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Tim, Tom und Mary

Ein Buch über Kinder, Flucht und Exil
Gert Eisenbürger

Für Kinder ist die Erfahrung von Flucht und Exil besonders verstörend. Während Erwachsene wissen, warum sie ihren bisherigen Lebensraum verlassen, und diese Entscheidung bewusst – wenn auch häufig sehr verzweifelt – treffen, verstehen Kinder oft nicht oder nur ansatzweise, warum sie aus ihrer gewohnten Umgebung und von ihren FreundInnen wegmüssen. Zudem befinden sich ihre Eltern in einer extremen Ausnahmesituation und sind durch die Organisation der Flucht und das Zurechtfinden im Asylland äußerst gefordert – sowohl praktisch als auch psychisch. Ein enormer Druck, den natürlich auch die Kinder wahrnehmen und der ihre ohnehin vorhandenen Gefühle von Unsicherheit und Verlorenheit weiter verschärft. Diese Erfahrung müssen Kinder heute in vielen Regionen der Welt machen, genauso wie die mindestens 30 000 Kinder, die mit ihren Eltern nach 1933 vor dem Terror der Nazis aus Europa fliehen mussten.

Im großen Fundus der Literatur des antifaschistischen Exils gibt es nur vergleichsweise wenige Bücher für Kinder und Jugendliche, auch wenn das vielleicht wichtigste deutschsprachige Jugendbuch des 20. Jahrhunderts im Exil entstand: 1941 veröffentlichte der deutsche Arbeiterschriftsteller und ehemalige Bergmann Kurt Held (eigentl. Kurt Kläber) im Schweizer Exil „Die rote Zora und ihre Bande“, ein Buch, das ganze Generationen von Jugendlichen begeistert hat.

Während die „Rote Zora“ das Thema Flucht und Exil nicht oder nur indirekt anspricht, geht es in der Bilderfolge „Tim, Tom und Mary“ des Malers und Graphikers Carl Meffert/Clément Moreau genau darum. Diese Geschichte steht im Mittelpunkt eines kürzlich von Hermann Schnorbach veröffentlichten Buches über Kinder und Exil.

Der aus Koblenz stammende Carl Meffert gehörte ab Mitte der zwanziger Jahre zu den politisch aktiven KünstlerInnen in Berlin. Um der drohenden Verhaftung durch die Gestapo zu entgehen, floh er 1933 in die Schweiz. Dort lebte er ohne gültige Papiere, veröffentlichte seine Arbeiten unter dem Pseudonym Clément Moreau. Die stets drohende Abschiebung nach Nazideutschland vor Augen, emigrierte er 1935 mit seiner Schweizer Lebensgefährtin Nelly Guggenbühl nach Argentinien. In Buenos Aires arbeitete er einige Jahre als Zeichenlehrer an der antifaschistischen deutschsprachigen Pestalozzi-Schule, die vor allem von Kindern von Flüchtlingen aus Nazideutschland und Österreich besucht wurde.

Vermutlich haben ihn die Berichte seiner SchülerInnen um 1940 zu den elf Aquarellen und sieben Schwarz-Weiß-Zeichnungen der Folge „Tim, Tom und Mary“ inspiriert. Sie erzählen von der Flucht des kleinen Tim aus Holland nach England und weiter nach Argentinien. Zu drei Bildern gibt es kurze Texte. Aus dem ersten erfahren die LeserInnen, dass Tim aus Holland kommt, einem Land „wo die Leute zufrieden zwischen ihren Blumen und Windmühlen leben“. Doch eines Tages war es mit diesem Leben zu Ende, „die Leute konnten sich nicht mehr um ihre Tulpen kümmern“ und „die Windmühlen fielen wie trockene Blätter zu Boden“. Das folgende Bild zeigt einen Flüchtlingsstrom, die Leute fliehen mit dem Wenigen, was sie bei sich tragen. Tim kommt nach England, wo er Cousine Mary und Cousin Tom trifft. Doch auch hier sind sie nicht sicher. Diesmal werden die Gründe konkretisiert. Es sind die Luftangriffe, die Tod und Zerstörung bringen und die Menschen zwingen, in den Luftschutzkellern Zuflucht zu suchen. Tim muss zum zweiten Mal eine Schiffsreise antreten. Diesmal geht es zusammen mit Tom und Mary nach Argentinien. Mit der Ankunft in Buenos Aires endet die Geschichte.

Für die Flüchtlingskinder in Buenos Aires, die Moreau/Meffert als AdressatInnen dieser Bilder gesehen haben dürfte, waren keine weiteren Erklärungen vonnöten, sie wussten, warum die Windmühlen wie trockene Blätter zu Boden fielen und welche Flugzeuge die englischen Städte bombardierten. Sie hatten alle ihre eigenen Fluchtgeschichten.

Nach Aussagen von Nelly Meffert-Guggenbühl wurde das Buch nie fertig. Die 18 Bilder blieben Fragment. Es ist gut, dass Hermann Schnorbach nicht versucht hat, daraus ein fertiges Kinderbuch zu machen. Vielmehr präsentiert er zunächst die Bildfolge und liefert in den folgenden Textkapiteln Informationen über das Leben und Werk Mefferts/Moreaus, die Situation von Flüchtlingskindern, die Pestalozzischule in Buenos Aires (über die er 1995 ein sehr interessantes Buch veröffentlicht hat, vgl. Besprechung in der ila 188) und weitere Kinderbücher aus dem argentinischen Exil. Dazu gehört „Babs und die sieben“ von Hans Jahn, das 1944 in Buenos Aires erschienen ist. Wie bei der „Roten Zora“ ist es auch da eine Bande unter Führung eines taffen Mädchens, in der ausgegrenzte Kinder Zuflucht und Solidarität erfahren.

Das Buch endet mit einem ganz besonderes Zeugnis, dem Tagebuch der 14jährigen Marion Clara Reize aus dem Jahr 1940, in dem sie die Flucht ihrer Familie von Palästina quer durch Asien nach Ceylon und von dort mit einem japanischen Schiff über Südafrika nach Argentinien beschreibt. Der ursprünglich auf hebräisch geschriebene Text ist hier erstmalig in deutscher Sprache veröffentlicht.

„Tim, Tom und Mary“ ist ein wunderschön gestaltetes Buch, das sich gleichermaßen an Jugendliche und Erwachsene richtet, weil es kindgerecht das Thema „Flucht und Exil“ aufgreift und Eltern wie LehrerInnen die nötigen Hintergrundinformationen liefert, um die sich daraus ergebenden Fragen zu beantworten. 

Hermann Schnorbach, Tim, Tom und Mary. Eine Bilderfolge von Carl Meffert/ Clément Moreau, Fölbach-Verlag, Koblenz 2011, 68 Seiten, A 4, zahlreiche z. T. farbige Abbildungen, 18,80 Euro