts auf den Wänden „verewigt“, nicht selten in Verbindung mit christlicher Symbolik oder gar direkt neben Jesus Christus selbst. Auch die andere auf Haiti wichtige Religion, der Vodou, findet seinen Niederschlag in der Wandkunst: Geister (lwa), die die Verbindung zu den Göttern herstellen, wie etwa Baron Samedi, der Geist des Todes, oder Ezili-Dantò, die Beschützerin der Unterdrückten und Misshandelten, die als (schwarze) Madonna mit Kind dargestellt wird.

 Am häufigsten, zumindest auf den im Fotoband gezeigten Wandbildern, ist jedoch der kòk kalite, der „Kampfhahn“ zu sehen. Der Hahn ist ein komplexes Symbol (nicht nur auf Haiti): Es kann der potente (und aggressive) Hahn im äußerst populären Hahnenkampf gemeint sein, somit auch Ausdruck einer ziemlich ausgeprägten Macho-Kultur; der Hahn spielt aber auch im Vodou-Pantheon verschiedene Rollen, sei es der rote Hahn, der die Macht des Krieger-lwa Ougou, Kraft und Erneuerung, symbolisiert, oder der bunte Hahn, der für den lwa Legba geopfert wird und den Weg zu den Göttern weist. Gleichzeitig ist der Hahn Symbol für die Lavalas-Partei, der den WählerInnen, die nicht lesen können, zeigt, wo sie ihr Kreuzchen machen sollen. Nicht zu vergessen: Der Hahn war auch das emblematische Tier für die Französische Revolution. An den Wänden von Port-au-Prince taucht er häufig als kämpferisches Wesen auf, das gegen die alten Mächte des Duvalierismus, die wiederum als Perlhuhn (weiblich konnotiert!) dargestellt werden, erfolgreich vorgeht. 

Aristides erste Amtszeit währte nur kurz, nach nur elf Monaten wurde er durch einen Militärputsch gestürzt. Charlemagne Célestin, einer der engagiertesten Wandmaler, musste ins Exil flüchten, andere suchten die Anonymität oder setzten nun nur noch ihr Pseudonym unter die Werke. 

Eine dritte Welle von Wandbildern ist schließlich in den Jahren 1994/1995 zu verorten. Im September 1994 brachte eine US-Militärintervention Aristide zurück ins Land und auf den Präsidentenstuhl. Eine äußerst erstaunliche Aktion, ebenso überraschend aber auch die Dankbarkeit gegenüber den USA (die ja Haiti von 1915 bis 1934 als Protektorat besetzt gehalten hatten), die in der Straßenkunst zum Ausdruck kommt. Allerdings melden sich auch skeptische Stimmen zu Wort: Das kreolische Sprichwort „Das Ei kann nicht zurück ins Huhn“ findet sich auch auf den Wänden von Port-au-Prince wieder.

Insgesamt ist dieser Bildband ein visueller Genuss und eine lehrreiche Lektüre zugleich; neben den beeindruckenden Fotos enthält er auch einen einleitenden Text des Herausgebers Carl Hermann Middelanis, in dem Hintergründe zu Geschichte, Politik und Religion kenntnisreich erläutert werden.

Carl Hermann Middelanis (Hrg.), Urban Vodou, Politique et Art de la Rue en Haïti. Editions Belin, Paris 2010, 26 Euro