ila

So klingt Hispanoamerika

Entstehung und Weiterentwicklung der Cumbia in Lateinamerika

Es gibt eigentlich kein spanischsprachiges lateinamerikanisches Land, in dem Cumbia nicht populär ist, und das schon seit Jahrzehnten. Vor allem die unteren Klassen tanzen sich seit jeher zu Cumbiaklängen in eine fröhlichere Parallelwelt, weshalb das Genre lange Zeit vom herrschenden Kulturbetrieb despektierlich behandelt und auch in den Medien bewusst vernachlässigt wurde. Nichtsdestotrotz breitete sich die Cumbia ab den 40er Jahren schnell und nachhaltig aus. Verblüffend ist dabei die Anpassungsfähigkeit des Genres, das in den diversesten Regionen neue Cumbiaspielarten hervorbrachte. Cumbiaklassiker werden von Formationen aus unterschiedlichen Ländern immer wieder neu interpretiert und aufgenommen, so dass die Suche nach den „eigentlichen“ Interpreten manchmal recht verwirrend sein kann. Der Anthropologe Darío Blanco Arboleda beschäftigt sich schon seit einigen Jahren mit der Cumbia und ihrer Ausbreitung und vertritt die These, dass sich die seit jeher stigmatisierte Cumbia im letzten halben Jahrhundert zum „Soundtrack“ der popularen Klassen Lateinamerikas gemausert hat. Im Folgenden gibt er einen kurzen Überblick über Entstehung und Weiterentwicklung der Cumbia in Lateinamerika. Dabei konzentriert er sich auf die drei Epizentren der Cumbia: Kolumbien, Mexiko und Argentinien.

Darío Blanco Arboleda

Der exakte geografische Entstehungsort der Cumbia ist unbekannt. Auch über die Entwicklung der Cumbia, was sie beeinflusst hat sowie ihre verschiedenen Elemente (indigen, schwarz und spanisch zu unterschiedlichen Anteilen) sind schon lange und hitzige Diskussionen geführt worden. Aufgrund ihrer Instrumentierung und ihres Tanzformats wissen wir, dass sie von verschiedenen Kulturen geprägt wurde, wie letztlich jede populare Musik in Lateinamerika. In den Spielarten, die dem Original am nächsten sein dürften, kommen die indigenen Flöten caña de millo und gaita1 zum Einsatz. Afrika steuert die einseitig bespannten Trommeln sowie die rhythmische Komplexität bei. Aus Spanien stammen die typische Bekleidung, die melodische Linie sowie die Sprache des Gesangs. 

Um die Geschichte dieses Genres zu rekonstruieren, sind die Aufzeichnungen von Reisenden sehr hilfreich, hier zum Beispiel die Erzählung eines Engländers, der um 1852 in Calamar an der kolumbianischen Karibikküste unterwegs war: „Als ich durch das Dorf ging, sah ich ein Licht, das vom Flussufer kam, und ich hörte den seltsamen Rhythmus einer Trommel, die von Stimmen begleitet wurde. Für manch einen mochten sie wohl Gesang sein, für jemand anderes jedoch reines Plärren. Dort gab es ein großes Gedränge rund um ein tanzendes Paar, aber sie machten mir Platz, damit ich sie sehen konnte. Ich sah das Licht, das von den Kerzen auf den Tischen kam, wo Gebäck, Naschwerk und Rum verkauft wurde. Die Tänzer wiederum, ein alter Schwarzer und eine Frau, tanzten im Mondlicht und nahmen in ihrem Tanz hochinteressante Posen ein. Sie tanzte alleine, während die Arme des Mannes um sie herum waren, ohne sie zu berühren, und er versuchte ihrem Rhythmus zu folgen. Dabei bückte er sich ein bisschen, so dass die Arme auf der Höhe der Taille der Frau waren.“2

Oder die Version eines Franzosen, ungefähr aus dem Jahr 1800: „Die ‚cumbiemba' ist ein absolut indigener Arbeitertanz. Es gibt vor allem keinen Tanzsalon, alles findet unter freiem Himmel statt, auf einem Platz, wo es keine Zäune oder Absperrungen gibt. Gegen acht Uhr abends kommen drei Musiker und lehnen sich an einen Pfosten: ein Mann mit einem Akkordeon, ein anderer mit einer Trommel und ein weiterer, der die Guacharaca-Ratsche spielt. Es gibt ein kleines Vorspiel, das ist die Einladung. Sobald die Musik einen Rhythmus gefunden hat, sieht man Männer und Frauen gruppenweise herbeiziehen, die Männer mit langärmeligen Hemden, die Frauen mit Kerzen und Cucujos – Leuchtkäfern – oder Glühwürmchen auf dem Haar und am Gürtel. Die Frauen, die begeistert von dieser ihrer Lieblingsmusik sind, beginnen unmittelbar um den Pfosten herumzuflattern, gleiten dabei mit einer leicht rhythmischen, lasziven Bewegung über den Boden, dabei gehen sie mit Bauch, Hüften und Taille nach vorne und nach hinten. Die Männer, ihnen gegenüber, führen dieselbe Bewegung aus. Diese so umherflatternden Frauen, die vom Licht der Lampen und Kerzen beleuchtet waren, schienen mir einen glücklichen, strahlenden Ausdruck zu haben. Manchmal sangen sie und mir schien, dass sie erzitterten, von dieser schmachtenden Nachtrunde getragen, wegen eines unbewussten Gefühls, wer weiß, wegen einer Art Befriedigung der Sinne. Sie tanzten bis zum Morgengrauen.“3

Die Cumbia wandelte und verbreitete sich in ganz Lateinamerika, was stark mit den Massenmedien und der Entwicklung neuer Technologien zusammenhing. Eine ganz wesentliche Rolle in der Geschichte des Genres hat dabei ein Mann gespielt: Antonio Fuentes, der in den 30er Jahren in Cartagena an der kolumbianischen Karibikküste die Plattenfirma Disco Fuentes gründete. Auch der Radiosender Fuentes in der Stadt trug seinen Teil zur Erfolgsgeschichte der Cumbia bei. Ab dieser Zeit wird die Musik von der Karibikküste, vor allem die Cumbia, aber auch der Porro und der Vallenato, zum Bezugspunkt für ein neues (Selbst-)Bild der kolumbianischen Nation, das unsere Identität bestärken und gleichzeitig nach außen vermitteln soll. Zu diesem Zweck wird diese ursprünglich schwarze Musik „eingeweißt“: Sowohl was das Erscheinungsbild der Musiker betrifft als auch den Klang selbst, werden externe Parameter angelegt. Vorbild sind dabei die nordamerikanische Big Band und die großen cubanischen Orchester. So verschwindet z.B. die caña de millo und wird von der industriell hergestellten gaita oder der Klarinette ersetzt und die Musikgruppen werden erweitert.

Die 50er Jahre waren die Hochzeiten von Lucho Bermúdez und Pacho Galán, die mit ihren Orchestern durch ganz Lateinamerika tourten und die Saat für die Verbreitung der Cumbia legten, vor allem in Mexiko, Argentinien und Peru. In Mexiko befanden sich in den 60er Jahren die cubanischen Orchester auf einem absteigenden Ast, die kolumbianischen Cumbias von Galán und Bermúdez wurden schnell berühmt. Der Rhythmus etablierte sich und übernahm nach und nach eine zentrale Rolle für die popularen Klassen und ihre Tanzveranstaltungen. Der erste Musiker, der eine mexikanische Version der Cumbia schuf, war Mike Laure. In Argentinien gehörten Efraín Orozco y sus Alegres Muchachos zu den ersten Lokalvertretern der Cumbia; der Kolumbianer Lucho Bermúdez tourte immer wieder durch das Andenland. Die Cumbia fand in Argentinien so großen Anklang, weil sie mit ihrer fröhlichen Einladung zum Tanzen die Menschen begeisterte. Nach und nach mischt sie sich mit der Tanzmusik der Gegend, dem Cuarteto aus Córdoba. Aus diesem Synkretismus heraus entstehen Formationen wie Los Wawancó, Pioniere der Cumbia im Cono Sur.

Ein anderer Meilenstein in der kontinentalen Verbreitung und Weiterentwicklung der Cumbia hat wiederum mit Antonio Fuentes und seinem Plattenlabel zu tun. Als in den 1970er-Jahren auf dem ganzen Kontinent die Salsa mit ihrem Format der kleineren Combo immer mehr an Einfluss gewinnt, wird eine neue Art von Musikformation geschaffen, um die Musik von der kolumbianischen Karibikküste besser zu vermarkten. Die großen Blasorchester mit ihrem Jazzsound fallen dieser weiteren Veränderung zum Opfer und machen Platz für kleinere Formationen mit maximal acht Mitgliedern (im Gegensatz zu 20 und mehr zuvor) sowie dem verstärkten Einsatz von elektronischen Instrumenten. In diesem Kontext entsteht eine der erfolgreichsten Musikgruppen der kolumbianischen Karibikküste: Los Corraleros de Majagual.

Auch in Mexiko wandeln sich Formationen und Instrumentierung der Cumbia, passen sich veränderten Bedürfnissen sowie dem neuen elektronischen Sound an. Die sonideros, die mexikanische Variante der DJs und frühen Soundsystembetreiber, tragen einen entscheidenden Teil dazu bei, dass sich die Cumbia weiter verbreitet und wandelt, bis das Genre zu DER popularen Musik par excellence wird. 

In Argentinien wiederum kam es Ende der 80er Jahre zu einem regelrechten Boom der so genannten música tropical. Dabei wird die Cumbia zur wichtigsten Tanzmusik auf bailantas und in boliches, also auf Tanzveranstaltungen und in Kneipen, in denen sich EinwanderInnen aus dem Landesinneren und anderen Ländern wie Bolivien und Paraguay vergnügen. Cumbia trägt in diesem Kontext zur Herausbildung einer Identität der ImmigrantInnen und Marginalisierten bei. 

In der nordmexikanischen Stadt Monterrey bildet sich gar eine ganze „kolumbianische“ Subkultur heraus, getragen von den sonideros, den Soundsystembetreibern. Vor allem für viele junge StadtbewohnerInnen wirkt auch hier die Cumbia identitätsstiftend. Der wichtigste musikalische Vertreter dieser Bewegung wird Celso Piña und seine Ronda Bogotá (siehe Beiträge auf S. 14 und 19). 

Zurück nach Kolumbien, der Wiege der Cumbia. In den 90er Jahren leitet Carlos Vives eine Revolution im Reich der traditionellen karibischen Musik ein, die im Zuge des Salsa- und Merengue-Booms ab den 70er Jahren einiges an Popularität eingebüßt hatte. Auch er nimmt musikalische Veränderungen vor und mit seiner jugendlichen Ausstrahlung gewinnt er die Herzen des Publikums für sich. Erneut identifiziert sich ganz Kolumbien mit der Karibikregion und ihrer Musik; allerdings setzt Carlos Vives verstärkt auf einen modernisierten Vallenato, das andere große Genre von der Karibikküste.

Etwa zeitgleich tritt in Argentinien die Cumbia Villera an, um mit ihrem ausgeprägten Keyboardsound und ihren derben Texten für Furore zu sorgen (siehe Beitrag auf S. 22). Der Name dieser Cumbiaspielart leitet sich ab von den villas miserias, den Armensiedlungen von Buenos Aires. Und wieder bildet diese Cumbia einen Raum, in dem sich die Marginalisierten treffen und amüsieren können. Die Cumbia Villera bietet mit ihren expliziten Texten, ihrem Sound und ihrer Ästhetik einen Gegenpol zur herrschenden Kultur, deren Vertreter sich geschockt und angewidert abwenden.

Und noch ein letzter Blick auf Mexiko, genauer gesagt auf Monterrey: Hier nehmen Ende der 90er Jahre Gruppen wie El Gran Silencio die Cumbia in ihr Repertoire auf und verbinden sie mit Rock, Ska und Hiphop. Damit landen sie einen großen Erfolg, sowohl in Mexiko als auch im Ausland, und deuten insofern schon an, wohin die Reise im neuen Jahrtausend gehen wird: zur zigsten Neuerschaffung der Cumbia, diesmal in gesampelter Form und digital verarbeitet, heutzutage bekannt als Neocumbia oder Cumbia Electrónica.

  • 1. caña de millo: Rohrflöte, die quer gehalten wird und starken Druck sowie exakte Zungenposition beim Spielen erfordert; gaita: ebenfalls eine ursprünglich indigene Flöte, nicht zu verwechseln mit der Dudelsack-Gaita aus Galizien
  • 2. Holton Isaac, La Nueva Granada: Veinte meses en los Andes, Bogotá, Banco de la República, 1981
  • 3. Henri Candelier, Riohacha y los Indios Guajiros, Bogotá, Ecoe, 1994

Der Autor lehrt und forscht an der Fakultät für Anthropologie an der Universidad de Antioquia in Medellín, Kolumbien.

Der Text entstand auf der Basis eines Vortrags, den der Anthropologe Darío Blanco Arboleda auf dem 9. Kongress für Populare Musik der IASPM-LA in Caracas im Jahr 2010 gehalten hat unter dem Titel La cumbia como la música popular de Latinoamérica. Bearbeitung und Übersetzung: Britt Weyde