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Schulden, Moral und Patriarchat

Zu David Graebers Buch: Schulden – Die ersten 5000 Jahre
Veronika Bennholdt-Thomsen

Graebers Thema ist die Schuldenmoral, also der moralische Imperativ hinter den Schulden. Ausgelöst wird sein Forschungsinteresse von der gegenwärtigen Finanzkrise und der unerträglichen Last, die die Kreditschulden den kleinen Leuten überall auf der Welt, sowie den Staatshaushalten ganzer Länder aufbürden. Warum also gilt die moralische Pflicht, dass Schulden zurückgezahlt werden müssen, zumal doch alle wissen, wie ungerecht die Last verteilt ist? Graeber ist ein inzwischen prominenter Mitstreiter von Occupy Wallstreet, ein Anthropologe und Hochschullehrer und als solcher verfolgt er, wie Schulden in verschiedenen Kulturen, zu unterschiedlichen Zeiten und auf unterschiedlichen Kontinenten gehandhabt werden, und zwar seit 5000 Jahren.

Das Buch ist über 500 Seiten lang und schwer zu lesen. Denn Graeber geht nicht analytisch vor, nimmt den Leser/die Leserin nicht an die Hand, keine Metasprache, keine Thesen. So erläutert er an keiner Stelle explizit, wie eigentlich Schuld als moralische Kategorie und Finanzschulden zusammenhängen. Selbst Anthropologin, würde ich von Graeber gerne wissen, ob und wie Schuld als kollektiv geteiltes moralisches Gefühl mit einem monotheistischen Weltbild einhergeht oder eben nicht. Kennen Gesellschaften ohne die Idee einer Schuld gegenüber einem höheren Wesen auch keine Geldschulden, ja, womöglich kein Geld? Was heißt Schuldenmoral, was bedeutet Geld in den verschiedenen Kontexten? Irgendwie steht zu diesen Fragen einiges in Graebers Buch, die Leserin kann zu Antworten kommen, aber eben nur irgendwie. Graeber erzählt Geschichte in Form von Geschichten. Welche Erkenntnis sie transportieren sollen, erschließt sich nur mühselig. Womöglich liegt es daran, dass er nicht vorhat, Visionen, Lösungen oder konkrete Vorschläge, wie es anders gehen könnte, zu unterbreiten, was mir durchaus sympathisch ist. Dennoch täte eine klarere theoretische Sprache dem Buch gut.

Durch sämtliche Kapitel hindurch betont Graeber: erst war der Kredit, dann kam das Geld und dann der Tauschhandel. Warum ist ihm das so wichtig? Weil er damit gegen den überwältigenden Mainstream der etablierten wirtschaftswissenschaftlichen Beiträge antreten kann. Dem Mythos der ÖkonomInnen, dass jegliche arbeitsteilige Gesellschaft ohne Tauschhandel gar nicht funktionieren könne, ergo Markt und Geld gesellschaftlich notwendig im Zentrum aller ökonomischen Überlegungen zu stehen haben – womit der sich selbst regulierende freie Markt und die Geldmengentheorie fast schon naturgesetzlich legitimiert scheinen –, diesem Mythos kann der Anthropologe empirisch fundiert entgegentreten. Nicht zuletzt dadurch kann er seine Aussagen als ökonomisch relevant reklamieren, relevanter als das, was die Anhänger des Mythos von sich geben. Occupy Wallstreet lässt grüßen!

Graeber betont den Unterschied und die geschichtliche Reihenfolge von Kredit, Geld und Tauschhandel ferner deshalb, weil für ihn damit nachweisbar ist, dass Kreditsysteme – manchmal selbst für archaische Epochen von ihm „virtuelles Geld“ genannt – im Vergleich zum geprägten Bargeld weniger Gewalt mit sich bringen. Gewalt ist dabei ganz konkret gemeint, als Sklaverei und Krieg.

Graebers Ansatz ist im klassischen Sinn „anthropologisch“, d.h. es werden Aussagen über die menschliche Spezies und ihre Vergesellschaftung schlechthin gemacht. Geschichte ist aus dieser Perspektive die Veränderung des Menschen als „humanides Wesen oder, was dasselbe meint, als Kulturwesen“1 durch die Zeiten und Kontinente. Dass Graeber zyklisch wiederkehrende Muster in den letzten 5000 Jahren erkennt und herausarbeitet, eben auch viele Züge unserer Zeit in früheren Epochen, ist hilfreich, denn es löst die Einzigartigkeit unserer Epoche auf. Damit wird auch das Gefühl der Ohnmacht gegenüber den scheinbar einzigartigen Problemen unserer Zeit aufgelöst.

Bei aller antievolutionistischen, anthropologisch strukturalistischen Ahistorizität ist und bleibt Graeber aber genauso ein Kind unserer Zeit wie wir LeserInnen auch, und er steht in einer vorgegebenen Begriffstradition, die ich grob als US-amerikanisch umreißen möchte. Die Worte „Geld“, „Tausch“, „Kredit“, „Schuld und Schulden“ gebraucht er jedoch ohne Bedenken durchgängig für jedwede Epoche, so dass der Leser/die Leserin sich über lange Seiten hinweg die spezifische Bedeutung in einer gegebenen Zeit und Weltregion selbst herausfiltern muss. Meiner Meinung nach kommen wir aber um metatheoretische Erklärungen und explizite Begriffsklärungen nicht herum, erst recht nicht, wenn wir uns jenseits der eingetretenen Pfade des herrschenden Diskurses verständigen wollen.

Graeber enthält sich jeglicher expliziter Aussagen, wie es anders gehen könnte, mit einer Ausnahme: „ein Ablassjahr nach biblischem Vorbild ist überfällig, für Staatsschulden wie für Konsumschulden“. Auch ich sehe im Schuldenerlass die vermutlich die einzige Maßnahme, die das gegenwärtige Weltwirtschaftssystem vor dem völligen Zusammenbruch bewahren kann. Aber wollen wir das? Ja, und nochmals ja! Aber doch nur so, dass es hinterher nicht genauso weitergehen kann wie bisher! Wenn Graeber in diesem Zusammenhang seine Hoffnung an die „richtige Demokratie“ knüpft, kann ich ihm nicht folgen. Repräsentativität hilft da nicht weiter. Die Gesellschaft, wir alle müssen – es bleibt uns nichts anderes übrig! – lernen, die Welt jenseits von Schulden, Geld und Kredit zu denken. Und zwar jetzt. Und zwar tätig hier und heute. Es mag aber auch sein, dass David Graeber derselben Meinung ist, schließlich nennt er sich Anarchist.

Die unterworfene Stellung der Frau, die mit einer von Gewalt geprägten Wirtschaftsweise einhergeht, sieht Graeber als „ein allgemeines, überall auf der Welt anzutreffendes Muster“ (187). Aber was heißt das? Wohin führt diese Erkenntnis bei unserer heutigen Suche nach Wegen aus der zerstörerischen Macht der Schulden und aus einer Wirtschaftskultur, die die Menschen zu „Plünderern herabwürdigt“? Eigentlich legt der Autor hier mit seinem Bemühen, die hohe Bedeutung von Schulden und die Moral der Schulden in unserer Zivilisation zu begreifen, entscheidende Grundlagen für eine Antwort. Denn die Herrschaft und die Kontrolle über die Frau ist in der Tat der Schlüssel, um zu verstehen, warum dem Geld- und Warensystem geradezu totalitäre Macht zugeschrieben wird: Geld wird mit Existenz gleichgesetzt. Ohne Geld kann man nicht leben, lautet das Credo. Oder wie Graeber es ausdrückt: „Man muss sich verschulden, um ein Leben führen zu können, das nicht auf das bloße Überleben beschränkt ist“ (398).

Eigentlich müsste Graeber, so wie er uns Schulden anthropologisch zu erklären sucht, den Zusatz „das nicht auf das bloße Überleben beschränkt ist“ weglassen. In das heutige Verständnis von Geldschulden fließt für ihn jenes, eben nicht nur archaische, patriarchale Verständnis von „das Leben schulden“ mit ein. Zu Recht, deshalb: Man muss sich verschulden, um ein Leben führen zu können. Punkt.

Herrschaft und Kontrolle über die Frau sind das Wesen des Geldes und finden darin zugleich ihre symbolhaft geronnene Form. Denn Herrschaft über die Frau bedeutet Kontrolle über das Leben auszuüben, indem diejenigen, die das Leben hervorbringen, unterworfen werden. In vielen Beispielen zeigt Graeber, dass durch die patriarchalen Zeiten hindurch Macht über das Leben anderer dadurch ausgeübt wird, dass sie getötet werden „können“, ihnen aber das Leben „geschenkt“ wird. Nicht die Mutter schenkt das Leben, sondern der Herr, der Kriegsherr, der Herr der SklavInnen.

Wenn diese patriarchale Grundlegung des Geldes ernst genommen wird, lässt sich auch das Dilemma auflösen, das bereits in Graebers Ansatz enthalten ist, nämlich dass Schuld und Schulden vorgeblich eine anthropologische Konstante sind. Graeber sieht die Verpflichtung der Menschen füreinander, d. h. die Verbindlichkeit hinsichtlich der gegenseitigen Versprechungen als etwas, das sie einander schulden, sodass es anthropologisch nicht verwunderlich ist, dass sich daraus die Schulden entwickeln. Oder anders ausgedrückt, Schulden, wie wir sie heutzutage kennen, wurzeln für Graeber in den Verbindlichkeiten, die notwendig sind, damit eine menschliche Gemeinschaft überhaupt als solche funktionieren kann. Nur mit letzterem hat er recht.

Wenn jedoch gesellschaftlich kulturell gewusst wird, dass das Leben einen Wert an sich hat und nicht patriarchalisch geglaubt wird, dass der Wert des Lebens darin besteht, dass der Mensch nicht getötet wird, dann gibt es keine Verpflichtung, die Menschen einander moralisch schulden würden. Die Kinder werden aus der Mutter geboren, sie schenkt ihnen das Leben, sie schulden es ihr nicht. Unter solchen kulturellen Bedingungen bedarf es keiner Versprechen und keiner moralischen Verpflichtung, die Lebensschuld einlösen zu müssen, sondern Geben und Empfangen sind Teil des Flusses des Lebens, ohne jegliche Verpflichtung. So wie uns das Leben gegeben wurde, so sind die Menschen durch das Kontinuum von Geben, Empfangen und Weitergeben miteinander verbunden. Das sind die Prinzipien einer Ökonomie des Gebens oder gifteconomy (Geneviève Vaughan). Geben ist der Kitt der Gesellschaft, nicht die moralische Verpflichtung oder Schuld.

Das Wissen, ja, der Wunsch, bedingungslos zu geben, sind in unserer heutigen Gesellschaft nach wie vor intuitiv da, mindestens so wie die verpflichtende Moral, Schulden müsse man zurückzahlen. Dieses Wissen gilt es, ins Bewusstsein des Mainstreams zu heben. Die Kultur der Gabe ist mitnichten unwiederbringlich verloren. Friedrich Engels' Umbruch „vom Matriarchat ins Patriarchat“ als „weltgeschichtliche Niederlage des weiblichen Geschlechts“, und zwar ein für allemal vor mehr als 5000 Jahren, ist ein patriarchaler Mythos. Gerade die Anthropologie (oder Ethnologie), Graebers Disziplin, berichtet von Gesellschaften, in denen die Gabe und vor allem das bedingungslose mütterliche Geben die Struktur der Gemeinschaft prägen, und zwar auch in postkolonialer Zeit, sogar noch bis heute. Auch die Kulturen, von deren Geschichte(n) Graeber erzählt, enthalten jene lebens-werten Elemente, die uns viel sagen können für den Aufbruch in eine neue Zivilisation ohne Schuld.

Vielleicht aber handelt Graebers nächstes Buch genau davon. Sein Archiv dafür dürfte groß genug sein und sein aktuelles Buch endet in dieser Hinsicht recht hoffnungsvoll: „Was sind Schulden denn überhaupt? Sie sind nichts weiter als die Perversion eines Versprechens, das von der Mathematik und der Gewalt verfälscht wurde. Wenn wirkliche Freiheit darin besteht, Freundschaften zu schließen, so umfasst sie zwangsläufig auch die Fähigkeit, wirkliche Versprechen abzugeben. Welche Art von Versprechen könnten wirklich freie Menschen einander geben? Heute sind wir nicht einmal in der Lage, diese Frage zu beantworten. Wir müssen erst einmal die Fähigkeit entwickeln, herauszufinden, wie solche Versprechen aussehen könnten. Wir müssen uns nur Folgendes bewusst machen: Niemand hat das Recht, uns zu sagen, was wir wirklich schulden. Niemand hat das Recht, uns zu sagen, was wir wirklich wert sind.“ (S. 410)

David Graeber: Schulden. Die ersten 5000 Jahre, Klett-Cotta, Stuttgart 2012, 536 Seiten, 26,95 Euro

  • 1. Wilhelm E. Mühlmann, Geschichte der Anthropologie, Athenäum: Frankfurt a.M. 1968, S. 21