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Es wird schwieriger, den Zielen treu zu bleiben

Zehn Jahre Selbstverwaltung bei Zanon in Argentinien
Alix Arnold

Im April 2002 habe ich sie zum ersten Mal getroffen, in Buenos Aires. Compañeros der Fliesenfabrik Zanon waren aus dem 14 Busstunden entfernten Neuquén in die Hauptstadt gereist, wo sie zusammen mit den Compañeras der Textilfabrik Brukman zu einem „Treffen zur Verteidigung der besetzten Fabriken“ aufgerufen hatten. Nach dem Aufstand war das Land noch in Aufruhr; bei den 700 TeilnehmerInnen des Treffens herrschte Aufbruchstimmung. Die Arbeiter von Zanon hatten in ihrer seit einem halben Jahr besetzten Fabrik gerade die Produktion wieder aufgenommen, sie verkauften die ersten in Selbstverwaltung hergestellten Soli-Kacheln mit dem Logo ihrer Gewerkschaft und propagierten für den Betrieb die „Verstaatlichung unter Arbeiterkontrolle“. Die konnten sie zwar letzten Endes nicht durchsetzen, aber nach mehreren gescheiterten Räumungsversuchen beschloss das Provinzparlament 2009, die Fabrik zu enteignen und der von den ArbeiterInnen gegründeten Kooperative FaSinPat zu überlassen (vgl. ila 328).

Wie hat sich die Legalisierung im Fabrikalltag ausgewirkt? Lassen sich Politisierung und Basisdemokratie im Betrieb aufrechterhalten, in einem Land, in dem von den damaligen Bewegungen nicht mehr viel zu sehen ist? Werden die ArbeiterInnen von Zanon, nun wo sie selbst nicht mehr bedroht und auf Solidarität angewiesen sind, weiterhin die Kämpfe anderer KollegInnen unterstützen? Und wie sieht es ökonomisch aus? Kann es gelingen, längerfristig in der kapitalistischen Konkurrenz zu bestehen? 

Im März 2012 fahre ich wieder nach Neuquén. Bei Zanon ist eine Vollversammlung geplant. Auf der Fahrt vom Busbahnhof zur Fabrik berichtet Raúl von den Turbulenzen der letzten Tage. Bei der Mineralwasserfirma Aqualic waren nach einem Lohnkonflikt 19 ArbeiterInnen entlassen worden. Compañer@s von Zanon und anderen Betrieben kamen zur Unterstützung, verteilten Flugblätter, blockierten das Werkstor. Der Unternehmer heuerte Schläger an, die die Gewerkschaftsdelegierten verprügelten. Die UnterstützerInnen mobilisierten wieder zum Betrieb. Diesmal zogen die Schläger des Unternehmers den Kürzeren. Die Schusswaffen, die sie dabei hatten, kamen glücklicherweise nicht zum Einsatz. Schließlich wurde die Wiedereinstellung von acht Kollegen durchgesetzt; die übrigen nahmen Abfindungen an. Ohne die Unterstützung von außen wäre auch dieser halbe Erfolg nicht möglich gewesen.

Die Compañer@s von Zanon sind nach wie vor ein Bezugspunkt für andere ArbeiterInnen. Sie sind in sämtlichen Konflikten in der Region präsent. Aber es ist schwieriger geworden, in der Fabrik für solche Aktionen zu mobilisieren. Dort haben „die Rechten“ mehr Einfluss gewonnen. Wirtschaftlich geht es dem Betrieb schlecht. Die Maschinerie ist veraltet, andere Betriebe produzieren billiger und die Compañer@s von Zanon verdienen nur noch halb so viel wie die ArbeiterInnen in der benachbarten – kapitalistisch geführten – Fliesenfabrik. In dieser Situation ist es für die Rechten einfacher geworden, gegen die Solidarität mit anderen zu hetzen.

Im Büro der Fabrik treffen wir Elisa und Reinaldo. Sie besprechen die Montag anstehende Vollversammlung. Eine solche Jornada, zu der sich die KollegInnen aller drei Schichten in der Frühschicht zusammensetzen, hat wegen der Sommer- und Urlaubszeit seit drei Monaten nicht stattgefunden. Auch diesmal wird es wieder um Solidarität gehen und Elisa befürchtet, dass die Rechten den Vorschlag der Gewerkschaft torpedieren könnten. Elisa hat vor drei Jahren in der Fabrik angefangen: „Ich bin auf ziemlich ungewöhnliche Weise hier reingekommen.“ Mit der Ausweitung der Produktion nach der Besetzung wurden bei Zanon bevorzugt Compañer@s aus der Arbeitslosenbewegung MTD eingestellt. So kam Elisas Mann zu Zanon, aber wegen seiner Drogenprobleme flog er aus der Fabrik raus und sie trennte sich von ihm. Mit ihren Minijobs in Privathaushalten kam sie mit ihren vier Söhnen nicht über die Runden. Also ging sie zur nächsten Jornada bei Zanon, erklärte ihre Situation und fragte, ob sie anstelle ihres Mannes dort arbeiten könne. Ihr Antrag wurde angenommen. Sie arbeitet in der Glasurabteilung am Band und ist eine der Aktiven in der Gewerkschaft.

Die kleine Gewerkschaft SOECN ist in vier Fliesen- und Ziegelfabriken vertreten. Drei befinden sich in Neuquén, eine im 100 Kilometer entfernten Cutral Có. Chefs gibt es nur noch in der Fliesenfabrik direkt neben Zanon; die anderen drei Betriebe arbeiten in Selbstverwaltung. Die kleine Ziegelfabrik Cerámica del Valle wurde 2003 nach längeren Auseinandersetzungen besetzt, die Ziegelfabrik Stefani vor zwei Jahren. Damit hat die Gewerkschaft eine neue Rolle bekommen – als Sammelpunkt der Linken und AktivistInnen im Betrieb, als politische Führung, aber auch als Instanz, die Vorschläge zur Durchsetzung der Disziplin macht und oft in der Kritik steht. Trotz der eigenen prekären Situation wollen sie am Montag vorschlagen, die Compañer@s von Cerámica del Valle zu unterstützen, die ihr altes Fabrikgebäude nun doch verlassen müssen.

Bei Zanon arbeiten heute 49 Frauen, bei der Besetzung waren nur acht dabei. Auch Zulma, die seit fünf Jahren im Betrieb ist, gehört zu den Aktivistinnen. Sie beklagt, dass sich von den damals 30 Eingestellten nur fünf für das Projekt engagieren. Die übrigen arbeiten ihre acht Stunden und gehen dann nach Hause, ohne sich weiter Gedanken zu machen. Es gab bei der Einstellung einen Vortrag über die Geschichte der Besetzung. „Aber die haben den Kampf um die Fabrik eben nicht selbst miterlebt. Wie soll das mal werden, wenn keiner von den Älteren mehr da ist? Was wird dann noch übrigbleiben von der Solidarität?“ Wichtig sei aber vor allem, die Räume der Arbeiterdemokratie zu erhalten, die Versammlungen und die Jornadas, auf denen debattiert werden kann. Dass es verschiedene Ansichten gäbe in der Fabrik, sei ja nicht das Problem.

Cristian, der für Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist, betont die große Verantwortung, die sie für dieses Projekt haben. Zanon wird von so vielen Leuten überall auf der Welt als positives Beispiel angesehen, für einen erfolgreichen Kampf von ArbeiterInnen und für funktionierende Selbstverwaltung. An diese Fabrik im fernen Patagonien sind so viele Hoffnungen geknüpft und allein schon deswegen darf sie nicht scheitern, weder ökonomisch noch politisch. Der Kampf um Zanon ist auch nach der Legalisierung noch lange nicht beendet.

Am Montagmorgen um sechs Uhr erscheinen fast 400 der 470 Compañer@s zur Jornada. Inzwischen gibt es ausreichend Plastikstühle für alle und eine gute Anlage mit Funkmikrofonen für die Diskussion. Die Tagesordnung ist lang, trotzdem wird beschlossen, alle Punkte mit der nötigen Ausführlichkeit zu behandeln. Zuerst geht es um den Rausschmiss eines Kollegen, der seine Situation darstellt und Besserung gelobt. Bei der Abstimmung ist nur einer bereit, ihm noch eine Chance zu geben.

Als nächstes werden die Produktionszahlen vorgestellt. Seit drei Jahren gehen die Verkaufszahlen zurück. Andere Betriebe geben Rabatte, die sie sich nicht leisten können. Mit der veralteten Maschinerie können sie in der kapitalistischen Konkurrenz nicht mithalten. Die für eine Modernisierung notwendigen Kredite bekommen sie nicht, weil der rechtliche Status immer noch in der Schwebe ist, obwohl der Beschluss zur Enteignung des Betriebes schon fast drei Jahre alt ist. Erst wenn die Provinzregierung die vereinbarte Entschädigungssumme für die Gläubiger dem Gericht übergeben hat, kann die Fabrik der Arbeiterkooperative überschrieben werden. Außerdem haben ehemalige ArbeiterInnen, die als Streikbrecher auf der Seite des Chefs standen und die Fabrik verlassen haben, gegen die Enteignung geklagt. Da sie nicht berücksichtigt wurden, sei das Verfahren verfassungswidrig. Ihre Klage wurde soeben (Mitte Juni) abgewiesen, aber sie haben die Möglichkeit, beim Obersten Gerichtshof Berufung einzulegen. Auch der absehbare Streit zwischen den Gläubigern, wer wie viel von der Summe bekommt, könnte den Abschluss des Verfahrens weiter verzögern. Um aus dieser Zwickmühle herauszukommen, arbeiten die Compañer@s zurzeit mithilfe der örtlichen Universität einen Antrag aus, nach dem die Provinzregierung das Kapital für die technologische Erneuerung zur Verfügung stellen soll.

Auf der Jornada führt die Situation zu langen Diskussionen über Produktivität, Qualität und Arbeitsmoral. Die Kollegen aus dem Verkauf werden kritisiert, weil sie nicht mehr wie früher Außendienst machen, um neue KundInnen zu gewinnen. In der Produktion achten viele nicht auf die Qualität. Sie lassen die Maschinen einfach weiterlaufen, auch wenn dabei mindere Qualität oder Ausschuss rauskommt. Manche KollegInnen kümmern sich um nichts und machen es sich auf Kosten aller anderen bequem, aber niemand unternimmt etwas dagegen. Einige fordern, gegen den Schlendrian durchzugreifen. „Wir wissen doch genau, wer diejenigen sind, die nur rumstehen und Mate trinken!“ Als ich 2003 zum ersten Mal in der Fabrik war, haben alle, mit denen ich gesprochen habe, betont, wie ruhig die Arbeit im Vergleich zu früher geworden ist: Kein Druck und keine Unfallgefahren mehr und sogar Zeit, am Arbeitsplatz Mate zu trinken und sich zu unterhalten! Das war unter dem Chef bei Zanon strengstens verboten gewesen. Das in Argentinien so beliebte Ritual der Mate-Runden, bei denen der Teebecher, der immer wieder neu aufgegossen wird, von Hand zu Hand geht, galt damals als Symbol für die neu eroberte Freiheit in der Fabrik. 

Am späten Vormittag wird klar, dass eine Schicht diesmal nicht ausreicht, alles zu besprechen. Der Vorschlag, die Jornada am nächsten Tag fortzusetzen – auch wenn ein weiterer Tag Produktionsausfall finanziell gesehen gar nicht gut ist – wird angenommen. Nach einer Pause treten nacheinander fünf Compañer@s vor die Versammlung, um zu begründen, warum sie den Betrieb verlassen. Keiner von ihnen tut das gerne, aber aus familiären oder sonstigen Gründen brauchen sie mehr Geld und nehmen deshalb besser bezahlte Jobs an. Ein trauriger Abschied, bei dem einige Tränen fließen.

Die Debatte über die Produktion wird am nächsten Morgen fortgesetzt, nimmt aber mit der Zeit eine andere Wendung: „Compañeros, wir sind doch schon aus viel schwierigeren Situationen rausgekommen!“ Statt gegenseitiger Vorwürfe werden nun Pläne geschmiedet. Für einen Neuanfang sollen alle Abteilungen neue KoordinatorInnen wählen. Einige brauchen dafür ziemlich lange. Die übrigen machen Pause, unterhalten sich. Die Stimmung ist weniger angespannt; es ist wieder etwas von dem Gemeinschaftsgeist aus Besetzungszeiten zu spüren. Und beim nächsten Punkt sind sich sowieso alle einig: Eine Lohnerhöhung muss her. Mit 3600 Pesos (etwa 640 Euro) kann niemand seine Familie ernähren. Eine Lohnerhöhung auf Dauer zu beschließen ist in der finanziell prekären Situation nicht möglich. Aber für den nächsten Monat sollen erstmal alle 1000 Pesos zusätzlich bekommen. So weit, so gut. Aber dann fragt eine Kollegin, wie das mit den Kranken sei, ob die ebenfalls die 1000 Pesos bekommen sollten? 

Einige sind schon lange krankgeschrieben und manchen wird unterstellt, dass sie simulieren, um Zeit für andere Jobs zu haben. Das sei doch ungerecht, wenn solche Leute die Sonderzahlung auch bekommen. Für eine allgemeine Regelung findet sich keine Einigung und so wird schließlich über die mehr als dreißig Kranken einzeln abgestimmt. Nachdem nun schon durch Streichung bei einzelnen gespart wird, setzt einer der „Rechten“ noch eins drauf. Er stellt einen alten Beschluss in Frage, nach dem einige ehemalige Kollegen in Notlagen oder Familien von verstorbenen Kollegen weiterhin den Lohn bekommen. Auch hier werden nun einige Streichungen beschlossen. Ein hässlicher Moment und Tiefpunkt der Jornada, die um diese Zeit eigentlich schon längst zu Ende sein sollte.

Ausgerechnet in dieser Atmosphäre steht nun noch das Thema der Compañeros von Cerámica del Valle an. Sie erklären, dass sie ihr Fabrikgebäude verlassen müssen, weil der frühere Besitzer mit rechtlichen Manövern erfolgreich war und weil die AnwohnerInnen zwar prinzipiell auf ihrer Seite stünden, aber von dieser alten Fabrik mitten im Wohnviertel auch nicht begeistert seien. Ihre Verhandlungen mit der Stadt und der Landesregierung über einen neuen Standort hätten noch kein Ergebnis gebracht. Die Gewerkschaft schlägt deshalb vor, den Compañer@s einen Teil des Zanon-Geländes zu überlassen, damit sie dort ihre Produktion aufbauen können. Es kommt noch einmal zu einer heftigen Debatte. Mehrere unterstützen den Vorschlag. Zulma hält eine schöne Rede über die Solidarität und erinnert an die gemeinsamen Kämpfe, die sie schon geführt hätten.

Aber es gibt auch Gegenstimmen. Technische Probleme werden angeführt und Zweifel, ob das Projekt funktionieren kann. Und es wird offen betriebsegoistisch argumentiert: Nachdem nun zwei Tage lang über die schwerwiegenden eigenen Probleme geredet worden sei, müsste doch klar sein, dass die Compañeros von Zanon nicht mehr ständig andere unterstützen könnten, sondern erstmal an sich selber denken müssten. Für einen Moment steht die Solidarität auf der Kippe. Aber dann findet sich ein Alternativvorschlag, der mit großer Mehrheit angenommen wird. Die 13 Compañer@s der Ziegelfabrik werden in die Zanonbelegschaft integriert, können ihre Maschinen auf dem Gelände zwischenlagern und von dort aus ihr Projekt weiterverfolgen. So findet diese denkwürdige Versammlung nach zwei Tagen um 15:45 Uhr doch noch ein gutes Ende. Dutzende Compañeros und Compañeras liegen sich in den Armen und wieder fließen Tränen – diesmal vor Freude.