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Die weiten Alleen haben sich geöffnet

StudentInnenbewegung in Chile mobilisiert breite Teile der Gesellschaft

Gut möglich, dass 2011 als das Jahr der sozialen Bewegungen in die Geschichte Chiles eingehen wird. Die Demonstrationen gegen die Wasserkraftwerke in Patagonien und die immer größer werdenden Demonstrationen für die Bildung haben zusammen mit anderen sozialen Bewegungen verschiedenster Art das Geschehen im Land beeinflusst. Die Demonstrationen für ein anderes Bildungssystem begannen am 28. April, nachdem es in einigen Universitäten punktuelle Probleme gegeben hatte. Ende August gingen in ganz Chile über eine halbe Million Menschen auf die Straße. Dabei sind Demonstrationen nicht die einzige Protestform: Hinzu kommen Besetzungen von Bildungseinrichtungen, Hungerstreiks und kreative Ausdrucksformen wie z.B. Tänze und Theateraufführungen vor einem Riesenpublikum. Immer wieder rufen die Sprechchöre: „Sie wird fallen, sie wird fallen, die Pinochet-Bildung!“ – schließlich ist das extrem ungerechte chilenische Bildungssystem noch von der Pinochet-Diktatur entworfen worden.

Isabel Cárcamo
Pedro Holz

Warum ist gerade jetzt die Bewegung für ein anderes Bildungssystem in Chile so stark geworden? Wie bei allen Fragen, die sich auf eine komplexe soziale Realität beziehen, gibt es auch hier nicht die EINE Antwort darauf. Ohne mit der Reihenfolge die Wichtigkeit der jeweiligen Gründe festzulegen, wäre zunächst die internationale Situation zu nennen. Bewegungen auf der ganzen Welt fordern mehr Demokratie für ihre Länder und finden somit auch in Chile ihren Widerhall. Hinzu kommt die Tatsache, dass in Chile zum ersten Mal seit dem Ende der Diktatur die Rechte an der Regierung ist, was gewissermaßen soziale Kräfte freigesetzt hat, die 20 Jahre lang unter den Regierungen der Concertación vor sich hindämmerten, wobei dieses Regierungsbündnis der „Mitte“ alles dafür tat, um die sozialen Bewegungen in Chile in ihrem Dämmerzustand zu halten. Schließlich ist der Erschöpfungszustand von großen Teilen der Mittelschicht zu nennen, die immer weniger die sozialen Ungerechtigkeiten im Land hinnehmen: Die Bewegung für die Bildung wird maßgeblich von der Mittelschicht getragen, die sich immer mehr für ein Bildungssystem verschuldet, das nur schlechte Qualität bietet und kaum auf das Arbeitsleben vorbereitet. 

An dieser Stelle einige Indikatoren, die die Situation des chilenischen Bildungswesens widerspiegeln: Wenn eine Tochter oder ein Sohn an der Universität studiert, bedeutet dies für die 60 Prozent der ärmsten Bevölkerungsschichten Ausgaben, die mehr als 40 Prozent des Familieneinkommens ausmachen. Die Ausgaben des Staatshaushaltes für Bildung betragen lediglich 0,5 Prozent des Bruttoinlandprodukts und sind somit die niedrigsten weltweit. Der größte Teil der Bildung (75 Prozent) wird von den Familien finanziert, die sich meist dafür verschulden müssen. Als ein positiver Aspekt ist die hohe Einschulungs- bzw. Einschreibquote im Schul- und Universitätssystem hervorzuheben, was jedoch im Gegensatz zur schlechten Qualität des Bildungsangebots steht.

Als Vorläufer der aktuellen Bewegung sind der so genannte mochilazo im Jahr 2001 zu nennen, als gegen die hohen Schulbuspreise protestiert wurde, sowie die Bewegung der „Pinguine“ (in Anspielung auf die dunkelblaue Farbe der Schuluniformen) im Jahr 2006, die der Regierung von Michelle Bachelet die Pistole auf die Brust setzte und forderte, dass endlich das Bildungsgesetz verändert werde. Die Reformen fanden nur auf dem Papier statt. Deshalb sind die Studierenden aktuell auch so misstrauisch gegenüber den Regierenden des Landes – die „Pinguine“ von gestern sind die UniversitätsstudentInnen von heute.

Die Forderungen der StudentInnenbewegung zielen auf einen tiefgreifenden Wandel des Bildungssystems ab und konzentrieren sich auf folgende Punkte:

  • Bildung soll als soziales Recht in der Verfassung verankert werden.

  • Den Universitäten des Nationalen Rektorenrates CRUCH (25 öffentliche und traditionelle Universitäten) sollten Grundbeiträge garantiert werden, über die sie frei verfügen können.

  • Privatbanken sollen nicht mehr an der Bildungsfinanzierung beteiligt sein und im gesamten chilenischen Bildungssystem soll die Gewinnorientierung beendet werden.

  • Die universitären Zugangsprüfungen sollen abgeschafft und es soll garantiert werden, dass die Bildungseinrichtungen auch wirklich qualitativ gute Bildung bieten.

  • Mechanismen, die die Organisierung der am Bildungssystem beteiligten Sektoren verhindern, sollen aus dem Weg geräumt werden.

  • Außerdem soll ein staatliches Netz für technische und berufliche Ausbildung auf allen Ebenen des Bildungssystems geschaffen werden.

  • Die Laufbahn für DozentInnen soll festgelegt werden, damit eine höhere Stabilität im Hinblick auf die Beschäftigungsverhältnisse möglich ist und ihre vertragliche Stellung verbessert wird.

  • Ein neues System soll geschaffen werden, für das das Bildungsministerium verantwortlich ist und nicht – wie bis jetzt – die Kommunen („Entmunizipalisierung“ des Bildungssystems“).

  • Die geteilte Finanzierung soll beendet werden (damit sind die Elternbeiträge gemeint).

Und schließlich sollen auch die Bildungs- und sprachlichen Rechte der indigenen Bevölkerungsgruppen garantiert werden.

Die VertreterInnen der Studierenden haben immer wieder darauf hingewiesen, dass das Ende des Profitstrebens, die Unentgeltlichkeit und die verfassungsmäßige Garantie die wesentlichen Punkte dieses Forderungskataloges sind. An dieser Stelle sollte erwähnt werden, dass selbst in den geltenden Gesetzen das Gewinnstreben in der universitären Ausbildung untersagt ist – und dennoch haben einige private Universitäten diese Vorgaben erfolgreich außer Acht gelassen. Am 3. September gab es erste Gespräche, an denen sich auch der Präsident der Republik beteiligte. Infolgedessen entwarf der Bildungsminister einen Zeitplan für eine mögliche Arbeitsgruppe. Doch die Studierenden stellten vier Bedingungen, damit sie sich an solch einer Arbeitsgruppe beteiligen: Für Transparenz sorgen, indem die Diskussion im Fernsehen oder Internet übertragen wird; keine Mittel an gewinnorientierte Institute vergeben und die Reihenfolge der Debatte abändern, indem mit den beiden Hauptthemen – Unentgeltlichkeit versus Gewinnstreben – begonnen wird; Gesetzesprojekte im Bildungsbereich zunächst einmal auf Eis legen sowie das Semesterende (das für den 7. Oktober vorgesehen ist) aufschieben. Die Regierung hat lediglich zugesagt, eine dieser Bedingungen zu erfüllen, nämlich die Transparenz der Debatte; allerdings soll sie nicht im Fernsehen übertragen werden. Am 22. September fand in Santiago eine weitere Großdemonstration mit 180 000 TeilnehmerInnen statt. Während diese Zeilen geschrieben werden, Mitte September 2011, scheint alles offen zu sein. 

Wir würden gerne drei Beispiele für soziale Organisationen vorstellen, die maßgeblich zur Entwicklung dieser massiven sozialen Bewegung der letzten vier Monate beigetragen haben. Zunächst wäre da die „Feministische Verbindung für die Entscheidungsfreiheit“ (Articulación Feminista por la Libertad de Decidir), die es seit fünf Jahren gibt und Ausdruck der Frauen- sowie der feministischen Bewegung ist. Sie beteiligte sich an den Demonstrationen zu Umweltthemen und wurde mit ihren Transparenten „Frauen auf zur Demonstration“ sowie „Weder Kapitalismus noch Machismo“ bekannt. Sie tragen lila Fahnen mit der Aufschrift „Feministin“ und als die Demonstrationen für die Bildung begannen, schwenkten sie ein Transparent mit dem Motto „Für eine kostenfreie und nicht sexistische öffentliche Bildung“. Ihre Plakate sollen auch Bewusstsein schaffen im Hinblick auf die Gewalt gegen Frauen: „Machismo tötet.“ Sie waren an allen Demonstrationen beteiligt, auch den verbotenen, die heftigen Repressionen ausgesetzt waren. Dieser Teil der Bewegung ist also nicht neu; wichtig ist die Tatsache, dass sie sich der großen Bewegung angeschlossen haben und dass nun viele Frauen daran beteiligt sind. In diesem Rahmen haben sie offene Diskussionsveranstaltungen zum Thema Bildung und Sexismus durchgeführt.

Ein weiteres Beispiel ist die Bürgerversammlung von Ñuñoa. Ñuñoa ist eine typische mittelständische Gemeinde der Hauptstadt Santiago, wobei es auch in dieser Gemeinde soziale Unterschiede und Armut gibt. Des Weiteren befinden sich dort viele Oberschulen und Universitäten. Eine Aktionsform, die neben den Demonstrationen typisch für die Bewegung wurde, ist die „Einnahme“ (sprich Besetzung) von Oberschulen und Universitätsgebäuden. Im Juli haben die OberstufenschülerInnen, die sich selbst Cordón Macul nennen (in Erinnerung an die Organisationsform der ArbeiterInnen während der Regierungszeit der linken Unidad Popular, siehe Beitrag von Alix Arnold in der ila 345), andere soziale Gruppen der Gemeinde, wie DozentInnen, Studierende und Nachbarschaftsräte, dazu eingeladen, zusammenzukommen und sich auszutauschen. So wurden die verschiedenen Vorstellungen und politischen Einstellungen sichtbar, die es in der Studierendenbewegung bzw. der Gesellschaft gibt. 

Seit zwei Monaten existiert nun diese Zusammenkunft; dabei gehört Folgendes zu ihren wichtigsten Aufgaben: die SchülerInnen bei ihren Besetzungen mit Lebensmitteln, Gasflaschen zum Löschen etc. zu unterstützen; Unterstützung bei der Bewachung der besetzten Oberschulen, um der Repression von Polizei und Gemeinde vorzubeugen; Beratung der SchülerInnen, die festgenommen oder angegriffen worden sind, durch Teams von Rechtsanwälten und MenschenrechtsexpertInnen; Verbreitung von Informationen über das Bildungssystem und die notwendige Neuerschaffung der Demokratie; Konzerte auf öffentlichen Plätzen; Demonstrationsaufrufe sowie die Aufforderung an alle NachbarInnen, jeden Abend um 21.00 Uhr auf ihre Kochtöpfe zu schlagen; Zusammenschluss mit neun anderen BürgerInnen-versammlungen aus Santiago, um einen Ort der Reflexion und des Erfahrungsaustausches zu schaffen. Dieser neuartige Raum soll die Zersplitterung überwinden und zielt auf einen gesamtgesellschaftlichen Wandel. Die Beteiligten haben klargestellt, dass sie diese BürgerInnenversammlung unabhängig von der Bildungsbewegung als einen Raum aufrechterhalten wollen, der sich von dem Wirtschaftsmodell und dem autoritären politischen System, das die Diktatur hinterlassen hat, lossagt.

Schließlich wäre noch „Demokratie für Chile“ zu nennen, ein Zusammenschluss aus dem Großraum Santiago, der aus der Mobilisierung für Umweltthemen hervorgegangen ist und nun die sozialen Zusammenhänge zu festigen sucht. Zurzeit gehören 59 unterschiedliche soziale Organisationen dazu, von Gewerkschaften über feministische Gruppen, Stadtteilvereinigungen, kulturelle und queere Gruppen bis hin zu KleinstunternehmerInnen. Auch dieser Zusammenschluss sucht den Wandel, den Chile so dringend benötigt, benennt Probleme und sucht nach Lösungen; außerdem unterstützt er soziale Bewegungen wie den Streik im Gesundheitswesen, die Kampagne für kostenfreie und sichere Abtreibung und eben auch die aktuelle Studierendenbewegung.

Übersetzung: Britt Weyde