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Warum wollen sie keine Straße?

Der TIPNIS-Konflikt ist zur Debatte um das Entwicklungsmodell Boliviens geworden

Unser Küchenradio scheint Fan von Evo Morales zu sein. Abgesehen von Cumbia-Musik empfängt es nur Red Patria Nueva. Die „Stimme des plurinationalen Staates Bolivien“ ist nach eigenem Verständnis „demokratisch und partizipativ“ und hat das Ziel, „das glaubwürdigste Medium Boliviens“ zu werden. Doch seit einigen Monaten gibt es – mit Ausnahmen wie dem versöhnlicheren Programm Interculturas am Samstagmorgen – zu aktuell umstrittenen Themen nur noch die Regierungsposition zu hören: in den Nachrichten, bei Interviews oder selbst bei Höreranrufen. So auch zum Konflikt um den geplanten Straßenbau durch den TIPNIS, das indigene Territorium und Naturschutzgebiet Isíboro Sécure, gegen den am 15. August von Trinidad in der Tieflandprovinz Beni aus ein Protestmarsch nach La Paz gestartet war.

Peter Strack

Sí o sí“, egal was geschieht, die Straße werde gebaut, hatten Evo Morales und seine MinisterInnen noch bis in den Oktober hinein deutlich gemacht. Sie sei unabdingbar für die nationale Entwicklung und Integration. Zu lange habe der Staat die Menschen in dieser Urwaldregion vernachlässigt. Die Straße werde ihnen Gesundheitsversorgung, Krankenhäuser und Schulen bringen. Unterstützung erfuhr die Regierung vor allem von der Kleinbauerngewerkschaft CSUTCB. Man werde nicht zulassen, dass die Tieflandindígenas im TIPNIS wie Wilde leben müssten, so Exekutivsekretär Roberto Coraite. Und Evo Morales hatte bei einer Rede junge Kokabauern der nahegelegenen Chapare-Region dazu aufgefordert, mit den widerspenstigen Indígena-Frauen anzubändeln, um diese vom Straßenbau zu überzeugen. War ein solcher Rückfall in koloniale Denkmuster ein schlechter Scherz, so erwies sich die Arbeit der Regierungsmedien, die alle diese Argumente im Namen des sozialen, politischen und kulturellen Wandels und der Entkolonisierung Boliviens wiederholten, als Ausdruck eines autoritären Regierungsstils. 

Auch KritikerInnen in den eigenen Reihen, wie den Leiter der Nationalen Naturparkbehörde (SERNAP) Adrián Nogales Morales, entließ man lieber, als seine Argumente anzuhören. Der selbst aus dem TIPNIS stammende Yuracaré hatte sich Anfang August wegen der absehbaren Vernichtung biologischer Vielfalt gegen den Straßenbau mitten durch das Schutzgebiet ausgesprochen. Allein 470 – ca. 34 Prozent – der in Bolivien ansässigen Vogelarten, 108 Säugetier-, 39 Reptilien- und 53 Amphibiensorten sowie 16 vom Aussterben bedrohte Orchideen- und Palmensorten hat man in dem Gebiet bislang entdeckt. Dabei ist es nach einer Landtitelvergabe an HochlandbäuerInnen durch die Regierung Morales bereits auf 1 Million Hektar reduziert worden. Hier befindet sich nach Angaben des SERNAP auch das letzte noch nicht zersiedelte Gebiet am Fuße der Anden. Zugleich hatte Nogales darauf hingewiesen, dass nach geltendem Recht die indigenen BewohnerInnen des TIPNIS selbst über den Straßenbau entscheiden müssten.

Genau das hatte jedoch die Regierung Morales im Jahr 2008 beim Abschluss des Vertrags mit der brasilianischen Baufirma OAS versäumt. Die Kosten seien überhöht, hatte es zudem in einem Gutachten des Planungsministeriums geheißen. Es fehlten vergleichende Vorstudien über Alternativen, und die Strecke dürfe laut Gesetz auch nicht wie geplant durch den TIPNIS gehen, zumindest fehle eine Umweltverträglichkeitsprüfung. Je länger der Marsch andauerte, desto mehr Details tauchten in der Presse auf. Und die vehemente Kritik aus meinem Küchenradio an dem Sender ERBOL war ein untrüglicher Hinweis darauf, dass ich mich beim sonntäglichen Kochen während der Sendung „Das Volk ist die Nachricht“ zwar gut über die Argumentation der Regierung informieren konnte, aber dass die interessanteren Informationen derzeit anderswo zu bekommen waren. Längst hatten sich wichtige Persönlichkeiten selbst der Regierungspartei, wie die frühere Präsidentin der Verfassunggebenden Versammlung, Silvia Lazarte, mahnend zu Wort gemeldet. Die Regierung solle die Indígenas endlich ernst nehmen und die neue Verfassung in die Praxis umsetzen. 

Andere bemerkten süffisant, man brauche nur ins staatliche Krankenhaus in La Paz zu gehen, um festzustellen, dass man durch den Bau einer vierspurigen Straße noch keine vernünftige medizinische Versorgung bekäme. Wie viele Entwicklungsprojekte könnten selbst die gescholtenen NRO mit den über eine Mio. US-Dollar kalkulierten Baukosten pro Kilometer im TIPNIS umsetzen, um die Lebensbedingungen zu verbessern! Jenseits der Frage, was für das Leben und die Kultur der Moxeños, Yuracarés oder Chimane im TIPNIS das Beste ist, war die Auseinandersetzung schon längst zu einer Debatte über das Entwicklungsmodell Boliviens geworden. 

Zu jenem Zeitpunkt hatten Marschierende und KommentatorInnen es bereits geschafft, den Straßenbau, der der Rhetorik vom Guten Leben, von den Rechten der Indigenen und der Mutter Erde so offen widersprach, so prominent in den Medien zu positionieren, dass er nur noch unter einem extremen Glaubwürdigkeits- und Legitimitätsverlust der Regierung möglich gewesen wäre. Außer in Radio Patria Nueva diskutierte man bereits über alternative Streckenführungen außerhalb des TIPNIS. Und deshalb gingen auch die Argumente des Vizepräsidenten ins Leere, die Indígenas seien von der Oli-garchie in der Tieflandmetropole Santa Cruz gesteuert, die die Zufahrtswege in den Beni monopolisieren und deshalb eine direkte Verbindung zwischen Cochabamba und dem Beni verhindern wollten. Zumal eine der Varianten eine noch direktere Verbindung von Cochabamba in den Beni vorsah, vorbei am Siedlungsgebiet der Kokabauern im Chapare, das bereits weit in den TIPNIS hineinragt. Vom Straßenbau erhoffen sich die KokabäuerInnen eine bessere Marktanbindung, während die ansässigen Indígenas weitere Siedlungen, Kokafelder und Holzeinschlag befürchten. 

Ein anderes Mal waren es für die Regierung die ausländischen NRO, die rechte Opposition, der ehemalige Präsident Sánchez de Lozada, dann USAID oder die US-Botschaft, die die Marschierenden manipulierten und finanzierten. Die „Erkenntnisse“ von Vizepräsident García Linera basierten auf einer illegalen Telefonabhörung von zwei Sprechern der Protestierenden, die mit dem Beauftragten der US-Botschaft für indigene Völker telefoniert hatten. Sánchez de Lozada kam ins Spiel, weil die Indígenas bei einer Eingabe an ein UN-Gremium auf einen in New York ansässigen Rechtsanwalt zurückgegriffen hatten, der unter dem Ex-Präsidenten im Staatsapparat gedient hatte. Eine große Nachricht für Radio Patria Nueva, während die Tatsache, dass ein Ayoré-Abgeordneter des MAS von der eigenen Fraktionssitzung ausgeschlossen wurde, weil er in der TIPNIS-Frage die Position seiner Basis und nicht die des Präsidenten vertrat, wieder nur bei ERBOL zu hören war. Überhaupt das Gejammere über die Kontakte der Marschierer zu Oppositionsparteien oder über die Pläne, eine eigene indigenistische Partei oder zumindest eine Parlamentsfraktion unabhängig vom MAS zu gründen: Ist es nicht normal, dass sich die BürgerInnen in einer Demokratie denen zuwenden, die ihre Interessen vertreten? Dass manche dies nur aus Opportunismus tun und manche der neuen „Verteidiger indigener Rechte“ in der Vergangenheit selbst Schlägertrupps auf diese losgeschickt hatten, steht auf einem anderen Blatt. 

Und was die internationalen NRO betrifft: Gewiss fällt es leichter, Naturschutzgebiete zu verteidigen, wenn man selbst nicht stundenlange Märsche mit ernteschweren Körben über Urwaldpfade zu bewältigen hat, sondern selbstverständlich auf Flugzeug oder geländegängige Fahrzeuge zurückgreifen kann. Doch wer wie die bolivianische Regierung vom Norden mehr Einsatz für den Natur- und Klimaschutz fordert, kann sich selbst davon nicht komplett distanzieren. Und warum sollten die USA ein Interesse daran haben, einen Straßenbau zu verhindern, der Teil des IIRSA-Planes der infrastrukturellen Erschließung und Marktöffnung Südamerikas ist? Selbst wenn es vor allem der Konkurrent Brasilien ist, dessen Exporte von dieser Verbindung profitieren würden. Der nötige Kredit einer brasilianischen Bank, der Vertrag mit der Baufirma zu Konditionen, die schlechter als üblich sind – viel Mauschelei, meint José Maria Bakovic, Ex-Präsident des Nationalen Straßendienstes, in einem offenen Brief an seinen Nachfolger Luis Sánchez. Ende August habe die Baufirma den Besuch des brasilianischen Ex-Präsidenten Lula im bolivianischen Santa Cruz bezahlt. 

In meinem Sonntagsradioprogramm waren dagegen nur Vorwürfe an die Marschierenden zu hören. Es ginge ihnen gar nicht um die Natur, sondern um den Sturz der Regierung. Sie seien illegale Holzhändler oder gar mit der Drogenmafia im Bunde, die sich tatsächlich im TIPNIS festgesetzt hat. Dass daran auch ansässige Indígenas beteiligt sind, macht das Problem nicht einfacher. Zudem gab es jenseits der Beurteilung des Straßenbaus bei den Marschierenden unterschiedliche Interessen und Haltungen zur Regierung und diversen Oppositionsgruppen. Immer wieder hatte Präsident Morales Minister zu Verhandlungen geschickt, doch in der Sache selbst keinerlei Kompromissbereitschaft gezeigt. Während er Verhandlungsbereitschaft forderte, bekräftigte Morales, dass am Straßenbau nicht gerüttelt werde. Die von der ILO-Konvention 169 vorgeschriebene vorherige Konsultation werde es geben, aber da müssten dann auch die KokabäuerInnen einbezogen werden, die schließlich schon im TIPNIS lebten. Oder gleich auch noch die BewohnerInnen der Provinzen, die mit der Straße verbunden werden sollten. 

Als die ProtestlerInnen in Yucumo ankamen, hatte sich dort eine Gruppe von etwa 50 SiedlerInnen auf der Straße postiert, um – unterstützt von einem massiven Polizeiaufgebot – den Weitermarsch zu stoppen. Ihre Interessen seien berührt, so das Argument. Es sei überhaupt nicht einzusehen, warum die Indígenas über so viel Land verfügten, während die Interculturales, wie sich die SiedlerInnen heute nennen, nur über wenige Hektar verfügten. Ein Ausdruck des grundlegenden Unverständnisses gegenüber der Natur schonenden extensiven Wirtschaftsweise der Tieflandbevölkerung, die sich laut Gutachten der Nationalen Naturparkbehörde im TIPNIS noch dort hat halten können, wo keine SiedlerInnen leben. Fortan stahl sich die Regierung verbal aus der Verantwortung. Es handele sich um einen Konflikt zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen, der nur in Verhandlungen untereinander gelöst werden könne. Die Forderung, direkt mit Evo Morales reden zu wollen, sei fehl am Platze. 

Und während Straßenblockaden der Guaraní im Süden von Santa Cruz zur Unterstützung der Marschierenden von den Ordnungskräften im Handumdrehen aufgelöst wurden, schützten sie in Yucumo angeblich die Gruppen davor, aufeinander loszugehen. Wasser- und Lebensmittellieferungen an die Marschierenden wurden abgefangen, ein Fahrzeug der Guaraní konfisziert. Und statt mit den Marschierenden zu verhandeln, tauchte Evo Morales ein ums andere Mal bei den Kokabauern im Chapare oder in einzelnen Gemeinden des TIPNIS auf, um den „großen Prozess der vorherigen Befragung“ zu beginnen. Allerdings sieht die ILO-Konvention dafür die eigenen Entscheidungsmechanismen der indigenen Gemeinden vor, doch die meisten ihrer SprecherInnen waren auf dem Marsch, nicht im TIPNIS. 

Hier geht es nicht mehr nur im die Straße, konstatierte Oscar Olivera, im Jahr 2000 Weggefährte von Morales und Anführer des „Wasserkrieges“ von Cochabamba, als er sich auf den Weg nach Yucumo machte, um die Indígenas zu unterstützen. Hier stehe die Demokratie auf dem Spiel. Die Regierung war nicht einmal dazu bereit, den Indígenas ihr Demonstra-tionsrecht zu garantieren. Die Marschierenden kämpften zwischen Enttäuschung, Verzweiflung und Wut. Bei einem Besuch des Außenministers David Choquehuanca hätten die Marschierenden fast allen Kredit verspielt. In einem Handgemenge zwangen einige Frauen den Aymara, einige Kilometer mit ihnen voran zu gehen und die erste Polizeisperre zu durchbrechen. Dann besannen sie sich eines Besseren und ließen den Außenminister gehen. Doch für die Hardliner im Kabinett schien die Gelegenheit gekommen, das Problem ein für alle mal aus der Welt zu schaffen. 

Während Evo Morales am 25. September die Marschierenden offiziell zu Verhandlungen nach La Paz einlud, waren die Vorbereitungen für einen massiven Polizeieinsatz, der den Marsch auflösen sollte, bereits in vollem Gange. Nachdem JournalistInnen zu einem Pressegespräch weggelockt worden waren, löste die Polizei das Camp der noch etwa 1000 Marschierenden auf. Männer, Frauen, selbst Kinder wurden geprügelt, ihre Hände gefesselt und manchen – damit sie nicht schreien – der Mund mit einem Band verklebt, bevor sie in bereitstehende Busse verfrachtet wurden. Andere schafften es, in den Wald zu fliehen. Ein zehnjähriges Mädchen berichtete gegenüber ERBOL, die Polizisten hätten sie getreten und gesagt, man müsse eben wissen, wie man zu kämpfen habe. Für Radio Patria Nueva waren das alles Randthemen. Wichtig schien in der Folgeberichterstattung vor allem, dass ein Sprecher der Marschierenden zunächst die falsche Nachricht vom Tod eines Babys in die Welt gesetzt hatte. Als ob die laut Staatsanwalt über 70 Verletzten nicht ausgereicht hätten, um die öffentliche Meinung gegen die Regierung aufzubringen. 

Marktfrauen in der MAS-Hochburg El Alto, die sich bislang gefragt hatten, warum die Indígenas eigentlich keine Straße wollten, waren plötzlich empört. Bei Radio Patria Nueva war von einem unverantwortlichen Journalismus die Rede, dem es allein um Meinungsmache und den Sturz der Regierung gehe, obwohl die Falschmeldung bald korrigiert wurde. Nur zur Aufklärung der Ereignisse kam es nicht. Niemand in der Regierung wollte plötzlich verantwortlich gewesen sein. Evo Morales entschuldigte sich für die „unverzeihlichen Vorgänge“. Gegenseitige Schuldzuweisungen folgten. Man habe nur der richterlichen Anordnung Folge geleistet. Doch es fand sich nur ein Richter, der um Hilfe zur Aufklärung des Handgemenges mit dem Außenminister gebeten hatte. Vizepräsident Alvaro García Linera behauptete zu wissen, wer den Befehl gegeben habe, wollte die Klärung aber einer hochrangigen Prüfungskommission überlassen. 

Mit einem „So nicht, wir haben mit dem Volk vereinbart, die Dinge anders zu regeln“, reichte die Verteidigungsministerin Cecilia Chacón ihren Rücktritt ein. Und: So werde die rechte Opposition nur gestärkt, statt geschwächt. Später sickerte durch, dass das Militär sich geweigert hatte, ohne Anweisung auf dem regulären Dienstweg an der Aktion teilzunehmen. So wusste die Polizei plötzlich nicht mehr, wohin mit den vielen Festgenommenen, die das Militär nach La Paz oder in andere Landesteile hätte bringen sollen. In Rurrenabaque blockierten empörte AnwohnerInnen die Weiterfahrt der Busse und zwangen die Polizei, die Marschierenden freizulassen. In den großen Städten kam es zu kleinen Protestdemonstrationen, Mahnwachen wurden eingerichtet und Unterschriften gesammelt. „Er soll endlich zurücktreten“, sagte plötzlich ein Taxifahrer, als wir über ein Großplakat redeten, auf dem „No al engaño“ (Nein zum Betrug) stand, das für die bevorstehenden Richterwahlen dazu aufrief, ungültig zu stimmen. Diese Wahlen waren inzwischen zu einer politischen Abstimmung über den Regierungskurs geworden. 

Nun würde niemand mehr den Marsch nach La Paz aufhalten. Einige Tage brauchten die Marschierenden, um sich zu reorganisieren. Andere kamen vor allem aus den Städten zur Unterstützung dazu. Die Regierung übte sich in Rückzugsgefechten. Von einer Volksabstimmung im Beni und Cochabamba war nun nicht mehr die Rede. Umfragen hatten ergeben, dass eine deutliche Mehrheit gegen den Straßenbau war. Nun sollte es endlich zu der in der ILO-Konvention vorgesehenen Befragung kommen. Nur die BewohnerInnen des TIPNIS sollten selbstverständlich entscheiden, dozierte der Vizepräsident, wohl darauf hoffend, dass man sich an seine jüngsten Äußerungen nicht mehr erinnerte. Noch gab es die Möglichkeit, die indigenen Gemeinden zu spalten und mit großangelegten Entwicklungsprogrammen im TIPNIS eine Mehrheit für die Straße zu bekommen. Nur die Marschierenden wollten nun nichts mehr von der Befragung wissen, die sie zuvor vehement gefordert hatten. Es könne keine Vorabbefragung mehr geben, weil die Bauarbeiten bereits begonnen hätten. Tatsächlich war schon ein Bagger bei Erdarbeiten innerhalb des TIPNIS fotografiert worden. 

Die Parole bei Radio Patria Nueva war nun, dass es den Marschierenden gar nicht um den Straßenbau (und 15 weitere Punkte der Forderungsliste) ginge, sondern darum, die Justizwahlen zu verhindern. Zunächst war der Minister zu hören, dann der Vizepräsident und immer wieder Höreranrufe, die für die Teilnahme an der Wahl und gegen diejenigen mobilisierten, die dafür warben, ungültig zu stimmen. Am Mittwoch vor der Wahl gab es dann eine Großdemonstration in La Paz. Dort waren nicht nur die Staatsangestellten zu sehen, die Anwesenheitslisten zu unterzeichnen hatten, sondern auch Zigtausende KleinbäuerInnen, die sich ernsthaft Sorgen um den Fortbestand der Regierung machten, die ihnen erstmals politische Gleichberechtigung gebracht hatte. 

Als die Massen am 16. Oktober tatsächlich zu den Urnen strömten, schien für die Regierung und Radio Patria Nueva die Welt wieder in Ordnung. Eigentlich sollten ja die Richter der obersten Justizorgane gewählt werden. Doch die Mehrheit erteilte der Regierung einen derben Denkzettel. So stand statt einem Kreuz der Slogan „Tipnis ja – Straße nein“, oder „Die Regierung hat das Gute Leben prostituiert“ auf dem Wahlzettel. Bei Redaktionsschluss der ila waren die Endergebnisse noch nicht bekannt. Und trotz Transparenzversprechen funktionierte auch die Website der Wahlbehörde nur bedingt. Sechs Tage nach der Wahl lag der Anteil der gezählten ungültigen Stimmen beim obersten Verfassungsgericht jedenfalls mit über 1,8 Millionen deutlich über den 1,76 Millionen gültig abgegebenen Stimmen. Auch über eine halbe Million unausgefüllt abgegebener Zettel konnten kaum als Abstimmungssieg der Regierung gewertet werden, wie Radio Patria Nueva unermüdlich mit Bezug auf die über 80prozentige Wahlbeteiligung wiederholte. 

Gab es nach den Wahlen in der öffentlichen Debatte noch Streit um die Deutung der Ergebnisse, so ließ der von Zehntausenden klatschenden, singenden, jubelnden Menschen begleitete Einzug der Menschen in La Paz keinen Zweifel mehr daran, auf wessen Seite die Bevölkerung im Konflikt um den TIPNIS stand. Statt der Polizei versuchten die als Zebras verkleideten und als Verkehrserzieher arbeitenden erwerbstätigen Straßenkinder den Weg für die Marschierenden freizuhalten, die die letzten Tage in der extremen Kälte der Hochanden verbracht hatten. Kinder kamen aus Schulen verkleidet als Blumen oder Tukane. Und natürlich politische Gruppen fast aller Couleur. Vor allem die unter der Führung des MSM, der Partei Juan del Granados, stehende Stadtverwaltung von La Paz hatte mobilisiert. Und Radio Patria Nueva fand es auf einmal bedenklich, dass Staatsangestellte zu politischen Aktionen geschickt werden und berichtete, Studierende seien von ihren Dozenten gezwungen worden zu kommen. „Von wegen gezwungen!“, wehrten diese ab. „Alle für den Tipnis!“. In La Paz wurde deutlich, was sich auf dem Marsch abgezeichnet hatte. Der Hochland-Tiefland-Konflikt hatte ausgedient, die indigenen Ayllus aus dem Norden von Potosí gemeinsam mit den katholischen Chiquitano, Guaraní oder Yurakaré aus dem Tiefland. In der Zwischenzeit hatte auch die Polizei ihren Wasserwerfer von der Plaza Murillo vor dem Präsidentenpalast abgezogen. Die Marschierenden zogen am Palast des Präsidenten vorbei zur Plaza San Francisco, auf der noch einmal die Anliegen und die Leiden des über zweimonatigen Marsches in Erinnerung gerufen wurden. 

Dann war die Stunde des politischen Fingerhakelns gekommen. Man solle endlich verhandeln, kam die Aufforderung aus dem Präsidentenpalast. – Nur wenn alle Marschierenden auf der Plaza Murillo die Verhandlungen über Großleinwand mitverfolgen dürften. – Ob sie Politik machen wollten oder Probleme klären, grantelte Evo Morales zurück, der im Gebäude des Vizepräsidenten vergeblich auf die Delegation der Marschierenden wartete. – Sie würden nur im Präsidentenpalast verhandeln. Ein Vorstoß von Morales brach das Eis: Die Straße werde nicht durch den TIPNIS gebaut, und damit sei für ihn der erste und schwierigste Punkt der Forderungsliste geklärt. Wenig später saßen 20 Delegierte der Marschierenden an einem Tisch mit dem Präsidenten und kamen – ohne all die anderen Interessengruppen – in erstaunlicher Geschwindigkeit zu Ergebnissen. 

Allein die KokabäuerInnen protestierten und Vizepräsident García Linera dozierte, die Entscheidung liege nicht in der Macht des Präsidenten und habe Folgen bezüglich des Vertrages mit der Baufirma (was die Regierung zuvor immer bestritten hatte). Gleichwohl können die Vereinbarungen kaum noch rückgängig gemacht werden. In Radio Patria Nueva erklärte deshalb Vizeminister Navarro, die Stimmung sei gut, das einzige Problem seien externe Kräfte, ausländische Berater, die rechte Opposition, ehemalige Regierungsmitglieder etc., etc., die die Verhandlungen hätten torpedieren wollen. Aber Evo Morales habe dies als Indígena gemeinsam mit den Indígenas verhindert. Geschenkt, mag man sagen: Die Marschierenden und die Bevölkerung haben bewiesen, dass sie keine Schafherde sind, die den Anordnungen des ehemaligen Hirten Morales einfach so folgt. Sie wissen, wer wann die Marschierenden unterstützt sowie wer und was die Verhandlungen torpediert haben. Bleibt abzuwarten, ob die Regierung nun im Dialog mit den BewohnerInnen des TIPNIS Maßnahmen auf den Weg bringt, die deren schwierige Lebensumstände verbessern helfen, ohne ihre Kulturen und ihre Umwelt zu zerstören. Bleibt abzuwarten, ob die Regierung auch intern Konsequenzen zieht. Aber vielleicht ist es wirklich an der Zeit, mein Küchenradio zur Reparatur zu bringen.