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Ganz ruhiges Kino

Eindrücke vom 27. Unabhängigen Filmfest Osnabrück

Innerhalb des Filmfestes in Osnabrück gibt es seit ein paar Jahren die Vistas Latinas, eine Auswahl neuer Dokumentar- und Spielfilme aus Lateinamerika. Seit Osnabrück sich zur Friedensstadt erklärt hat, gibt es auch einen mit 5000 Euro dotierten Friedensfilmpreis. Den haben dieses Jahr Sharqia, ein israelisch-französisch-deutscher Spielfilm über den Kampf eines Beduinen gegen die Räumung seiner Siedlung, und der mexikanische Dokumentarfilm El lugar más pequeño („Der kleinste Ort“) gewonnen. Er handelt von der vollständigen Zerstörung und Entvölkerung des Städtchens Cinquera in El Salvador, von seiner Wiederbesiedlung und dem Wiederaufbau. Ich war gebeten, im Anschluss an diesen Film für Fragen und Kommentare zur Verfügung zu stehen. Und weil ich schon mal da war, schaute ich mir anschließend die Spielfilme Las Acacias („Die Akazien“) aus Argentinien und El Lenguaje de los Machetes („Die Sprache der Macheten“) aus Mexiko an.

Ulf Baumgärtner

El lugar más pequeño erklärt im Vorspann seine Absicht: „Dieser Film ist den Überlebenden des Krieges gewidmet, die ihre Dörfer aus der Asche wieder aufgebaut haben.“ Es folgen die Standbilder von sieben Menschen, die im Folgenden ihre Geschichten von Krieg, Zerstörung, Vertreibung und Verlusten erzählen und ihren Alltagsbeschäftigungen nachgehen. Die Standbilder sind keine talking heads, sie schauen stumm und geradeaus in die Kamera. Nur einer lässt sich vom Schrei eines Vogels ablenken, guckt kurz zur Seite und bedeutet dann, fast ohne das Gesicht zu verziehen, dass es jetzt gut sein möge mit dem in die Kamera Schauen. Dann gehen die Regisseurin des Films, Tatina Huezo Sánchez, und ihr Team im letzten Schimmer des endenden Tages nach Cinquera, aus dem Off erzählt Alba, wie sie mit fünf Familien kurz nach Kriegsende im Jahr 1992 in ihre ländliche Kleinstadt zurückkam. Zwischen der üppigen Vegetation der Regenzeit fanden sie Mauerreste, Gebeine, Kleider, Stiefel und andere Reste der Zerstörung, die über zehn Jahre zuvor stattgefunden hatte. „Trauer und Freude, Freude und Trauer“, habe sie empfunden, sagt Alba. Das ist das Programm dieses über 100 Minuten langen Dokumentarfilmes der Autorin, die 1972 in Cinquera geboren wurde, mit vier Jahren, als der Krieg in ihrer Stadt gerade angefangen hatte, zusammen mit ihrer Mutter nach Mexiko auswanderte, wo sie später ihr Handwerk im Centro de Capacitación Cinematográfica lernte. Die Trauer um die Toten, die von der Armee ermordet wurden oder im Kampf fielen, und die Freude, wieder zu Hause zu sein und seinen und ihren Alltags- und Lieblingsbeschäftigungen in Ruhe und ohne Angst nachgehen zu können, sind die Leitmotive von El lugar más pequeño. Der Spannungsbogen, der dadurch entsteht, wird durch ein stilistisches Mittel verstärkt, das diesen Film wohltuend unterscheidet von den üblichen Dokumentarfilmen, bei denen besagte sprechende Köpfe in Direktinterviews gemischt werden mit Archivmaterial oder aktuellen Aufnahmen der entsprechenden Umgebung. Tatiana Huezo und ihr Kameramann haben eine andere Methode gewählt: Während die RückkehrerInnen ihre Gegenwart leben, erzählen ihre Stimmen ihre Vergangenheit. 

Der eine geht mit den aus dem Tal aufsteigenden Frühnebeln auf die Weide, um nach seinen Kühen zu sehen. Der trächtigen Kuh streichelt er liebevoll den vollen Bauch und entfernt die Zecken von ihren Zitzen. Später sieht man, wie das Kalb geboren wird, ein schöner Unterschied zu den in Heimatfilmen – El lugar más pequeño ist eben auch ein Heimatfilm – beliebten Szenen vom Schlachten einer Sau. Und er erzählt, wie er einmal verrückt geworden ist, als ihn die Geister des Krieges heimsuchten. Die andere sieht man frühmorgens durch die Straßen von Haus zu Haus gehen und nach brutfähigen Eiern fragen. Die bettet sie dann auf Zeitungspapier in eine Plastikkiste und setzt eine ihrer Hennen drauf, auf die sie solange einredet, bis sie sich in den Job fügt, fremde Eier auszubrüten. Später sieht man, wie die Küken ausschlüpfen. Sie hält ein Ei, in dem es schon rumort, an das Mikrofon – nur da merke ich, dass ich im Kino bin und nicht in Cinquera – und klopft mit dem Fingernagel daran, damit wir hören, wie das Küken aus der Schale will. Und sie fügt ihre Stimme zu der Aufzählung von Familienangehörigen, die im Krieg gefallen sind oder von den Soldaten ermordet wurden. Ein noch jüngerer Mann ölt sorgfältig sein Rad, mit dem er an den nahegelegenen Suchitlán-Stausee fährt, wo er, bis zur Brust im Wasser, mit einem Wurfnetz einen eher kümmerlichen Fang macht. Später führt er uns in die Höhle, in der sich Dutzende von EinwohnerInnen Cinqueras drei Jahre lang versteckt hielten, bis sie schließlich doch von der Armee entdeckt wurden, weil ein Baby schrie. In der Höhle wimmelt es von Fledermäusen. An anderen Stellen sieht man Blattschneiderameisen so geschäftig wie die Leute durchs Bild huschen, Pilze auf morschem Holz oder bei einem Wolkenbruch das Wasser von den Blättern tropfen oder die Straßen hinabschießen. Solche Bilder schließen harmonisch an das Gemälde an, auf dem eine Katze unter dem Bus liegt, Don Pablo seinem Enkel die Haare schneidet, seine Frau im Tante-Emma-Laden der beiden Milch verkauft, er wiederum auf das Maisfeld geht, in die kleine Kaffeeplantage, Zuckerrohr auspresst oder einen Kürbis aushöhlt und die Machtete schleift. Pablos Leidenschaft sind Bücher. Man sieht ihn in seinem „Arbeitszimmer“ schmökern und schreiben, in der Hängematte lesen und seelenruhig im Hof sitzen und wieder lesen, währen die Frauen die Tortillas machen. Mit den RückkehrerInnen ist der Alltag in das wieder aufgebaute Cinquera zurückgekehrt und eben auch die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung. 

Pablos Frau Alba erzählt von ihrer Tochter Gladys, die mit 14 in den Krieg zog und deren schrecklich zugerichtete Leiche der Mutter ein Jahr später ins Haus getragen wurde. Alba spricht mit Gladys, und in der Schlussszene, wenn es wieder dunkel wird in Cinquera, vergleicht sie sie mit den Glühwürmchen. Derweil fertigt Gladys' Schwester Kunsthandwerk an, bemalt die Wände ihres „Studios“ mit eher düsteren Bildern und säubert ein altes Gewehr für das Kriegsmuseum, das die Leute von Cinquera eingerichtet haben. Überhaupt fehlt es nicht an Gedenkstätten in dieser Kleinstadt und auch nicht an eindeutigen Zeichen ihrer politischen Sympathien. Auf dem Marktplatz steht der Schwanz eines abgeschossenen Hubschraubers, sind Teile von Gewehren an den Zaun geschweißt. Auf der Fassade eines Hauses steht die lange Liste der Gefallenen, Verschwundenen und Ermordeten, an der Ecke des Hauses eine Büste von Augustín Farabundo Martí, dessen historischer Kampf der linken Regierungspartei den Namen FMLN gegeben hat. Statt Kirchenglocken in dem als Mahnmal stehengelassenen zerschossenen Kirchturm gibt es vor der Kirche die Hüllen von zwei Fliegerbomben, die angeschlagen werden, wenn die Leute zusammengerufen werden. Und auf der Wand von Albas und Pablos Laden prangt das Emblem der FMLN. 

El lugar más pequeño habe ich inzwischen ein paar Mal angeschaut und bin dabei in Gedanken immer wieder zum Ort des Geschehens geschweift, denn Cinquera lernte ich 1988/89 kennen, als es noch eine Geisterstadt war, zerbombt, verlassen, zugewachsen, verwunschen wie in einem Dornröschenschlaf und düster zugleich – genau wie Alba es am Anfang des Filmes erzählt, als sie durch den dunkel gewordenen Wald in die Geisterstadt geht. Wir waren vormittags, ohne es zu merken, durch einen Hinterhalt der Armee gefahren, der kurz darauf von der Guerilla angegriffen wurden. Deshalb kamen jetzt, am späten Nachmittag aus der kupferfarbenen Sonne die Flugzeuge der Luftwaffe. Don Pablo, den ich ein paar Jahre zuvor in San Salvador kennengelernt hatte, wo er untergetaucht war, und seine Familie kehrten in diesen Tagen nach Cinquera zurück. In den letzten Jahren bin ich wieder in Cinquera gewesen, genauer gesagt im neuen Cinquera, in dem schönen Tagungshaus Bosque de Cinquera („Wald von Cinquera“) am Hang, von wo aus das Städtchen genauso aussieht wie in dem Film, wenn am Morgen die Leute aus ihren Häusern kommen; in dem neuen Kriegsmuseum, auf dem Platz mit der neu gebauten Kirche neben dem zerschossenen Kirchturm und den tönenden Bombenresten und bei Tonia, die nicht im Film vorkommt, deren Nichten im Krieg von der Armee entführt wurden und verschwanden. Eine wurde im äußersten Südosten El Salvadors wiedergefunden, die andere wurde damals von der Kulturattachée der französischen Botschaft und ihrem Mann, der mit Che Guevara gekämpft hatte, adoptiert und ist jetzt Sommelière in Frankreich. So wird in meinem Kopf aus dem „kleinsten Ort“, der ländlichen Idylle mit den langen, dunklen Schatten, eine kleine Welt. 

Auch beim Betrachten von Las Acacias kommen mir Erinnerungen. Rubén fährt seit vielen Jahren Akazienholz aus Paraguay nach Buenos Aires. In fast perfekter Einheit von Ort und Zeit spielt der ganze Film bei einer solchen Fahrt, vor allem in der Fahrerkabine des alten Scania-Lastwagens, nur dass er dieses Mal von der jungen Paraguayerin Jacinta und ihrer wenige Monate alten Tochter Anahí begleitet wird. Dieselbe Strecke bin ich auch gefahren, allerdings mit einem Bus und nicht in einem Holzlaster, aber die schnurgeraden Straßen durch das flache Land, die Rasthäuser und Tankstellen sind dieselben. Rubén ist ein schweigsamer Mann, wie man es wohl wird, wenn man tagein, tagaus mit dem Rumpeln des Truck, dem Knirschen der Gangschaltung, dem Quietschen der Bremsen und dem Autoradio alleine ist. Sein Alltag ist Routine, der Griff in die Hemdtasche nach den Zigaretten, neben sich nach der Matekalebasse und der Thermosflasche mit dem heißen Wasser oder der Wasserflasche, die Pausen und der Schlaf im hinteren Teil der Kabine. Wenn er anhält, um zu essen und sich in der Raststätte zu duschen und zu rasieren, raucht er, in der immer ähnlichen Einstellung, vorne links an die Stoßstange des Lasters gelehnt, in aller Ruhe eine Zigarette, bevor er wieder hinters Steuer klettert. Bei der Fahrt aber, von der der Film erzählt, gibt es zwei Momente, die von der Routine abweichen. Einen kleinen, bei dem Rubén unterwegs bei seiner Schwester vorbeifährt, um ihr einen DVD-Player zu schenken, und noch einen kleinen, der sich in den 85 Minuten zu einem großen auswächst, zu der Liebesgeschichte von Rubén und Jacinta, die Regisseur Pablo Giorgelli in aller Ruhe trotz des ohrenbetäubenden Lärms des alten Lasters erzählt. Las Acacias ist Giorgellis erster Spielfilm und er hat dafür 2011 die Goldene Kamera in Cannes gewonnen. Da hatte die Jury eine feine Nase für das dramatisch Unspektakuläre. Als Jacinta, schwer bepackt mit zwei dicken Reisetaschen, zwei Handtaschen und der in eine Decke eingehüllten Anahí, zusteigt, weil Rubéns Chef ihr das zugesagt hat, reagiert der Eigenbrötler abweisend, hilft mit Müh und Not der jungen Paraguayerin beim Einsteigen. In langen Abständen, zwischen denen er ab und zu nach dem Kind schaut, seinen Ärger runterschluckt, als Anahí zu schreien anfängt, weil sie Hunger hat und schließlich anhält, weil Jacinta die Milch warm machen muss – erfreulich, dass an dieser Stelle nicht die folkloristische Szene von der stillenden Indianerfrau kommt –, fallen wenige Worte. So erfährt man, dass sie Jacinta heißt, das Baby, das keinen Vater hat, Anahí und er Rubén, der einen Sohn hat, den er vor sieben Jahren zum letzten Mal gesehen hat, dass sie nach Buenos Aires zu einer Cousine will und hofft, in der großen Stadt Arbeit zu finden. So lang wie die Strecke ist und so langsam wie der schwerbeladene Laster fährt, so langsam ist die Annäherung zwischen der jungen Bäuerin und ihrem Töchterchen und dem mürrischen Trucker – Giorgelli tupft eine Skizze auf die Leinwand, von der man immer mehr ahnt, dass sie ein Gemälde werden kann. Es sind kleine Gesten, wie die Szene, als Rubén die Kleine in die Arme nimmt, während Jacinta aussteigt, um mit ihrer Cousine zu telefonieren. Und dann sind wir in Buenos Aires, wo Rubén mit Jacinta und Anahí vor dem Haus der Cousine hält. Die beiden steigen aus und es beginnt eine fröhliche Begrüßungsszene, der Rubén, mal wieder rauchend an seinen Lastwagen gelehnt, halb neidisch, halb anerkennend zuschaut. In der Schlussszene kommt Jacinta noch einmal aus dem Haus, um sich zu verabschieden. Er aber will es gar nicht wahrhaben, druckst herum und macht ihr schließlich die schönste Liebeserklärung, die ich seit langem gehört habe und die hier nicht verraten werden soll. So ruhig, wie er angefangen hat, endet auch der Film. Da ist keine Hektik, keine Truckeratmosphäre, aber die Zuversicht, dass der alte Scania noch lange durch die Pampa Argentiniens fahren wird. Die Ruhe des Inhalts wird unterstrichen von der Ruhe der Kameraführung: kein Rumgezoome, keine abrupten Schwenks, überwiegend amerikanisches Format, keine extremen Nahaufnahmen. 

Ganz anders geht es in El Lenguaje de los Machetes zu und deshalb hat mir dieser mexikanische Film von Kyzza Terraza wohl so viel weniger gefallen. Zwar spiegelt der Existentialismus der Protagonisten Ray und Ramona das Lebensgefühl einer Generation wider, die zwischen Aufständen wie 2006 in Atenco und verzweifelten Terrorplänen und -versuchen hin und her schwankt und derweil Kunst macht: er als Schriftsteller, sie als Sängerin einer Frauen-Punk-Band, wenn sie nicht gerade als Lila-Downs-Verschnitt klampft und sich dazu anzieht wie ein Frida-Kahlo-Verschnitt. Doch weder Inhalt noch Form dieses Films haben mich begeistert. In der Kneipe am Meer, wohin die beiden gutsituierten jungen Leute einfach mal hinfahren, schwingt Ray revolutionäre Reden, bis ihn die DorfbewohnerInnen, die offenbar mit der Guerilla in den Bergen von Guerrero zusammenarbeiten, einladen, mit ihnen in den Busch zu kommen. Das machen sie natürlich nicht, frustriert sie aber offensichtlich so, dass sie beschließen, ein Fanal zu setzen. Sie wollen sich in der Basilika der Virgen de Guadalupe, dem größten Wallfahrtsort Lateinamerikas, an dem Tag für Tag Tausende von PilgerInnen am Gnadenbild der Madonna vorbeidefilieren, in die Luft jagen. Während wir ZuschauerInnen erleichtert sind, dass die Zündungen nicht funktionieren, versinken Ray und Ramona in ihrem Elend, wo sie vermutlich wieder laut und brutal kopulieren – was heutzutage wohl ebenso wenig fehlen darf wie die forensischen Szenen in einem biederen Tatort. Was für ein Kontrast zu der angedeuteten Liebeserklärung, die Rubén Jacinta macht. Die Kamera fährt dabei vorzugsweise so nahe ran, dass die Gesichtsausschnitte von Ramona und Ray eher Mondlandschaften gleichen, als dass man Menschen mit Mimik, geschweige denn Gestik dahinter vermuten könnte. Und dass Filme bewegte Bilder sind und nicht wie bei den Szenen am Strand eine mit herumzappelnder Handkamera aufgenommene wackelnde Horizontlinie, scheint man diesen Filmemachern nicht beigebracht zu haben. Amores Perros von Alejandro González Iñárritu hat gezeigt, dass man Liebe, Hass, Träume und Tod im Moloch von Mexiko-Stadt auch anders darstellen kann.