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Führt eine Spur nach Deutschland?

Entführt verschwundene Kinder El Salvadors

Täglich verschwinden Menschen, darunter Kinder und Jugendliche. Hierzulande tauchen letztere meist bald wieder auf, weil sie nach einem häuslichen Streit weggelaufen waren. Andere werden Opfer eines Verbrechens, werden geraubt, um Lösegeld zu erpressen. Das passiert zum Beispiel in Mexiko, wenn MigrantInnen auf dem Weg von Mittel- oder Südamerika in die Vereinigten Staaten von Kriminellen abgefangen und ihre Angehörigen dann erpresst werden. Wieder andere verschwinden im Rahmen von Naturkatastrophen; ein Teil von ihnen wird bei Aufräumarbeiten tot gefunden, andere bleiben für immer verschwunden. Und schließlich gibt es die Opfer der desaparición forzada, einer Form des Staatsterrorismus, bei der Angehörige des Staatsapparates, Soldaten und Polizisten zum Beispiel, Menschen entführen und verschwinden lassen.

Ulf Baumgärtner

Bei den niñas y niños desaparecidos in El Salvador handelt es sich um die letztgenannte Gruppe von Verschwundenen. Es sind Kinder und Heranwachsende im Alter von einem Tag bis zu 13 Jahren, die während des internen Krieges von 1980 bis 1992 von Angehörigen der Streit- und Sicherheitskräfte entführt bzw. geraubt wurden und anschließend verschwanden. Oder sie sind auf der Flucht – während der Kriegsjahre gab es bis zu einer Million interner Vertriebener und Zehntausende, die ins benachbarte Ausland flohen – verloren gegangen und anschließend verschwunden. Oder sie wurden unter Bedingungen wie täglichen Gefechten und Vertreibung von ihren Müttern „freiwillig“ zur Adoption gegeben. Die Asociación Pro Búsqueda de Niñas y Niños Desaparecidos (Vereinigung für die Suche nach verschwundenen Kindern, kurz Pro Búsqueda) hat ca. 850 solcher Fälle registriert, annähernd zehn Prozent der Gesamtzahl von im salvadorianischen Krieg verschwundenen Menschen, die auf 9000-12 000 geschätzt wird. Alle Zahlen sind nach oben offen – denn solange ein Mensch nicht lebend oder seine sterblichen Überreste gefunden werden, ist und bleibt er verschwunden.

Felipe, Gründer der Musikgruppe Los Torogoces de Morazán, bekam erst durch eine Exhumierung in El Mozote, dem Ort eines von den Streitkräften veranstalteten Massakers im Nordosten El Salvadors, die traurige Gewissheit, dass seine Frau und seine beiden Kinder ermordet wurden. Anselma* und ihre Schwester Raquel suchen seit bald 30 Jahren nach ihren beiden verschwundenen Töchtern bzw. Nichten. Die genannten vier Fälle sind bei Pro Búsqueda dokumentiert, zwei als verstorbene verschwundene Kinder, zwei als Kinder, die noch immer gesucht werden. Ähnlich wie bei den Abuelas de Plaza de Mayo in Argentinien, suchen Angehörige nach ihren im Krieg verschwundenen Kindern oder Enkeln, seit es Hinweise darauf gibt, dass nicht alle von ihnen ermordet wurden. Der Unterschied ist, dass im argentinischen Fall vor allem Offiziere die geraubten Kinder adoptiert haben und sie unter einem anderen Namen mit einer anderen Identität aufwachsen ließen, während im salvadorianischen Fall die Adoptiveltern mit ganz wenigen Ausnahmen ZivilistInnen sind. Pro Búsqueda hat ca. 350 der als Kinder verschwundenen Personen wiedergefunden, was seit einigen Jahren auch mit Gentests eindeutig nachgewiesen werden konnte.

Darunter sind Fälle von Kindern, die im Rahmen von Militäroperationen geraubt wurden und anschließend verschwanden. Emilio zum Beispiel. Bei einer Operation von rund 9000 Soldaten in der Kriegszone am Chinchontepeque-Vulkan kam es in einer Kaffeeplantage, in der sich die vor dem Militär fliehende Zivilbevölkerung sammelte, zu einem Massaker, in dessen Verlauf Emilio* angeschossen wurde. Der knapp Vierjährige wurde in das nahegelegene Provinzkrankenhaus gebracht. Von da ab verlor sich seine Spur – bis ein in Italien aufgewachsener junger Mann ganz anderen Namens, der von seinen Adoptiveltern wusste, dass er aus El Salvador stammte, wissen wollte, ob jemand aus seiner Herkunftsfamilie überlebt hat. Seit Anfang des Jahres weiß er es. Mit Hilfe der Genanalyse wurden zwei Tanten und vier Geschwister, die vom Krieg in ganz andere Gegenden El Salvadors vertrieben worden waren, gefunden; ein jüngerer Bruder wird nach wie vor vermisst. Die Wiederbegegnung Emilios mit seinen salvadorianischen Verwandten wurde ein viertägiges Freudenfest.

Zu den Fällen von Kindern, die nicht bei Kampfhandlungen, aber dennoch wegen des Krieges verschwunden sind, zählen Luisa, Amanda und John. Luisa zum Beispiel. Ihre Mutter war Guerillera, als sie schwanger wurde. Zur Niederkunft wurde sie aus dem Kampfgebiet in eine ruhigere Gegend geschickt. Bald nach der Geburt von Luisa bekam ihre Mutter von ihrer Organisation die Nachricht, sie möge zur Truppe zurückkommen und solle schauen, was sie mit ihrer Neugeborenen macht. Sie ließ sie bei Nachbarn. Dort ist Luisa unter anderem Namen aufgewachsen, aber der Kontakt der Adoptiveltern mit Luisas leiblicher Mutter brach bald ab – seither war sie verschwunden. Luisa konnte mit Hilfe von Pro Búsqueda vor ein paar Jahren ihre leibliche Mutter wiedersehen, aber die beiden verstehen sich nicht. Sie leben heute, jede für sich, in derselben Armut wie vor dem Krieg. Auch unter den Fällen von Wiedergefundenen, die einst von ihren Müttern unter Kriegsbedingungen freiwillig zur Adoption gegeben wurden und danach zumindest für die leiblichen Mütter verschwanden, gibt es jede Menge Unterschiede.

Amandas Mutter floh aus ihrem ausgebombten Dorf in das Hauptstadtgebiet von San Salvador, wo sie in der Gemeinde San Marcos landete. Dort lebte sie mit einem kleinen Sohn und der neugeborenen Amanda praktisch auf der Straße. Bis eines Tages eine gute Seele vorbeikam und sie fragte, ob es nicht wenigstens einem ihrer Kinder in Zukunft besser gehen solle, ob sie es nicht zur Adoption geben wolle. Von der Hand in den Mund lebend, ohne FreundInnen in der großen Stadt, gab die Bäuerin Amanda her. Als sie sie nach zwei Tagen zurückhaben wollte, war sie bereits unterwegs in die USA. Der Anwalt, dessen Handlanger unter der vertriebenen Bevölkerung systematisch nach Kleinkindern für das internationale Adoptionsgeschäft suchte, ließ Amandas Mutter rausschmeißen. Amanda selbst ist im Mittleren Westen der USA wohlbehütet aufgewachsen und hat ihre salvadorianische Mutter inzwischen drei Mal besucht.

Johns Mutter wurde im Krieg zwar nicht vertrieben, verbrachte aber, in einem umkämpften Gebiet lebend, so manche Stunde vor den Kugeln Schutz suchend unter dem Bett – und wie sie ihre Kinder durchfüttern sollte, wusste sie genauso wenig wie Amandas Mutter. Auch sie gab den Versprechungen einer besseren Zukunft für ihren Jüngsten, mit der sie der Handlanger eines anderen Adoptionsanwaltes umwarb, nach; auch sie kam zu spät, als sie ein paar Tage danach ihr Söhnchen zurückhaben wollte. Das war bereits unterwegs nach Devon in Großbritannien. Unter dem Adoptivnamen John ist der Kleine dort aufgewachsen und ging mit 18 nach London, wo er seither bei der U-Bahn arbeitet. Auch John wusste, dass er aus El Salvador stammt, ging aber wie seine Adoptivmutter davon aus, dass er Waise ist, denn als Kriegswaisen wurden die entführten Kinder weltweit feilgeboten. Als der junge Mann per Facebook nach anderen EngländerInnen salvadorianischer Herkunft Ausschau hielt, stieß er auch auf eine, die ihn auf Pro Búsqueda aufmerksam machte. Er schickte seine Geburts- und Adoptionsurkunde an Pro Búsqueda, und weil seine leibliche Mutter nie umgezogen war, fand man sie auch schnell. Seit der bald darauf stattgefundenen Wiederbegegnung hat John seine salvadorianische Familie viermal besucht und dabei auch die Strände und Berge des Landes kennen gelernt, die ihm immer besser gefallen.

Emilio, Luisa, Amanda und John sind Kinder des Krieges, die es in alle Winde verstreut hat, innerhalb El Salvadors, nach Italien, in die Vereinigten Staaten und nach England. Die größte Gruppe der von Pro Búsqueda wieder gefundenen, vormals verschwundenen Kinder lebt in El Salvador, die zweitgrößte in den USA. In Europa wurden die meisten ehemals verschwundenen Kinder in Italien und Frankreich wieder gefunden. Daneben in Großbritannien, Belgien, Schweden und der Schweiz. Ein Blick auf die europäische Landkarte legt die Vermutung nahe, dass einige dieser Kinder wohl auch in der Bundesrepublik Deutschland gelandet und dort aufgewachsen sein könnten. Aber es gibt noch eindeutigere Hinweise. Zwischen 1995 und 1997 haben zwei Frauen aus der damaligen Solidaritätsbewegung, Menschenrechtsaktivistinnen, systematische Nachforschungen angestellt und sind dabei auf zwei Kinder gestoßen, deren Adoptiveltern nach einigen Bedenken auch bereit waren, die einschlägigen Dokumente kopieren und nach El Salvador schicken zu lassen.

Leider ist diese viel versprechende Initiative in der Folgezeit aus verschiedenen Gründen im Sand verlaufen. Jetzt wollen wir, der Freundeskreis Pro Búsqueda in Deutschland, einen neuen Anlauf nehmen. Dazu bitten wir alle LeserInnen dieses Artikels, Kontakt mit uns aufzunehmen, uns Hinweise zu geben und Anregungen, was wir im Rahmen dieser Suche noch unternehmen könnten.

* alle Namen geändert