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Spannende Reflexionen

Zwei neue Bücher über den Zapatismus
Dominik Gilgenbach

Die Präsenz der zapatistischen Bewegung hat sowohl im medialen Mainstream als auch in aktivistischen Kreisen (zumindest hierzulande) zweifelsohne abgenommen. Dennoch zeigen sich „Spuren ihrer Effekte“, wie Jens Kastner feststellt, „nach wie vor sowohl im Liedgut als auch in sozialen Kämpfen“ (5). Die Tatsache, dass ich an dieser Stelle gleich zwei jüngere Veröffentlichungen zum Zapatismus bespreche, untermauert diese Feststellung sicherlich. Für viele „links-denkende“ Menschen in Literatur, Musik, Wissenschaft und sozialen Bewegungen ist der Zapatismus eine nach wie vor unverzichtbare theoretische und praktische Referenzgröße.

Jens Kastners kompaktes Buch „Alles für alle! Zapatismus zwischen Sozialtheorie, Pop und Pentagon“ versteht sich mit seiner – wie man es vom Autor gewöhnt ist – theoretisch sehr reflektierten und anspruchsvollen Art als eine doppelte Intervention im Sinne einer Re-Fokussierung des Zapatismus: „Es soll mit der Theorie einen Beitrag dazu leisten, den Zapatismus wieder ins Gespräch zu bringen, aus der [sic] er aus Gründen der globalen Aufmerksamkeitsökonomie wohl eher herausgefallen ist denn aus inhaltlichen. Die Gründe für den Aufstand sind schließlich nach wie vor evident“ (14, herv. im Original). Gleichzeitig soll es „in die Theorie eingreifen mit den Anregungen, die vom Zapatismus selbst ausgegangen sind und dabei auch gegen problematische und vereinfachende Konzeptionen linker Bezugnahmen auf die Revolte in Chiapas Stellung beziehen“ (ebd., herv. im Original). In diesem kritisch-reflektierenden Sinne unternimmt Kastner auf gerade einmal hundert Seiten einen gut lesbaren Streifzug durch die umfangreiche Bandbreite der überwiegend „linken“ Bezugnahmen auf den Zapatismus seit Mitte der 90er Jahre bis heute.

In seinem kurzen „Intro“ unterscheidet er sinnvollerweise zwischen einem „Zapatismus im engeren Sinne“, der aus „bestimmten Praktiken, gegenwärtig vor allem in den autonomen Gebieten im Osten von Chiapas“, besteht, und einem „Zapatismus im weiteren Sinne“, d.h. dem „Zapatismus als Diskurs“(6), dem sich das Buch maßgeblich widmet. 

Das erste Kapitel beinhaltet u.a eine Kritik an Teilen der mit dem Zapatismus sympathisierenden Forschung, namentlich Raúl Zibechi und John Holloway. Beide beschrieben den Aufstand und seine Reaktionen in „Kategorien der Selbstverständlichkeit“, ganz so, als „bliebe den Verelendeten und Verdammten schließlich gar nichts anderes übrig, als Elend und Verdammnis zu bekämpfen“ (21). Ähnliche Vereinfachungen würden auf die UnterstützerInnen übertragen, diese seien „ganz normale Leute, Rebellinnen und Rebellen“ (Holloway). „Dass die meisten anderen normalen Leute ihr Rebellentum nur sehr selten oder gar nicht zum Ausdruck bringen“, werde hierbei ausgeblendet, und warum nicht alle Rebellionen eine derartige Resonanz erfahren haben, könne somit kaum erklärt werden (21ff). Im Anschluss daran bestimmt Kastner das, was er eine „(post-)differenztheoretische Perspektive“ (26) auf den Zapatismus nennt. Zunächst die Anerkennung der Tatsache, „dass die UnterstützerInnen des Aufstandes sich in fast allem von dessen Trägerinnen und Trägern – und auch sehr oft untereinander – unterschieden.“ Sodann sei aber zu begreifen – und hierin erklärt sich das Präfix „post“ –, dass trotzdem Solidarität stattfindet, die die Differenz „als Beschreibbares benennt, um sie dann aber gleich wieder loszulassen und sich für das zu interessieren, was nach und vor allem [...] jenseits dieser Differenz geschieht“. Somit gelingt es Kastner gut zu verdeutlichen, dass die zapatistische Politik sich nicht als Identitätspolitik begründet: „Nicht ,wir Indigenen' sind das Subjekt des Kampfes, sondern eine prinzipiell offene Vielstimmigkeit.“ Dementsprechend liest sich dann auch das zapatistische Motto „Hinter unseren Masken sind wir ihr“ (28). 

Derartige theoretische Einsichten sowohl in Bezug auf die Politik der Zapatistas als auch in Zusammenhang mit einer Vielzahl von Theoretikern mit und ohne Zapatismusbezug zu vermitteln, ist auch die Vorgehensweise in den folgenden Kapiteln. Das zweite Kapitel „Verkettung von Differenzen“ skizziert – eine Kritik an den Lateinamerikabeobachtern Dieter Boris und Albert Sterr beinhaltend – den zapatistischen Demokratisierungsanspruch auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene, der sich gegen „alle formaldemokratischen Herrschaftsarrangements“ richte (32). Hierbei kommt die postkolonial bedeutsame „Ablehnung traditioneller Solidaritätsarbeit seitens der EZLN“ ebenso zur Sprache wie ein Übergang vom „dritte[n] Internationalismus“ zum die „Nation“ überwindenden „Transnationalismus“ (38). Das dritte Kapitel „Alles für Alle“ bearbeitet die im Zapatismus so gut zusammengedachte Verbindung von sozialer Gleichheit und kultureller Differenz. Der Begriff des „Indigenen“ wird hier ebenso problematisiert wie das (v.a. in der deutschen Linken) umstrittene „N“ (für Nacional) im Namen der EZLN. 

In Abgrenzung zum Hauptwiderspruchsdenken traditioneller MarxistInnen rezipiert Kastner den peruanischen Marxisten José Carlos Mariátegui, der schon 1929 auf die Verbindung von kapitalistischen und kulturell-rassistischen Unterdrückungsmomenten aufmerksam gemacht hat. Den Kampf um soziale Gleichheit betrachtet Kastner hier u. a. mit der Bezugnahme auf den Magonismus (vgl. ila 340, S. 7/8), den Anarchisten Erich Mühsam und den Philosophen Jacques Rancière. Im vierten Kapitel „System, Ethnie, Assoziation“ geht es um die entwicklungspolitische Diskussion der Autonomie. Hierbei werden die anthropologischen Beiträge von Héctor Díaz-Polanco, Gilberto López y Rivas und Leo Gabriel einbezogen. Hierbei geraten López y Rivas und Gabriel wegen ihrer unkritischen Verwendung von Kategorien wie „Volk“ und „Nation“ sowie essentialistischer Interpretationen indigener Lebensweisen in die Kritik. 

Das fünfte Kapitel „Transnationalisierung und Cultural Politics“ verbindet den Zapatismus mit neueren Konzepten der Forschung zu sozialen Bewegungen. Unter dem Eindruck der Lektüre von Arturo Escobar, Deleuze und Guattari sowie Joachim Hirsch wird diskutiert, welche Rolle der Zapatismus im Rahmen einer kritischen Sozialwissenschaft spielt. Das letzte Kapitel „Anti-Hegemonie, Dekoloniale Option, Exodus“ ist insbesondere aus einer diskurstheoretischen und postkolonialen Perspektive heraus interessant, die sich dem Zusammenhang von Wissen und Macht widmet. Mit dem Kulturwissenschaftler Walter Mignolo und Soziologen Aníbal Quijano wird etwa die vom Zapatismus geleistete Verbindung unterschiedlicher Wissensformen – d. h. der indigenen Kosmovision mit dem Marxismus – erörtert. Wie in allen anderen Kapiteln ließen sich noch zahlreiche weitere Anknüpfungspunkte Kastners aufgreifen; dies und die aufmerksame Lektüre wird jedoch den – nun hoffentlich interessierten – LeserInnen des Buches überlassen.

Ein neues Paradigma

Das wesentlich umfassendere (300 Seiten) im Jahr 2010 erschienene Werk „Zapatismus. Ein neues Paradigma emanzipatorischer Bewegungen“ von Raina Zimmering kann mit dem verbliebenen Platz in dieser Rezension leider nicht angemessen besprochen werden. Es handelt sich, wie beim Buch Kastners, um eine Artikelsammlung (überwiegend) bereits veröffentlichter Aufsätze. Im Unterschied zu Kastners Werk wurde hier aber leider auf eine Aktualisierung und Überarbeitung der zwischen 2000 und 2010 entstandenen Aufsätze verzichtet, so dass gewisse Passagen aus heutiger Perspektive überholt klingen. So etwa: „Den Konflikt in Chiapas will Vicente Fox in 15 Minuten gelöst haben, doch wird der Rückzug des Militärs, die Neutralisierung der Paramilitares und die Verwirklichung des ‚Vertrages von San Andrés über indigene Rechte und Kultur' sicher viel mehr Zeit in Anspruch nehmen. Wie der angehende Präsident den Spagat zwischen all diesen Punkten bewerkstelligen will, bleibt weitgehend unklar“ (55). Dabei hat Zimmering circa zehn Seiten zuvor in einer aktuelleren Passage schon selbst über die „Verstümmelung des Gesetzes der indigenen Rechte und Kultur“ durch die Regierung Fox aufmerksam gemacht (44).

Von diesem Manko abgesehen bietet das Buch eine Fülle an verschiedenen Perspektiven auf das Thema Zapatismus, ohne – wie es der Titel vielleicht suggeriert – einen Anspruch auf eine umfassende Untersuchung zu erheben (19). Das erste Kapitel kontextualisiert den Zapatismus, indem es umfangreich auf die Aneignung des Revolutionsmythos durch die ZapatistInnen, das politische System und die Herrschaft der PRI, verschiedene soziale Bewegungen in Lateinamerika und schließlich auf die Rolle des Militärs eingeht. Das zweite Kapitel „Was ist Zapatismus?“ setzt sich weitestgehend mit dem zapatistischen Politikverständnis und der Hybridform zwischen Guerilla und sozialer Bewegung auseinander. Hierin ist auch eine interessante Diskussion zum Terrorismus-Begriff enthalten. Das dritte Kapitel beleuchtet einen wissenschaftlich bisher kaum beachteten Aspekt der Bewegung: Die „visuellen Diskurspraktiken“ (21) in Form der häufig in zapatistischen Gebieten zu findenden Wandmalereien. Allerdings muss ich der Kritik Kastners zustimmen, dass Zimmering hier die Beteiligung 'nicht-indigener' Künstler an den Gemälden verschweigt – ist diesen doch „eine gewisse westeuropäische HausbesetzerInnen-Formsprache nicht abzuerkennen“ (Kastner, 7) – und sie somit nicht nur ein Spiegel indigener Kosmologie sind, wie es Zimmering suggeriert. 

Das vierte Kapitel gestattet Einblicke in die Problematik der Menschenrechtssituation in Chiapas und die diesbezügliche Arbeit ziviler MenschenrechtsbeobachterInnen. Hierin werden auch kritische Bezüge zur Diskussion um „Global Governance“ hergestellt. Das fünfte Kapitel zum „Paradigmenwechsel im Zapatismus“ geht auf die spätestens seit der „Sechsten Deklaration“ offenkundige, dezidiert anti-kapitalistische und antietatistische Ausrichtung des Zapatismus ein. Hierin findet sich u. a. eine angemessene Kritik an Konzepten des politikwissenschaftlichen Mainstreams, der mittels eines „verengten Politikbegriffs“ proklamieren lässt, soziale Bewegungen könnten „nicht selbst Politik machen, sondern durch Protest lediglich Einfluss auf Politik nehmen“ (234). Des weiteren werden die aktuelleren Entwicklungen der „Anderen Kampagne“, des Konflikts in Atenco und der seit 2003 neustrukturierten Selbstorganisation im Rahmen des zapatistischen Autonomieprozesses aufgegriffen und bewertet. Hierbei kommt Zimmering übrigens auch auf die Kritik der deutschsprachigen Linken an der vermeintlichen „Wiederbelebung der Idee vom Nationalstaat“ (268) durch u.a. die ZapatistInnen zu sprechen. In diesem Zusammenhang gerät interessanterweise vor allem Jens Kastner in die Kritik. Im letzten Kapitel erfährt man durch ein Interview und ein Kurzportrait derk Autorin noch einiges über ihre Person. 
Zusammenfassend lassen sich beide Bücher dem/der am Zapatismus interessierten LeserIn gut empfehlen, wobei Kastners Werk v. a. im doppelten Sinne zur „Theorie-Bildung“ einlädt und das Buch Zimmerings sich aufgrund der detaillierten Gliederung auch gut als Nachschlagewerk eignet. 

Jens Kastner: Alles für alle! Zapatismus zwischen Sozialtheorie, Pop und Pentagon, Edition Assemblage, Münster 2011, 119 Seiten, 12,80 Euro

Raina Zimmering: Zapatismus. Ein neues Paradigma emanzipatorischer Bewegungen, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2010, 300 Seiten, 29,90 Euro