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Qual é o seu time?

Grundfrage des Seins in Rio: Was ist dein Fußballverein?

Die Geburt eines Kindes ist immer ein freudiges Ereignis. Aber erblickt in Rio de Janeiro ein neues menschliches Geschöpf die Bühne des Lebens, dann läuft gleich eine ganze Kohorte von Einflüsterern auf, die nur ein Ziel haben: den zukünftigen Fußballverein des jungen Menschen zu bestimmen, insbesondere wenn es sich dabei um einen Jungen handelt. Dass das Baby nicht sprechen kann, macht ja nichts, schließlich gibt es schon Babykleidung in den Farben der Teams.

Thomas Fatheuer

Kommt ein Mensch zur Welt, ist vieles bereits festgelegt: das Geschlecht, die Nationalität, die soziale Herkunft, Augenfarbe – ja aber eines der wichtigsten Merkmale einer/s/ carioca/s (BewohnerIn von Rio) muss das Ergebnis einer Wahl sein: die Antwort auf die vielleicht am häufigsten gestellte Frage: Qual é o seu time1 – Was ist dein Verein? 

Ja, es ist eine banale und leidige Lebenserfahrung von Vätern (und Müttern): Man kann seine Vereinsvorliebe nicht einfach vererben. Leider ist ein Kind von Geburt an vielfältigen Einflüssen ausgesetzt, die seine Teamwahl beeinflussen. Meisten beginnt das Drama ja schon in der Kleinfamilie, denn die Qual é o seu time-Frage beantworten auch fast alle Frauen mit Bestimmtheit und Leidenschaft – und nur allzu oft anders als der Ehemann. Und so beginnt das Ringen und Ziehen zumeist schon im trauten Heim.

Vier Teams in Rio stehen dem Neugeborenen zur Auswahl: Botafogo, Flamengo, Fluminense und Vasco – die vier Großen. Natürlich gibt es noch die Gefahr von Dissidenz, etwa ein Team aus São Paulo zu wählen (FC Santos oder Corinthians) oder einen der kleinen Vereine (America oder Bangu), aber das ist doch sehr selten und weit entfernt vom elterlichen Albtraum: Der Sohn oder die Tochter wird zum Fan des großen Rivalen.

Mein Sohn Yanis zog im Alter von sechs Monaten nach Rio, jung genug, um als carioca da gema (geborener Carioca) akzeptiert zu werden. Die familiäre Situation war ideal, Mutter und Vater für denselben Verein: Flamengo. Aber ein Gringo wurde da nicht so ernst genommen und so verstärkte die Umwelt ihre Einflussversuche. Kaum konnte der Kleine sprechen, wird ihm ununterbrochen die Grundfage der carioca-Existenz gestellt: Qual é o seu time? Ich war überrascht über die Menge der Gefahren für die junge Seele. Die Kindergärtnerin (Fluminense), der Gärtner des Kindergartens (Vasco), der Bäcker (Vasco, klar), der Mann vom Zeitungskiosk (Flamengo, endlich), die lieben Nachbarn. Aber auch viele Kurzkontakte (Taxifahrer) versuchen ihr Glück, indem sie ihr jeweiliges Team als das beste, schönste usw. darstellen. Alle wissen: Die Entscheidung fällt bald. Es gilt als Zeichen extremer Charakterschwäche, ein einmal gewähltes Team zu wechseln. Denn die Grundeigenschaft des Torcedors (Fans) ist die Leidensfähigkeit. Die Wahl des Teams besiegelt eine Freud-und-Leid-Beziehung, die gerade durch das Leiden an Tiefe gewinnt. Denn ein Grundsatz des brasilianischen Fußballs lautet: Torcedor e sofredor – der Fan ist ein Leidender.

Nun, was aber steht dem jungen Carioca da zur Auswahl? Wie unterscheiden sich die „Vier Großen“ von Rio? Auf einem Indoor-Fußballplatz für Kinder sind die vier typischen jugendlichen Fans von Rio angemalt: Der Fan von Flamengo ist schwarz, der von Botafogo trägt eine Brille, der kleine Anhänger von Fluminense ist weiß und offensichtlich Mittelschicht, der von Vasco am schwierigsten einzuordenen, die Zeichnung will wohl einen Sohn portugiesischer ImmigrantInnen darstellen.

Flamengo (Flamenguistas) ist ohne Zweifel das populärste Team Brasiliens. Mit über 30 Millionen Anhängern soll es sogar das populärste Team der Welt sein. Traditionell ist Flamengo der Verein der ärmeren Bevölkerung, des povão. Ein Reihe von Beschimpfungen spielen auf die Herkunft und Farbe des typischen Flamengistas an. So wurden sie als urubus (Schwarzgeier) bezeichnet – inzwischen ist der urubu das offizielle Symbol der Fans. In jüngerer Zeit ist die Bezeichnung mulambo, etwa Schmutzlappen, in Mode gekommen. Liegt Flamengo zurück, tönt es im Stadion: Ela, ela, ela, silencio na Favela (ela, ela, ela – Ruhe in der Favela). Aber natürlich ist heute Flamengo schon längst ein Team für alle, nicht zuletzt dank des mächtigen Medienkonzerns Globo. Berühmtester Spieler in der Geschichte des Vereins ist Zico. Die nach ihrem Trikot auch Rubro-Negro (Rot-Schwarz) genannten Fans bilden aufgrund ihrer Größe die Nação Flamengo. (Nation Flamengo).

Aber Flamengo ist nicht nur der beliebteste Verein Brasiliens – er ist auch der meistgehasste. Im Grunde gibt es, so heißt es, in Brasilien nur zwei torcidas – die von Flamengo und die gegen Flamengo.

Der traditionelle Rivale Flamengos ist Fluminense (Bezeichnung der Fans: Tricolor). Historisch ist er als Verein der Elite einzuordnen, und auch wenn sich solche Zuordnungen inzwischen überholt haben, bleibt Fluminense doch eher ein Verein der weißen Mittelschicht. Po de arroz (Reispulver) lautet ein weiterer Spitzname der Fans – aufgrund eines Vorfalls, der auf das Jahr 1914 zurückgeht. Der dunkelhäutige Spieler Carlos Alberto hatte Reispulver aufgelegt, um seine Hautfarbe aufzuhellen. Mit der Kombination von Rosa, Grün und Weiß haben die Tricolores das farbenfreudigste Trikot und mit Chico Buarque den sympathischsten Fan des brasilianischen Fußballs. Beide Faktoren sollen dazu beitragen, dass sich unter den Fans von Fluminense besonders viele Frauen finden. 2010 wurde Fluminense überraschend brasilianischer Meister, nachdem es 2009 nur ganz knapp dem Abstieg entgangen war.

Botafogo (Botafoguenses) ist wohl der Club unter den Großen Vier, der am meisten von seiner Vergangenheit lebt. Der für viele BrasilianerInnen beste und genialste Fußballspieler in der Geschichte Brasiliens (und des Universums) war Garrincha, Weltmeister von 1958 und 1962. Sein Name ist untrennbar mit Botafogo verbunden. In den letzten Jahren eher das weniger erfolgreiche Team, eignet sich Botafogo somit besonders für die sofredores, die leidenden Fußballfans. Also ein Verein für Intellektuelle, MitarbeiterInnen von NRO und unter deren Einfluss finden sich auch überraschend viele AusländerInnen beim schwarz-weißen (alvi-negro) Verein.

Vasco da Gama (Vascainos), klar identifiziert als Club der portugiesischen Einwanderer, wird aber überraschenderweise immer wieder von engagierten Mitgliedern der Schwarzenbewegung als Lieblingsverein genannt. Es soll der erste Club Rios gewesen sein, der schwarze Spieler akzeptierte. 1997 und 2000 gewann Vasco die brasilianische Meisterschaft und war damit für eine geraume Zeit das erfolgreichste Team in Rio – was neue Fans in einer bestimmten Altersgruppe einbrachte. In dieser Zeit wurde es aber auch durch eine der dubiosesten Gestalten des brasilianischen Fußballs vertreten – den reaktionären Politiker Eurico Miranda, der sich zum Beispiel offen und aggressiv gegen Frauen und Homosexuelle im Fußball äußerte. Der Schriftsteller Luis Verissimo würdigte ihn mit den Worten: „Endlich wieder ein echter Bösewicht.“

Das also steht in Rio zur Auswahl und zerrt an den jungen Erdenbürgern. Überraschend ist bei Yanis alles glatt gelaufen. Beide Eltern Flamenguistas, das war schon eine gute Ausgangsposition. Und dann kam ein unglaubliches Glück dazu. In einer entscheidenden Phase für die Wahl im Jahre 2009 wurde Flamengo (zum ersten Male seit 1992) wieder brasilianischer Meister. Da hatten die Sirenen der anderen Clubs keine Chance, zumal der beste Schulfreund sich auch als Flamenguista entpuppte.

Aber eine schwere Prüfung musste die Freundschaft mit Flamengo schon aushalten. Der Torwart Bruno, neben Adriano das große Idol der Meistermannschaft von 2009, wurde festgenommen, weil er den grausamen Mord an seiner Ex-Geliebten veranlasst haben soll. Brunos Fall war ein schwerer Schock für die jugendlichen Flamengo-Fans und deren Eltern, warf er doch auch ein Schlaglicht auf die dunklen Seiten des Fußballs in Rio: die Verbindungen von vielen Spielern mit dem organisierten Verbrechen, Sexorgien und hemmungsloser Machismo. Nur selten ist der Fußball besser als das Leben. 

 

  • 1. time (sprich timi) ist die Brasilianisierung des englischen Worts team.

Thomas Fatheuer leitete von 2003 bis Juli 2010 das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Rio de Janeiro.