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Normalität nur an der Oberfläche

Ein Krimi aus Peru
Gert Eisenbürger

Die peruanische Provinz Ayacucho war in den achtziger und neunziger Jahren der wichtigste Schauplatz des Krieges zwischen der ultrastalinistischen Guerillagruppe Sendero Luminoso (Leuchtender Pfad) und den peruanischen Streitkräften. Dieser bewaffnete Konflikt wurde von beiden Seiten mit äußerster Brutalität geführt, die sich nicht nur gegen die jeweiligen militärischen KämpferInnen (Frauen gab es nur in den Reihen von Sendero), sondern vor allem auch gegen die Zivilbevölkerung richtete. Wenn Campesinos oder ganzen Dorfgemeinschaften von einer Seite unterstellt wurde, die andere zu unterstützen, wurden sie brutal niedergemacht, Massaker waren in dem schmutzigen Krieg an der Tagesordnung. Die Wahrheitskommission, die 2003 ihren Bericht über die Menschenrechtsverletzungen während des Krieges veröffentlichte, kommt zu dem Ergebnis, dass 54 Prozent der Kriegsverbrechen auf das Konto von Sendero Luminoso gingen, für rund 45 Prozent waren danach die Armee, mit ihr verbundene paramiliträische Gruppen (zum Beispiel die von den Militärs organisierten ländlichen Selbstverteidigungskomitees) und die Polizei verantwortlich. Mehr als drei Viertel der Todesopfer waren Indígenas.

Ab Beginn der neunziger Jahre gewann die peruanische Armee militärisch zunehmend die Oberhand. Mit der Verhaftung des Sendero-Führers Abimael Guzman (Presidente Gonzalo) im September 1992 und dessen Appell für einen Waffenstillstand im folgenden Jahr war der bewaffnete Konflikt entschieden, auch wenn kleinere Guerillagruppen, die aus dem Leuchtenden Pfad hervorgegangen sind, sich aber teilweise ideologisch davon absetzen, bis heute gegen die Armee kämpfen. Insgesamt gilt Ayacucho aber als „befriedet“. Vor allem die gleichnamige Provinzhauptstadt, die während des Krieges wie die gesamte Region eine No Go Area war, ist wieder Ziel in- und ausländischer TouristInnen.

In eben dieser nach dem Krieg wieder aufpolierten Stadt Ayacucho, während der bei Reisenden besonders beliebten Semana Santa (Karwoche), deren Prozessionen und Rituale nur noch von denen im spanischen Sevilla übertroffen werden, spielt der Kriminalroman „Roter April“ des in Barcelona lebenden peruanischen Autors Santiago Roncagliolo.

Er beginnt mit dem Auffinden einer halbverkohlten Leiche in einem Dorf kurz nach Karneval. Mit den Ermittlungen wird der junge Staatsanwalt Félix Chacaltana Saldívar beauftragt. Dieser war im Jahr vorher von Ayacucho nach Lima versetzt worden und ist das, was man einen gesetzestreuen loyalen Staatsdiener nennt. Ohne dazuzugehören fühlt er sich der lokalen Obrigkeit verbunden, in der die Militärs trotz des Endes des internen Krieges immer noch den Ton angeben. Seine Korrektheit verbietet es ihm aber dann doch, deren Empfehlungen zu befolgen, die Akte ohne weitere Ermittlungen zu schließen, weil der Tote doch vermutlich sowieso Opfer eines Eifersuchtsdramas während der Karnevalstage geworden sei. Staatsanwalt Félix Chacaltana Saldívar ordnet also eine Obduktion der Leiche an, schreibt detaillierte Berichte für seine Vorgesetzten und beginnt zu ermitteln, versucht es zumindest.

Zwischenzeitlich wird er zur Überwachung der von Fujimori anberaumten (Schein-)Wahlen in ein Andendorf geschickt. Dort erfährt er, dass die Region keineswegs so befriedet ist, wie er in der Provinzhauptstadt gedacht hatte. Zudem wird er verfolgt und hat eine merkwürdige Begegnung. Es kommt zu weiteren Morden, zunächst in dem Dorf, später, nach seiner Rückkehr, auch in der Stadt Ayacucho. Ziel der Attentate sind Menschen, die der zunehmend verunsicherte Staatsanwalt getroffen oder für seine von allen Seiten torpedierten Mordermittlungen befragt hatte. Er sieht sich immer stärker selbst bedroht und weiß nicht mehr, wem er noch trauen kann. Einzig eine sich anbahnende Beziehung zu der Kellnerin Edith, die fast schon pathologische Verehrung seiner verstorbenen Mutter und das väterliche Wohlwollen des Militärkommandanten halten ihn aufrecht. Doch in der Karwoche kommt es zum showdown, der untadelige Staatsanwalt wird selbst zum Täter und versteht viel zu spät, was eigentlich gespielt wird.

Das Thema von Roncagliolos Krimi ist die Gewalt in Ayacucho. Allerdings erfährt man nichts über die Ursachen dieser Gewalt, warum es zu einem derartig brutal geführten bewaffneten Konflikt kam, welche Strukturen es möglich machten, dass eine autoritäre und anachronistische Organisation wie der Leuchtende Pfad eine Massenbasis aufbauen und große Teile der Provinz unter ihre Kontrolle bringen konnte. Den Autor interessiert vielmehr das Leben in Ayacucho nach dem (vermeintlichen) Ende des Krieges. Eine Konfliktpartei, das Militär, hat dort die militärische Oberhand gewonnen, aber Frieden herrscht noch lange nicht. Die Wunden wurden ebenso wie die Fassaden der Stadt oberflächlich behandelt, aber die Akteure agieren weiterhin so, als ob noch Krieg herrsche, und sind in ihrer Logik der (Männer-) Gewalt gefangen. Eine Auseinandersetzung mit den Geschehnissen während des Krieges hat nicht einmal eingesetzt, die Vergangenheit ist längst nicht vergangen. Vor diesem Hintergrund und mit den genannten Einschränkungen ist „Roter April“ ein spannender, unterhaltsamer Krimi, dessen im ersten Teil durchaus komische Momente immer mehr dem Grauen weichen. 

Santiago Roncagliolo: Roter April, Übersetzung: Angelica Ammar, Suhrkamp-Verlag, Frankfurt/M. 2008, 333 Seiten (geb.), 19,80 Euro